Der Zug

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mandra

Mitglied


Der Zug
aus dem Lautsprecher ertönt:
"Bitte einsteigen!
Vorsicht an der Bahnsteigkante!"
Langsam rollt der Zug an.
Signale geben freie Fahrt
und im rasenden Tempo
geht’s vorwärts!
" Dem Ziel entgegen:
Leben“!
Vor deinen Augen
wechseln die Bilder,
vorbei an triste Fassaden,
hellerleuchtete Fenster,
Felder.
Noch eh du sie wahrnehmen kannst
ändert sich:
„Das Gesicht“.
Langsam verringert sich die Geschwindigkeit,
"die Bilder werden, klarer:
Das Ziel erreicht!"
Sichtweite.​
 
Also, hier haben wir wieder einen Birnentext vor uns!

Was will uns dieser edukative Text mitteilen?

Unabhängig vom Inhalt erzählt hier der Autor, wie wir mit der deutschen Rechtschreibung auf gar keinen Fall umgehen dürfen und führt das auch gleich exemplarisch vor, indem er dem Leser kaum eine Sentence unverstümmelt präsentiert.

Dabei entwickelt der Text fahrplan-ungemäße Stockungen und Haltungen, und erzeugt so vor dem geistigen Auge des Lesers die gelungene Metaphorie des vorreformatorischen Bahnbetriebs. Eine gelungene bildhafte Verbalnostalgie!

Die scheinbaren Fehler sind mit Absicht nicht ganz so dicht gesetzt, wie der geübte Leser erwarten mag, und das Lesevergnügen bleibt daher von alledem geschickt unberührt.
Dieses Kunststück könnte einerseits an der ganz simplen Entfernung zwischen dem TeutoburgerWald und PISA liegen, es läßt sich aber auch als Absprache zwischen dem Autor und der Deutschen Bahn AG interpretieren.

Denn dieser Text beinhaltet zwischen den Zeilen eine gelungene Glorifizierung dieser jedem Kind bekannten, traditionellen Schwertransporte-Firma, indem er ganz plakativ und stichwortartig alle diejenigen Vorzüge, Abläufe und Feinheiten erwähnt, auf welche der moderne Kunde eigentlich Wert zu legen gewohnt ist.
Die äußere Textform schildert einen Schubverband, bestehend aus zwei Waggons, jeweils mit Perron, zu Beginn und einer Lokomotive am Ende, dort, wo mit "Langsam verringert sich die Geschwindigkeit" die aktive Antriebsachse signifiziert wird.

Solche Autoren und Texte würde man Herrn Mehlwurm wünschen wollen!

Dabei werden dem im Alltag Neologismen-gequälten Leser eher langweilende Begriffe wie etwa Effizienz, Quality Management, Customer Care, oder Evaluierung im vorliegenden Text völlig erspart.

Ein zukunftsweisender Text, der zudem die diesem Land so notwendige Aufbruchstimmung anzudienen versucht, wenn es zB am Ende heißt: "Ziel erreicht", und dessen gekonnte Fehlerhaftigkeit zusammen mit der Möglichkeit diese Fehler leicht zu erkennen und zu beseitigen dem Leser genügend sicheren Raum läßt weitere Verbesserungen auch bei der Deutschen Bahn AG abzusehen.

Man vergleiche einmal den folgenden, farblosen, und nur orthographisch-ankorrigierten Text mit der künstlerischen Gestaltung im Original!


Der Zug

Aus dem Lautsprecher ertönt:
"Bitte einsteigen!
Vorsicht an der Bahnsteigkante!"

/\
|
Langsam rollt der Zug an.
Signale geben freie Fahrt,
und in rasendem Tempo
gehts vorwärts,
dem Ziel entgegen:
Leben!
[kupplung]
Vor Deinen Augen
wechseln die Bilder,
vorbei an tristen Fassaden,
hell erleuchteten Fenstern
und Feldern,
Und ehe Du sie wahrnehmen kannst,
ändert sich:
Das Gesicht!
[kupplung]
Langsam verringert sich die Geschwindigkeit,
die Bilder werden klarer.
Das Ziel ist erreicht:
Sichtweite!
/\
|
[fahrtrichtung]
 

mandra

Mitglied
hallo waldemar hammel,
danke,
die kritik nehme ich an. man lernt im leben nie aus! :)
interessanter vergleich:kupplung und fahrrichtung.
schade,"die bahn zahlt nichts dafür." ;)

wünsche dir ein sehr schönes wochenende!
gruß mandra
 



 
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