Der absolute Genuss

Raniero

Textablader
Der absolute Genuss

Als Cornelius Birkenkamp, der große Liebhaber klassischer Instrumentalmusik, am frühen Morgen das kleine Schallplattengeschäft betrat, wurde er sofort vom Erich Bertoldi, dem Inhaber persönlich in Empfang genommen, ja geradezu stürmisch begrüßt.
„Das müssen Sie einmal ausprobieren, Herr Birkenkamp“, beschwor dieser den verdutzten Kunden und führte ihn gleich wieder hinaus aus dem Ladenlokal, allerdings zur rückwärtigen Tür, die in einen Hinterhof des Gebäudes mündete.
Birkenkamp hatte diesen Hinterhof noch nie betreten, und er begann, sich zu fragen, warum man ihn hierhin geführt hatte, statt ihn wie üblich bei der Auswahl an Tonträgern zu beraten, als er im Hof ein großes Riesenrad bemerkte.
Es handelte sich hierbei um ein Rad, wie man es vom Jahrmärkten her kennt, mit einer Ausnahme; während bei den klassischen Geräten dieser Art
eine gewisse Anzahl an Gondeln herabhängen, die, Platz für mehrere sitzende Personen bietend, sich im gleichmäßigen Abstand sowie in gleicher Weise aufwärts und wieder abwärts bewegen, waren diese Gondeln so angeordnet respektive montiert, dass die Personen darin, angeschnallt an ihren Sitzen, kopfüber nach unten hingen.
Birkenkamp wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte; über das Riesenrad, das sich da äußerst langsam drehte, im Hinterhof, über dessen merkwürdige Beschaffenheit oder über die Tatsache, dass alle Gondeln des Rades vollbesetzt waren mit Personen, die mit ihren Gesichtern nach unten hingen und allesamt Kopfhörer trugen.
„Da staunen Sie aber, mein Lieber“, ließ sich der Herr der Schallplatten in freundlichem Tonfall vernehmen, „so etwas haben Sie bestimmt noch nicht gesehen“.
Das hatte Cornelius Birkenkamp in der Tat nicht, und vorsichtig trat er ein paar Schritte zurück; teils um das gesamte Rad besser in Augenschein nehmen zu können, teils aus dem Bedürfnis heraus, der rettenden Tür zum Laden näher zu sein, falls sich noch mehr Hinweise auf weitere Abnormitäten fänden, denn normal fand Cornelius die ganze Angelegenheit nicht gerade.
Dem Ladeninhaber war Birkenkamps Befremden natürlich nicht entgangen, und er beeilte sich, den merkwürdigen Sachverhalt aufzuklären.
„Sie sind doch sicher unter anderem auch ein großer Freund der Musik von Johann Sebastian Bach, nicht wahr?“
Cornelius sah zwar keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dieser Frage und der ungewöhnlichen Jahrmarktattraktion hinter dem Ladenlokal, bejahte aber mit einem Kopfnicken und ließ weder das große Rad noch den Ladenbesitzer aus den Augen.
„Ich habe gerade eine neue Edition von Bachs Violinenkonzert in a Moll hereinbekommen, mit einer wunderschönen Werkbeschreibung, und da heißt es an einer bestimmten Stelle, ich zitiere wörtlich aus dem Gedächtnis:
‚Die Schönheit des Andante aus dem Violinkonzert ist so groß, dass man ernstlich nicht mehr weiß, wie man sich hinsetzen und verhalten soll, um des Anhörens würdig zu sein‘.
Und wissen Sie, wer das gesagt hat, Herr Birkenkamp?“
Cornelius wusste es nicht, auf Anhieb, aber der Ladenbesitzer erwartete auch keine Antwort.

„Kein Geringerer als Claude Debussey tat seinerzeit diesen gewaltigen Ausspruch, und ich muss Ihnen sagen, ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich diese Passage las; ich musste sie gleich dreimal hintereinander lesen, um dann spontan zu handeln“.
„Zu handeln? Was meinen Sie mit handeln, Herr Bertoldi? Was haben sie denn getan?“
„Nun ja, dieser Ausspruch hat mich dazu verleitet, vollkommen neue Wege einzuschlagen, bei dem Versuch, diese phantastische Musik zu genießen, und das, was Sie hier draußen sehen, ist ein absolut neuer Weg, ach was, es ist eine Revolution auf dem Gebiet des Hörgenusses. Sehen Sie all diese glücksstrahlenden Gesichter dort in den Gondeln, sie sitzen, liegen oder stehen nicht, auch gehen sie nicht umher, was ihnen dort allerdings auch schwer fallen würde; nein, sie nehmen die absolut richtige Körperhaltung ein, um dieses Violinenkonzert optimal genießen zu können. Diese Menschen wissen im Gegensatz zu Debussey, um es noch einmal mit dessen Worten zu sagen, wie sie sich verhalten sollen. Oh, wenn er das noch erlebt hätte!“
„Wer, Debussey?“
„Natürlich“, runzelte Bertoldi die Stirn, „von ihm spreche ich. Ach, Sie meinen, Bach selbst? Der große Meister persönlich? Natürlich, er auch. Beide, beide hätten das mit eigenen Augen sehen respektive mit eigenen Ohren so erleben müssen.“
„Und Sie meinen, das funktioniert tatsächlich?“
„Was funktioniert tatsächlich?“
„Na, ich meine, diese Leute da“, wies Cornelius auf die glückseligen Personen in den Gondeln, „diese Leute erleben gerade den absoluten Hörgenuss?“
„Aber natürlich, mein Lieber. Ich habe es doch selbst getestet, auf meinem Riesenrad, als erster Mensch auf Erden, es ist ja auch meine Erfindung. Glauben Sie mir, es ist ein vollkommen anderes Gefühl, die Musik auf diese Weise zu genießen, statt sie in traditioneller Form wie im Konzert oder gar von der Schallplatte zu Gehör zu bekommen. Das ist überhaupt kein Vergleich mehr. Na, wie sieht’s aus, wollen Sie es einmal ausprobieren?“
Cornelius Birkenkamp wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, die Musik von Johann Sebastian Bach auf eine derartig ungewöhnliche Weise zu genießen, doch schließlich willigte er ein.
Bertoldi, der Inhaber des Schallplattengeschäftes schlüpfte in die Rolle eines Schaustellers und brachte mit Hilfe einer kleinen elektronischen Fernbedienung das Riesenrad zum Stehen.
Sodann forderte er einen in der untersten Gondel sitzenden bez. hängenden älteren Herrn auf – was dieser Hörgast nur unter Protest tat – den Kopfhörer zurückzugeben und auszusteigen, um einem neuen Hörwilligen seinen Platz zu überlassen.
Anschließend wünschte er seinem Stammkunden einen absoluten und ungetrübten Hörgenuss und ließ das Rad wieder an.
Als er die Gondel nach zehn Minuten wieder anhielt und Birkenkamp fragte, wie ihm die Fahrt gefallen habe, bat dieser, den Tränen nah, in der Gondel verbleiben zu dürfen; ein solches Musikerlebnis habe er noch genießen können, und er würde es gern fortsetzen.
„Sehen Sie, mein Lieber, da ging ich doch nicht fehl in der Annahme, dass Sie es zu schätzen wissen“.

Cornelius Birkenkamp verblieb den ganzen Tag auf dem Rad, und alle anderen in den Gondeln taten es ihm gleich.
Zum Ladenschluss jedoch wurde das Vergnügungsgerät endgültig angehalten, und mit den Worten ‚rien ne va plus‘ forderte Erich Bertoldi alle Kunden auf, das Riesenrad zu verlassen.“
„Seien Sie nicht traurig, meine Herrschaften, morgen ist auch noch ein Tag“.
Sie waren eigentlich auch nicht allzu traurig, sondern machten eher einen entrückten und verklärten Eindruck, berauscht von dem unglaublichen Hörgenuss, und viele von ihnen machten sich leicht tänzelnd oder im Wiegeschritt der über Stunden gehörten Musik auf den Heimweg.
„Na, zufrieden, Herr Birkenkamp“, wollte Bertoldi von seinem Neuankömmling wissen.
„Mehr als das, Herr Bertoldi, mehr als das. Es war ein noch nie erlebtes Gefühl, so direkt, so in völliger Harmonie mit den Elementen der Musik, kaum zu beschreiben. Ich konnte sie praktisch mit den Händen fühlen, die Musik“.
„Das glaube ich Ihnen gerne. Wissen Sie, viele meiner Kunden haben sich des öfteren, nachdem sie das Rad verlassen hatten, zuhause daran gemacht, selbst zu komponieren, obwohl manche von ihnen noch nicht einmal Noten lesen konnten. Ist das nicht erstaunlich?“
„Das ist ja phantastisch, Herr Bertoldi, das ist ja phänomenal, und doch sagt mir mein Gefühl, bitte verstehen Sie mich nicht falsch...“
„Wie bitte, mein lieber Freund, was sagt Ihnen Ihr Gefühl?“ runzelte der Schallplattenhändler die Augenbrauen, „wollen Sie damit sagen, dass sie noch nicht zufrieden sind?“
„Nein, nein“, wehrte Cornelius erschrocken ab, „um Gottes Willen, ich bin mehr als zufrieden, ich bin sogar sehr glücklich, nur, verzeihen Sie bitte, trotz der Unvergleichlichkeit des raumumspannenden Hörgenusses auf dem Rieserad habe ich das Gefühl, dass noch eine minimale aber entscheidende Steigerung möglich wäre. Ich vermag nicht zu beschreiben, worin diese Verbesserung bestände, was es sein könnte, ein kleiner Tick vielleicht für den absoluten Kick, um es einmal salopp zu formulieren, doch ich glaube, dann wäre das non plus ultra erreicht, ein geradezu paradiesisches Musikerlebnis“.
Wenn Cornelius befürchtet hatte, dass der geniale Riesenradmusiker wegen dieser kritischen Äußerung einen Wutanfall erleiden könnte, so wurde er schnell eines Besseren belehrt.
„Im Grunde haben Sie ja Recht, Herr Birkenkamp, ich habe mich das ebenfalls schon gefragt, und Sie werden vielleicht überrascht sein“, huschte ein Lächeln über die Gesichtszüge Bertoldis, „mir schwebt da auch etwas vor Augen, ich arbeite bereits daran“.
„Sie sehen noch weitere Möglichkeiten, diese unglaublich schönen Hörgenüsse zu steigern, und Sie arbeiten sogar schon daran?“ entfuhr es Cornelius, „das ist ja nicht zu glauben, das hätte ich ja im Traum nicht mehr zu hoffen gewagt“.
„Ja, mein Lieber“, nahm Bertoldi seinen Stammkunden väterlich in den Arm, „warten Sie mal noch gut vier Wochen und sprechen Sie mich dann wieder darauf an, dann werden wie weitersehen. In der Zwischenzeit können Sie natürlich, so oft Sie wollen, das Rad nutzen, während der allgemeinen Geschäftszeiten, versteht sich“.
Diese Aufforderung ließ Cornelius nicht zweimal geben, und gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten verbrachte er die nächsten vier Wochen mehr auf dem Riesenrad in dem Hinterhof als zu Hause oder an seinem Arbeitsplatz.

In diesem Zeitraum machte sich zu seiner großen Verwunderung der Herr der Schallplatten rar, und keiner der Stammkunden konnte sich einen Reim darauf machen, während seine Angestellten, darauf angesprochen, keine Auskunft geben konnten oder wollten.
„Aha, er tüftelt“, dachte Cornelius und ließ in seiner Gondel die Musik wie Blut durch die Adern gleiten – eine Maßnahme, die durch die hängende Körperhaltung ausreichend unterstützt wurde – „das ist gut so“.

Nach gut vier Wochen jedoch traf Cornelius ihn im Ladenlokal an und brachte die Sprache auf ihre letzte Unterredung.
„Ach, ja, Herr Birkenkamp, gut dass Sie mich daran erinnern, ich wollte Sie gerade selbst darauf ansprechen. Hier habe ich etwas für Sie“.
Mit diesen Worten überreichte er Cornelius eine kleine Karte, eine Einladung für den nächsten Tag, zu einem besonders interessanten Ereignis, wie er betonte.
„Seien Sie aber bitte pünktlich, Sie sind nicht der einzige Gast. Wir freuen uns auf Ihren Besuch“.
Gleichzeitig ließ er von seinen Mitarbeitern weitere Einladungen an die Fahr- und Hörgäste auf dem Rad verteilen.

Cornelius musste zu Hause im Stadtplan suchen, um die angegebene Adresse zu finden; in einem Vorort, ziemlich weit außerhalb des Stadtzentrums.
Als er sich am nächsten Morgen mit dem Fahrrad auf den Weg machte und nach einer Stunde in diesem Vorort, in dem er zuvor noch nie gewesen war, eintraf, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen;
Von weitem sah er bereits eine ganze Gruppe von Riesenrädern verschiedener Größe und Ausstattung.
Sodann gelangte er auf einen großen Platz, der offenkundig das Zentrum bildete.
Mitten auf diesem Platz befand sich ein dermaßen großes Riesenrad, dass es durchaus dem des Wiener Praters Konkurrenz gemacht hätte, und ringsherum waren zahlreiche kleinere Räder gruppiert, in deren Gondeln, mit den Köpfen nach unten wie zuvor in Bertoldis Hinterhof, das gesamte städtische Symphonieorchester untergebracht war.
So hingen aus den Gondeln eines Rades die Streicher, aus einem anderen die Holz- sowie aus einem weiteren die Blechbläser mitsamt ihren Instrumenten und auf diese Weise setzte es sich fort, das ganze Orchester bis hin zu dem Rad mit den Pauken, und alle Musiker warteten geduldig in dieser Lage auf ihren Einsatz.
Der aber wurde aus einer einzigen frei umherschwebenden Gondel, in welcher der Dirigent sein Haupt nach unten neigte, über Kopfhörer an das gesamte Orchester gegeben.
Vor dem größten Rad in der Mitte des Platzes befand sich ein Kassenhäuschen, wie auf einem Jahrmarkt, und vor diesem Häuschen hatte sich bereits eine lange Menschenschlange gebildet.
Neben der Kasse aber stand Erich Bertoldi, der Inhaber des kleinen Schallplattengeschäftes, und verteilte Paradiesäpfel, um alle Freunde klassischer Instrumentalmusik auf einen absolut paradiesischen Hörgenuss einzustimmen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
soso,

in den paradiesäpfeln sitzt die pointe. und ich dachte an lange nadeln, die im rhythmus auf die hörer einpieksen . . .
lg
 

Raniero

Textablader
na, ja,
flammarion, in punkto bizarrem Humor liegen wir noch meilenweit auseinander.
Eigentlich ist die gesamte Story eine Pointe.
Dafür treffen wir uns beim nächsten Schenkelklopfer mit 'richtiger' Pointe wieder. :)

Gruß Raniero
 



 
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