Der alte Spiegel

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Eve

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Der alte Spiegel

Ein Mädchen hatte ihn schließlich gekauft, nachdem er nun schon den ganzen Vormittag auf diesem zugigen Platz zugebracht hatte. Undenkbar, dass er neben einem schäbigen Bild mit Petit-Point-Stickerei und einer alten Kaffeemaschine stehen musste! Und dann all diese Leute, die ständig immer nur um seinen Preis feilschen wollten! Aber das Mädchen war ihm gleich aufgefallen. Sie schien anders zu sein, zielstrebiger. Sie verweilte nicht an den vielen anderen Tischen, sie schaute in einem umfassenden Bogen über die Auslage, verzog das Gesicht und wanderte weiter zum nächsten Tisch. Bis sie ihn gesehen hatte. Er hatte sie auch gesehen, eine Weile sogar schon. Was sollte er auch sonst tun? Sie war bestimmt nicht älter als dreizehn, und in seinen Augen machte sie das schon fast zu einer Frau. Früher war man in diesem Alter schon verheiratet ... aber heute war alles anders. Immerhin hatte sie einen guten Blick, sagte er sich, denn sie kam auf ihn zu, die Hand mit dem Geld in der Manteltasche vergraben. Sie wollte nicht handeln, sie fragte nur nach dem Preis, zeigte mit der anderen Hand auf den Spiegel, und dann bezahlte sie.

Und nun schleppte sie ihn also in ihrer Umhängetasche, die ein bisschen muffig roch, nach Hause. Der alte Spiegel war müde, gern hätte er ein bisschen geschlafen oder sich aufgewärmt, aber die Fremdheit dieses merkwürdigen Reisegefährtes hielt ihn wach. Jetzt schleuderte sie ihn auch noch hin und her, ohne daran zu denken, dass er nicht mehr der Jüngste war. Es lag an diesen Zeiten, dachte er sich, niemand machte sich mehr die Mühe, das Alte zu schätzen und zu bewahren. Er dachte zurück an seine Fertigung, als ein Goldschmied seine ovale Form aus heißem Eisen gegossen hatte. Dann hatte der Schmied feine Ornamente und Verzierungen aus dem Rohling geschnitzt und den fertigen Rahmen schließlich mit Blattgold belegt. Wie aufgeregt war der Spiegel gewesen, als er das bemerkte. Denn das bedeutete, dass er zu den feinen Herrschaften kommen würde. Nicht in eine schäbige Stube, in der so viele seiner Leute ihr Dasein fristeten, nein, ihm standen glanzvolle Zeiten bevor. Und so kam es dann auch. Ach, er könnte Geschichten erzählen, Bilder von großen Königen und berühmten Rittern wieder aufleben lassen ... aber wer wollte das heute schon noch wissen. Er wusste nicht mehr, wie viele Augen sich schon in ihm betrachtet hatten, unzählige. Und er war so müde, wenn er an all die verschiedenen Augen dachte, an die alten, faltigen, die jungen, lebendigen, die fröhlichen, die traurigen ... aber seit geraumer Zeit, eigentlich seit sehr langer Zeit schauten all diese Augen nur noch sich selbst an. Niemand sah mehr in ihn hinein, um zu sehen. Sie wollten sich nur in ihm spiegeln. Traurig drückte sich der alte Spiegel in die Ecke der Tasche, ein paar Taschentücher purzelten über ihn, und sein einziger Trost war, dass sie wenigstens ein bisschen weich und sauber waren.

Er hatte sich geschworen, es noch einmal zu versuchen, einmal noch die Hoffnung aufrecht zu erhalten, dass der nächste Mensch, den er treffen würde, anders wäre. Und als er das Mädchen gesehen hatte, hatte er tatsächlich für einen Moment geglaubt, sie könnte dieser Mensch sein. Diese eine Chance würde er ihr geben, und wenn er wieder daneben liegen sollte, das hatte er sich auch geschworen, dann wollte er sein Glas lieber blind werden und das Gold schäbig anlaufen lassen. Dann wollte er nicht mehr, dass ihn überhaupt noch eine Menschenseele ansehen wollte.

Mitten in seine Gedanken hinein war die Reise zu Ende. Ein paar Hände hoben ihn aus seiner Ecke, stellten ihn achtlos auf eine Kommode. Was war das? Ging man so mit einem Schatz um? Ein merkwürdiger Kasten in der Ecke fing laut an zu plärren, aber das Mädchen schien sich darüber zu freuen, denn sie nickte mit dem Kopf dazu. Sie hatte ihn vergessen, dachte er sich, und überzog, ohne darauf zu achten, seine linke obere Ecke mit blinden Flecken.

Der Spiegel starrte auf seinen Fuß, auf die schön verschlungenen Schnörkel, die sich wie eine Rosenranke zu dem Oval hochwanden, in dem das Glas gehalten wurde. Welch Ironie, dass ausgerechnet er über all die Jahrhunderte nicht zerbrochen war und nun in Frieden im Spiegelhimmel wirbeln konnte. Er hatte sich immer für etwas Besseres gehalten und auf sich aufgepasst, sich immer die besten Verstecke gesucht – das hatte er jetzt davon!

Die blinden Flecken breiteten sich langsam ein Stück weiter aus.

Dann erschrak er – die Welt wackelte! Aber dann sah der Spiegel, dass er nur ein bisschen hin und her geschoben worden war. Jetzt stand er mit dem Rücken zum Fenster, vor ihm kniete das Mädchen. Sie drehte seine Spiegelfläche mit dem kleinen Rädchen am Rand, so dass er ein wenig nach hinten gekippt wurde. Ihr Gesicht näherte sich, sie betrachtete sich erst von der einen Seite, dann von der anderen. Gleich würde sie nach einem Pinsel greifen und sich die Augen bemalen, er kannte das schon, und dann war sowieso alles verloren. Schon fasste sie mit der einen Hand unter sich, wollte die Schublade der Kommode aufziehen. Mit einem Seufzer presste der Spiegel einen weiteren dicken blinden Fleck an den Rand, unter die anderen. Doch auf einmal neigte das Mädchen den Kopf ein wenig zur Seite, als wäre sie verwundert. Dann kam sie ein Stück näher. Der Spiegel hielt die Luft an – könnte es denn wahr sein? Beide Augen des Mädchens waren direkt in seine Mitte gerichtet, in ihnen war kein Gedanke mehr an Pinsel oder Farben. Er ließ den dicken Fleck verschwinden, wollte ihr Platz machen. Und tatsächlich glomm in ihren Augen etwas auf, das er schon lange Zeit nicht mehr gesehen hatte. Neugier, Ungläubigkeit und – Staunen! Das kleine Eisenherz des alten Spiegels machte einen Hüpfer vor Aufregung, und gleichzeitig brachte er damit eine weitere Reihe blinder Flecken zum Verschwinden.

Wenn sie es ist, dachte er, dann wird sie wissen, wie das Geheimnis zu lüften ist. Die beiden Augen rückten noch ein Stück näher, als wollten sie in den Spiegel eintauchen, und er labte sich an ihrer zauberhaften Verwunderung. Nur Menschen mit einem Herz aus Gold, das wusste er, konnten so in ihn hinein sehen. Und er hatte schon fast den Glauben daran verloren, dass es sie noch gäbe. Er würde ihr gern zurufen, was sie tun musste, wenn sie ihm folgen wollte, aber das durfte er nicht. Die alten Zauberer hatten wohl geahnt, was in der Welt geschehen würde, und hatten ihn mit einem Spruch belegt, dass seine Stimme nur dann hörbar werde, wenn der Mensch sein Herz von selbst so weit geöffnet hatte und es so rein war, dass er selbst den Weg fühlen könnte.

Das Mädchen indes hatte den Mund leicht geöffnet, es war in Bann gezogen von den vielen Farben, die es auf dem Spiegel tanzen sah. Aber sie schienen sich nicht in ihrem Zimmer zu befinden, sondern aus ihm selbst zu scheinen. Und ihr war, als hörte sie eine Musik, so zart und weich, dass sie sich fühlte, als hielte ihre Mutter sie ihm Arm und schaukelte sie, so wie früher, als sie noch ein Baby war. Sie konnte das Rascheln von Kleidern hören, die über blank geputzten Boden wischten, sie hörte Lachen und fremde Stimmen. Aber sie hatte keine Angst. Es war wie eine schöne Geschichte, die sie unbedingt erfahren wollte, an der sie Teil haben wollte ... und sie wünschte sich mit ganzem Herzen in den Spiegel hinein, an diesen süßen Ort, den sie gesehen hatte.

„Ich hätte nicht geglaubt, dass ich dich noch finde“, sagte eine warme Stimme hinter ihr. Das Mädchen drehte sich um, ein bisschen erschreckt zuerst.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte der Spiegel, „da draußen in deiner Welt kannst du meine Stimme nicht hören, aber hier in meiner Welt können wir miteinander reden wie Freunde.“
Das Mädchen lächelte, es kam ihr nicht merkwürdig vor, sich mit einem goldenen Spiegel zu unterhalten. In ihrer Welt wäre es das vielleicht gewesen, aber hier, inmitten des großen Ballsaales des Schlosses, da passte es. Es waren tatsächlich die Kleider gewesen, deren Rascheln sie gehört hatte. Prinzessinnen und Hofdamen, Herzoginnen und Fürstinnen, Prinzen und Edelmänner standen am Ende des Saales und tanzten bunt durcheinander. Der Prinz mit dem Hofnarren, die Hofdame mit der Fürstin – und alle hatten sie prächtige Kleider an und glänzende Ketten um den Hals.
„Das ist schön“, sagte das Mädchen, „wie ich es mir erträumt habe.“
„Ich weiß“, antwortete der Spiegel, „ich weiß.“
Und dabei lächelte er.
Es war immer noch die Musik zu hören, die dem Mädchen das Gefühl gab, ganz fest von ihrer Mutter gehalten zu werden, ein Gefühl wie Geborgenheit und Zuhause. Auf der einen Seite des Saales waren riesige Schalen mit Erdbeeren und Eiscreme in allen Geschmacksrichtungen aufgereiht, ein lustiger Zwerg in einem hellblauen Anzug schwenkte die ganze Zeit über eine Fahne, auf der in dicken Lettern ALLEIRAM stand.
„Was soll denn das bedeuten, alleiram, das ist doch kein richtiges Wort?“
„Dann lies es richtig, und dann weißt du es!“
Das Mädchen bemühte sich, dachte nach, aber es fiel ihm nicht ein, was das Wort für eine Bedeutung haben könnte. In diesem Moment ertönte ein Gongschlag, der den gesamten Saal zum Klingen brachte, die Vibration erreichte sogar die kleine Besucherin und lief ihr durch den gesamten Körper.
„Die Königin!“
Der Tanz wurde unterbrochen und eine Gasse in der Mitte gebildet. Dort hindurch schwebte die Königin, begleitet von zwei majestätischen Hunden. Sie hatte für jeden ein Lächeln, sie schien mit ihrem Blick alle zu erreichen, die in ihrem Ballsaal tanzten. Und fast schien es dem Mädchen, als ob auch sie mit einem ganz besonderen Lächeln bedacht worden wäre. Ihr wurde warm ums Herz, und auf einmal wusste sie auch, was das Wort auf der Fahne zu bedeuten hatte.
„Es ist mein Name“, flüsterte sie dem Spiegel zu, „nur rückwärts geschrieben.“
Der Spiegel nickte lächelnd und legte ihr den Arm um die Schultern.
„Es ist ja auch dein Wunsch, Mariella. Komm mit, ich zeige dir noch etwas anderes.“
Damit nahm er sie bei der Hand und führte sie in den großen Garten hinter dem Schloss. Überall weideten Pferde, tollten kleine Hunde umeinander und wehten bunte Fahnen im Wind. Gänseblümchen wuchsen überall auf der grünen Wiese verstreut, dazwischen blaue Schlüsselblumen und roter Mohn. Windräder drehten sich inmitten eines großen Brunnens mit Wasser speienden Drachen. Mariella war sprachlos, das alles war so schön, so friedlich und so warm, dass es gar nicht wahr sein konnte. Sie drehte sich zu dem Spiegel um, dessen Glas nun wieder im alten Schein glänzte, ohne blinde Flecken oder Kratzspuren.
„Es ist wie in meinem Traum“, sagte das Mädchen.
„Ich weiß“, antwortete der Spiegel ihr wieder.
Am Horizont konnte man einen Teich ausmachen, das Wasser schien so weit zu sein wie das Meer, so blau wie der Ozean und so rein wie die See – es war unmöglich, alles mit einem Blick zu erfassen. Und eben segelte ein Boot ans Ufer, jemand kletterte hinaus und schüttelte den Kopf im Wind. Mariella war neugierig und hielt den Blick gebannt in die Ferne. Der Horizont schien näher zu kommen, als ob er gemeinsam mit dem Boot angelegt hätte, um sie besser sehen zu lassen. Die Frau aus dem Boot trug ein weißes Kleid und eine Blume im Haar, sie kam langsam auf Mariella und den Spiegel zu. Ein Vogel flog an ihr vorbei, fast als wollte er sie begrüßen. Mariella starrte immer noch wie gebannt auf die Frau, die sich näherte, dann riss sie sich los und rannte ihr entgegen. Der alte Spiegel lächelte nur.

Die Frau fing ebenfalls an zu laufen, dem Mädchen entgegen, und als sie sich erreichten, hielten sie sich eng umschlungen, drehten sich gemeinsam im Kreis. Der Spiegel hörte ein helles Lachen, so eines, wie er es schon sehr lange nicht mehr gehört hatte, und sein eisernes Herz rührte sich. Es hatte sich also gelohnt, all die harten, kalten Jahre auszuharren und die Hoffnung nicht zu verlieren! Für dieses Lachen würde er noch einmal so viele Jahre auf sich nehmen, auch wenn er dazu langsam ein bisschen zu alt war, dachte er bei sich. Er ging auf die beiden zu, die sich immer noch in den Armen hielten.
„Das ist meine Mama“, rief ihm Mariella atemlos entgegen, „und ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen!“
Ja, dachte der alte Spiegel, der Tod ist unversöhnlich, aber manchmal gibt es doch eine kleine Hintertür, wenn man nur den Weg dazu findet.

Als es Zeit wurde sich zu verabschieden, glitzerte eine Träne in Mariellas Gesicht. Der Spiegel spürte das Durcheinander in ihr, und er beruhigte sie.
„Du musst in deiner Welt leben, Mariella, du musst dort zur Schule gehen und bei deiner Familie sein. Aber das hier geht dir nicht verloren. Das hier ist die Welt, die du dir geschaffen hast – und sie ist immer da, genau hier.“
Er deutete mit seinem Finger auf ihr Herz.
„Und wann immer du wieder hierher kommen willst, musst du nur die Tür öffnen, so wie du es heute morgen getan hast.“
Mariellas Mutter nickte zu seinen Worten, strich ihr übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ich bin immer hier, mein Schatz. Für immer und ewig – und das hier ist unsere Welt, die uns niemand nehmen kann, wo wir für immer zusammen sein können!“

Das Mädchen lächelte, und ein kleines bisschen Zuversicht war in ihren Augen zu lesen, als sie dann leise das Wort aufsagte, das im Schloss auf der Fahne gestanden hatte und das ihr den Weg zurück öffnete, wie der alte Spiegel ihr erklärt hatte.

Es machte <Plopp>, und sie war wieder in ihrem Zimmer. Schnell drehte sie sich zur Kommode – der Spiegel war noch da! Mariella strich vorsichtig mit dem Finger über die Schnörkel an seinem Rahmen und schob ihn ganz in die Mitte, damit er nicht aus Versehen herunter gestoßen werden würde. Dann legte sie sich auf ihr Bett, schloss die Augen und erinnerte sich an diesen wunderschönen Tag in ihrem Zauberland.
 

coxew

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hallo eve,

das ist eine ganz tolle geschichte. das einzige, was du vielleicht ändern könntest, wäre ein wort im vorletzten absatz:

"... das im Schloss auf der Fahne gestanden hatte und das ihr den Weg zurück öffnete, wie der alte Spiegel ihr erklärt hatte."

statt "öffnete" eventuell "wies" oder "zeigte" o.ä.

liebe grüße
 

Eve

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@ coxew

Hallo Coxew,

danke für dein schönes Feedback ... mit dem letzten Satz wollte ich eigentlich ausdrücken, dass sie ihren Namen rückwärts aufsagen musste, um mit Verklingen des letzten Buchstabens automatisch zurück in ihrer Welt und ihrem Zimmer zu sein.

Aber du hast recht, "... den Weg zurück wies" klingt ein bisschen runder :)

Viele Grüße,
 



 
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