Der alte Mann und das Leben

David

Mitglied
(Er wußte, dass seine Zeit nun gekommen war, doch bevor er gehen sollte, hatte er noch eine letzte Frage an sein Leben.)

Der alte Mann und das Leben:

Er wußte, dass seine Zeit nun gekommen war.
Alle Freunde und Verwandten, die ihm wichtig waren, hatten ihn heute ein letztes Mal an seinem Bett besucht und hielten ängstlich und traurig, zitternd seine kalte Hand. Sie bemühten sich ihm nicht das Gefühl der Einsamkeit zu geben und doch wussten sie, dass dieser Besuch dem Abschied diente.
Bald wurde die Ungeduld des Lebendigen in ihnen größer, als ihre sich im Kreis drehenden Gedanken der Zuneigung zu ihm und so gingen sie mit gesenktem Kopf aus dem Zimmer und schlichen sich still vor dem Unveränderlichen davon. Nur seine geliebte Frau blieb und kniete weiterhin in unermüdlicher Geduld, müde und ausgelaugt vom Weinen, an seinem Bett. Vorsichtig lauschte sie seinem Herzschlag und suchte die Wärme seines Körpers in ihrem Gesicht. Dann stand sie auf und verließ benommen das Zimmer.
Beängstigende Ruhe trat ein.
Er war allein.
Der bleiche Mond schien sanft durch das Fenster auf sein Bett und erhellte den unteren Teil der dunklen Bettdecke und dahinter grinste ihn die Fratze des trüben Schattens eines Kleiderschrankes an, tief eingehüllt im Mantel der schweren Nacht. Schon lange verlieh das Wasser in seinen Lungen jedem seiner Atemzüge ein leises Blubbern, welches dem Rhythmus seiner Gedanken monoton folgte.
Wärme durchströmte seinen Körper und ein tiefes Gefühl von Geborgenheit in der großen Einheit strömte langsam durch seinen Geist und es begann, dass sich Freude über seine Angst legte. Er blickte auf seine Vergangenheit und als sich sein schmerzerfülltes Gesicht entspannte, begann er wieder zu Lächeln.

Und da sprach der alte Mann zu seinem Leben:
"Liebes Leben, ich möchte mich für die Zeit mit Dir bedanken.
Du warst mir ein ausgefülltes Leben.
Ich sah voller Verwunderung die Größe und Vielfalt Deiner vollen Gestalt.
Und so bin ich glücklich, weil ich Dich in Deiner vollen Gestalt erleben durfte
und ausgefüllt, weil Du mir ein ausgefülltes Leben warst.
Du hast Dich mir gegeben, damit ich ohne Leere sterben kann.
Ich bin bereit zu sterben, denn meine Seele ist randvoll des Lebens, das Du mir gabst.
Da ich nicht noch Mehr mitnehmen kann, als ich bereits von Dir bekommen habe, ist nun auch die Zeit gekommen, mich mit Deinen Geschenken auf den Weg zu machen.
Und so will ich dankbar Deine nützlichen Gaben mit mir nehmen, auf das ich gewappnet sei für das Leben, das da kommen wird und möchte mich von Dir verabschieden.

Doch bevor ich Dich verlasse, bitte ich Dich noch, mir eine letzte Frage zu beantworten, damit ich mein Glück verstehen kann, denn wenn ich auf unsere Zeit zurückblicke, so gab es doch auch genügend Gründe für mich, dieses Leben verbittert und unglücklich zu verlassen.
Nicht immer war die Zeit mit Dir schön.
Du gabst mir Zeiten des Unglücks und der Trauer, des Schmerzes und der Einsamkeit.
Und dennoch schaue ich voller Glück auf meine ausgefüllte Seele, über deren Rand das lebendige Leben geradezu herausschwappt.
Mein liebes Leben,
wie konntest Du mich nur so verzaubern,
dass ich mich jetzt glücklich und frohen Mutes auf den Weg machen kann und nur meine Liebe zu Dir, mich unsere Trennung schmerzen lässt?"

Da sprach das Leben zu dem alten Mann:
"Nur selten habe ich Dir etwas gegeben, mein alter Freund.
Ich bot Dir nur ein wenig Zeit, die Vielfalt zu erkennen, solange Du bei mir verweiltest.
Doch ich überließ Dir die Wahl, zu sehen und zu nehmen, was Dir für Deine nächste Reise wichtig erschien, auf das Du in Deinem Sinne ausreichend gewappnet seiest, für das Leben, das da kommen soll.
So zeigte ich Dir nicht nur das Glück, sondern auch das Unglück,
die Freude, wie auch den Schmerz
und den Mut, wie auch die Angst,
damit Du durch das Eine das Andere erkennen würdest,
damit Du Dich von dem Gedanken befreien würdest, der nichts als nur das Eine kannte,
damit Du aus der Vielfalt Deine Schöpfungskraft entwickeln würdest,
um mehr zu werden, als Du bist.
um gewappnet zu sein für das Leben danach, das für Dich da kommen sollte.

Doch zu viele arme Seelen, wenden ihre Blicke zu oft ab und haben nur den Blick für das Eine.
Und so finden sie keinen Mut, weil sie die Angst ignorieren
und finden nicht die Freude, weil sie den Schmerz ignorieren.
Und weil sie nichts sehen, wissen sie auch nicht, womit sie ihre Seele füllen sollen.
Und so verlassen sie mich wieder mit den gleichen leeren Seelen, mit denen sie gekommen sind.

Ich zeige Euch die Tiefen, damit Ihr auch die Höhen erkennen könnt, um Euch an ihnen zu erfreuen. Es liegt an Eurer Aufmerksamkeit, ob Ihr die Höhen und Tiefen von einander unterscheiden könnt.
So wird der Aufmerksame, zwischen der scheinbaren Monotonien des Gleichen, immerhin einige der Höhen und Tiefen zählen können und hat ein Leben, auf das er blicken kann.
Doch vor allem dem Leidenschaftlichen bleiben keine Höhen und Tiefen verschlossen und so ist seine Seele am schnellsten vom Leben erfüllt, dass da deutlich und intensiv ist.

Mein alter Freund,
es war Deine Liebe zu mir, die Dich sehen ließ
und das macht Dich so glücklich."


Und das Zimmer erhellte sich.
Frei und unbeschwert schwebten seine Blicke durch den Raum und fanden das vertraute Gesicht seiner Liebe, die nun, zum Abschied bereit, wieder an seinem Körper verweilte, seine Gedanken spürte und ihn voller trauriger Zuneigung mit ihren großen Augen aufmerksam beobachtete.


"Meine Liebe Frau", sagte der alte Mann,
"Du kannst das Glück nicht festhalten.
Es ist ein Reisender genau so wie das Unglück, das Dich besucht und wieder verlässt.

Und so, wie es den Tag nur gibt, weil es die Nacht gibt,
gibt es die Freude nur, weil es den Schmerz gibt.

Und so wie die Mitte der Nacht, der Anfang des Tages ist,
folgt dem tiefsten Schmerz die wachsende Freude.

Und so, wie Du zwar weißt, dass Dir manch Schmerz erspart bleibt, wenn Du das Risiko scheust,
solltest Du auch wissen, dass Dir das Glück nicht in den Schoß fallen wird,
denn Du kannst nicht das Laufen erlernen, wenn Du Angst vor dem Stürzen hast.

Also treffe Deine Entscheidungen nie als Sklave Deiner Angst,
sondern als Gefährte Deines Verstandes,
denn wenn Du als Sklave der Angst vor dem Schmerz flüchtest, entgeht Dir das Glück.

Also wage zu suchen und Du wirst finden.
Findest Du Dein Glück,
so pflege es, damit es wächst.
Findest Du das vermeintliche Unglück,
verändere es, damit es den Raum nicht ausfüllt.
Findest Du das unvermeintliche Unglück,
ertrage es und suche das Glück.

Und wenn Dir die Kraft zum Suchen fehlt,
so gehe wenigsten vor Deine Tür,
damit das Glück Dich finden kann,
denn so wie die Sonne, die Du suchst, Dir entgegen kommt,
ist das Glück, das Du suchst, auch auf der Suche nach Dir.
Also gehe ins Freie, damit Du ihr Tageslicht empfangen kannst.

Halte nicht an Vergangenem fest,
sondern nehme es hin, als ein Teil Deiner selbst.
Und schenke Deine Aufmerksamkeit dem Jetzt,
denn die Kristallkugel Deiner Zukunft,
findest Du in den kleinen Dingen Deiner Gegenwart.
Irgendwo da Draußen liegt ein Geschenk für Dich,
siehe genau hin und wage es anzunehmen."


Und während ihn ein Licht der Geborgenheit einhüllte und ihm seine Großmutter die Hand reichte, schenkte ihm seine Frau das Tor zu ihrem Herzen und ihr Lächeln verschwand im Fluss der Farben.
 



 
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