Der alte Martin

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Ich habe den alten Martin eigentlich nie richtig kennen gelernt. Gerade einmal, dass ich seinen Namen wusste. Still blickte er täglich aus dem Wohnzimmerfenster seiner 2-Zimmer-Wohnung, Hochparterre, rechts. Mit seinen 87 Jahren brauchte er nicht einmal eine Brille. Oder setzte er sie aus falscher Eitelkeit einfach nicht auf? Ab und zu findet man bei manchem Zeitgenossen diese falsche Eitelkeit, und dabei kann eine Brille so ein schönes Kleidungsstück sein, wenn man die richtige Wahl trifft.

Mit seinem scheinbar weisen und allwissenden Blick begleitete mich der alte Martin schon als Kind auf all meinen Wegen. Sahen wir uns in der Stadt, dann grüßte er uns Kinder alle bei unseren Vornamen. Später, als er nicht mehr ganz so oft das Haus verließ, sondern solche Wege nur selten nutzte, und wenn, dann nur auf die dringendsten Besorgungen beschränkt, dann nickte er mir auch schon mal hinter der zurückgezogenen Gardine des geschlossenen Wohnzimmerfensters zu. An den Augen sah ich seine Falten, die mir als Kind Vertrauen schenkten, Vertrauen gegenüber Fremden, mit denen man ja nicht mitgehen durfte, und als erwachsener Mann erkannte ich in diesen menschlichen Jahresringen, wie ich sie gerne nenne, eine Form der Weisheit, der bäuerlichen Schläue, wie man sie Alten zuspricht, die so ihre Welterfahrungen gemacht haben; woher auch immer.

In seinem letzten Herbst sprach ich ihn oft an: „Na, Herr Martin, wann wird\'s Winter?\" „Bald\", antwortete er mir, „sehr bald\", griff mit seiner Linken an sein Kreuz und jammerte etwas, „es kracht schon im Gebälk\".
Wir schmunzelten uns an, und er war froh, dass ihn jemand ansprach und wieder mal um einen Rat gebeten hatte.

Er hatte es gespürt. Sein Blick wurde trüber, die Hände mussten gemeinsam das Glas zu Mund führen und manchmal, das wusste ich von Frau Markmann, die zwei mal die Woche bei ihm sauber machte und sowas wie unserer Hauspolizei war, manchmal schaffte er es nicht einmal mehr bis zum Klo. Dann war er traurig, dass er auf Fremde angewiesen war, die ihm hier helfen mussten, weil er es nicht mehr alleine schaffte, aber er nahm es hin, so, wie er in seinem langen Leben vieles schon hingenommen hatte.
Doch seine Sorgen sah man ihm nicht an, wenn er da am Fenster saß und gut gelaunt, scheinbar gut gelaunt auf die Straße sah. Seine Straße, die er ein ganzes Leben lang bewohnte, auf der er einst sein Gretchen kennen lernte, die tatsächlich Margarete hieß und ein etwas kürzeres Bein hatte, diese Straße, die unter den verschiedenen Regierungen und Staatsformen auch verschiedene Namen trug, je nachdem, welche tote oder lebende Persönlichkeit gerade als Held verehrt werden sollte, diese Straße, auf der er als junger Mann die Arbeiterfahne schwenkte und dafür ins Gefängnis musste, und auf der er sich beinahe das Genick brach, als er trunken vor Freude über das Ende des Krieges mit dem Rad hinab fuhr und sich in einem Bombentrichter überschlug. Erst kamen hier die Amerikaner und schenkten ihm Brot und manchmal auch Zigaretten. Obwohl er nicht rauchte nahm er sie gern, denn als Tauschobjekt waren sie allemal geeignet. Dann kamen die Russen und nahmen ihm das Rauchwerk wieder weg und vernichteten sie in eigener Zuständigkeit.
Nach der Arbeit hat er mit den anderen Freiwilligen die Straße wieder hergerichtet, hat Löcher gestopft und Steine verpflastert, hat die Häuser wieder aufgebaut, den Kriegswitwen die Kohlen geschleppt, wenn es denn auch mal was zu Schleppen gab und war immer da, wenn es hieß, da wird jemand gesucht. Und so ging es, bis er Rentner wurde, und selbst da war keine Ruhe in ihm, und er hatte in sich diesen Drang, weiter zu helfen und zu tun und zu machen. Manchmal gab er sein letztes Hemd, wie man so schön sagt, oder auch einen halben Mantel.

Später saß er nur noch am Fenster, sah den Leuten bei deren Geschäftigkeiten nach und grüßte Kohlenhändler Kaschimke, der mit seinem alten Fuhrwerk und den beiden Stuten vorbeiratterte. Er kannte Kaschimke noch aus der Zeit, als beide in den Fahrradverein „Viktoria 1923 e.V.\" beitraten und die Wochenenden von Wanderungen in die nahe Natur und von Männergesängen gekennzeichnet war. Mit seiner Arbeiterfaust winkte er dem alten Parteisekretär Wunderlich zu, als der vorbeilief und erinnerte sich daran, dass der viele Jahre im KZ gesessen hatte und keiner glaubte, dass er je wieder lebend diese Straße begehen würde. Ob es Wunderlich tatsächlich mitbekam, dass da noch jemand ein bisschen Interesse nach ihm hatte, weiß keiner.

Und dann schenkte er meinen Kindern, so, wie er es schon bei mir vor zwanzig Jahren machte, kleine Bonbons aus einer Tüte mit der Aufschrift „Firma Gernegroß und Söhne\".

Und jetzt ist er tot, der alte Martin, 87-jährig, Hochparterre wohnend und einsam.

Was wissen wir denn eigentlich über die ganzen Martins dieser Welt, die still und freundlich uns durch unser Leben begleiten, die ein Teil unserer Biografie sind und am Ende ihres Lebens keinen haben, der sie besucht und manchmal in die Tüte greift, in die Tüte mit der Aufschrift „Firma Gernegroß und Söhne\"?
 
Ich habe den alten Martin eigentlich nie richtig kennen gelernt. Gerade einmal, dass ich seinen Namen wusste. Still blickte er täglich aus dem Wohnzimmerfenster seiner 2-Zimmer-Wohnung, Hochparterre, rechts. Mit seinen 87 Jahren brauchte er nicht einmal eine Brille. Oder setzte er sie aus falscher Eitelkeit einfach nicht auf? Ab und zu findet man bei manchem Zeitgenossen diese falsche Eitelkeit, und dabei kann eine Brille so ein schönes Kleidungsstück sein, wenn man die richtige Wahl trifft.

Mit seinem scheinbar weisen und allwissenden Blick begleitete mich der alte Martin schon als Kind auf all meinen Wegen. Sahen wir uns in der Stadt, dann grüßte er uns Kinder alle bei unseren Vornamen. Später, als er nicht mehr ganz so oft das Haus verließ, sondern solche Wege nur selten nutzte, und wenn, dann nur auf die dringendsten Besorgungen beschränkt, dann nickte er mir auch schon mal hinter der zurückgezogenen Gardine des geschlossenen Wohnzimmerfensters zu. An den Augen sah ich seine Falten, die mir als Kind Vertrauen schenkten, Vertrauen gegenüber Fremden, mit denen man ja nicht mitgehen durfte, und als erwachsener Mann erkannte ich in diesen menschlichen Jahresringen, wie ich sie gerne nenne, eine Form der Weisheit, der bäuerlichen Schläue, wie man sie Alten zuspricht, die so ihre Welterfahrungen gemacht haben; woher auch immer.

In seinem letzten Herbst sprach ich ihn oft an: „Na, Herr Martin, wann wird's Winter?" „Bald", antwortete er mir, „sehr bald", griff mit seiner Linken an sein Kreuz und jammerte etwas, „es kracht schon im Gebälk".
Wir schmunzelten uns an, und er war froh, dass ihn jemand ansprach und wieder mal um einen Rat gebeten hatte.

Er hatte es gespürt. Sein Blick wurde trüber, die Hände mussten gemeinsam das Glas zu Mund führen und manchmal, das wusste ich von Frau Markmann, die zwei mal die Woche bei ihm sauber machte und sowas wie unserer Hauspolizei war, manchmal schaffte er es nicht einmal mehr bis zum Klo. Dann war er traurig, dass er auf Fremde angewiesen war, die ihm hier helfen mussten, weil er es nicht mehr alleine schaffte, aber er nahm es hin, so, wie er in seinem langen Leben vieles schon hingenommen hatte.
Doch seine Sorgen sah man ihm nicht an, wenn er da am Fenster saß und gut gelaunt, scheinbar gut gelaunt auf die Straße sah. Seine Straße, die er ein ganzes Leben lang bewohnte, auf der er einst sein Gretchen kennen lernte, die tatsächlich Margarete hieß und ein etwas kürzeres Bein hatte, diese Straße, die unter den verschiedenen Regierungen und Staatsformen auch verschiedene Namen trug, je nachdem, welche tote oder lebende Persönlichkeit gerade als Held verehrt werden sollte, diese Straße, auf der er als junger Mann die Arbeiterfahne schwenkte und dafür ins Gefängnis musste, und auf der er sich beinahe das Genick brach, als er trunken vor Freude über das Ende des Krieges mit dem Rad hinab fuhr und sich in einem Bombentrichter überschlug. Erst kamen hier die Amerikaner und schenkten ihm Brot und manchmal auch Zigaretten. Obwohl er nicht rauchte nahm er sie gern, denn als Tauschobjekt waren sie allemal geeignet. Dann kamen die Russen und nahmen ihm das Rauchwerk wieder weg und vernichteten sie in eigener Zuständigkeit.
Nach der Arbeit hat er mit den anderen Freiwilligen die Straße wieder hergerichtet, hat Löcher gestopft und Steine verpflastert, hat die Häuser wieder aufgebaut, den Kriegswitwen die Kohlen geschleppt, wenn es denn auch mal was zu Schleppen gab und war immer da, wenn es hieß, da wird jemand gesucht. Und so ging es, bis er Rentner wurde, und selbst da war keine Ruhe in ihm, und er hatte in sich diesen Drang, weiter zu helfen und zu tun und zu machen. Manchmal gab er sein letztes Hemd, wie man so schön sagt, oder auch einen halben Mantel.

Später saß er nur noch am Fenster, sah den Leuten bei deren Geschäftigkeiten nach und grüßte Kohlenhändler Kaschimke, der mit seinem alten Fuhrwerk und den beiden Stuten vorbeiratterte. Er kannte Kaschimke noch aus der Zeit, als beide in den Fahrradverein „Viktoria 1923 e.V." beitraten und die Wochenenden von Wanderungen in die nahe Natur und von Männergesängen gekennzeichnet war. Mit seiner Arbeiterfaust winkte er dem alten Parteisekretär Wunderlich zu, als der vorbeilief und erinnerte sich daran, dass der viele Jahre im KZ gesessen hatte und keiner glaubte, dass er je wieder lebend diese Straße begehen würde. Ob es Wunderlich tatsächlich mitbekam, dass da noch jemand ein bisschen Interesse nach ihm hatte, weiß keiner.

Und dann schenkte er meinen Kindern, so, wie er es schon bei mir vor zwanzig Jahren machte, kleine Bonbons aus einer Tüte mit der Aufschrift „Firma Gernegroß und Söhne".

Und jetzt ist er tot, der alte Martin, 87-jährig, Hochparterre wohnend und einsam.

Was wissen wir denn eigentlich über die ganzen Martins dieser Welt, die still und freundlich uns durch unser Leben begleiten, die ein Teil unserer Biografie sind und am Ende ihres Lebens keinen haben, der sie besucht und manchmal in die Tüte greift, in die Tüte mit der Aufschrift „Firma Gernegroß und Söhne"?
 
M

Märchenfee

Gast
Viel zu wenig, Carsten. Auch diese hier ist nach meinem Geschmack und ich war gern bei dir und dem alten Martin zu Gast.
LG von Petra
 

Christoph

Mitglied
Eine schöne Geschichte. Aber ich glaube, sie ist unter "Kindergeschichten" am falschen Platz. Für Kinder (sagen wir mal bis 12 Jahre) macht die Neigung zu langen Sätzen den Text fast unlesbar. Zudem wird viel Wissen um die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts vorausgesetzt. Ein Wissen, das (leider) nur in seltenen Fällen bei Kindern vorhanden sein dürfte.
Wäre "Der alte Martin" nicht vielleicht besser bei den "Kurzgeschichten" aufgehoben?

Viele Grüße
Algarvius
 
Da gehe ich mit! Die Geschichte war die erste, ich zu Beginn meiner Mitgliedschaft in die "Leselupe" gesetzt habe. Für mich gehört sie eigentlich auch in die Kurzgeschichten. Sie ist aber in dieses Forum geschoben worden. Kann man nichts machen.
Trotzdem danke für die Blumen.
 

maerchenhexe

Mitglied
Die Geschichte gefällt mir richtig gut. Eine leise Erzählung wie ich sie mag. Die Verschiebung in Kindergeschichten ist mir ein Rätsel. Da gehört sie eindeutig nicht hin.

ganz lieber Gruß
maerchenhexe
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Na klar hol ich Deinen Martin zu den Kurzen! Abgeschoben hatte den aber niemand, könnte es wohl sein, dass Du Dich damit bei den Kindergeschichten beworben hast?

Schiet der Hund wat druff, nu' bisse hier.

Verpflanzt und fort getanzt
 
Carstens Welt,

das ist so eine Geschichte, die ich gern in Zeitschriften lesen würde - zwischen: Welches ist der beste PC? Strümpfe in zehenfreien Pumps? Wo geht Ihr essen?

Dort könnte sie die Menschen zum Nachdenken anregen, und wenn es nur ein kurzes Innehalten wäre zwischen allen Alltagswichtigkeiten/-nichtigkeiten. Vielleicht sähen sie dann ihre Nachbarn auch mal mit anderen Augen?
 

maerchenhexe

Mitglied
Na siehst du. Rumpels Verschiebung sei Dank, kriegt deine Geschichte jetzt endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdient.

Lieber Gruß
maerchenhexe
 



 
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