Der einsame Baum

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flitze

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Der einsame Baum

Es war ein stürmischer Frühlingstag. Der Wind fegte über die Wiesen und Felder hinweg. Die Äste des großen Walnussbaumes, der auf einer großen Wiese stand, bogen sich im Wind und knackten gefährlich. Vom Weiten sah man einen Vogel, der mächtig zu kämpfen hatte, um gegen die Windböen anzukommen.
„Puh, ist das heute ein Wetterchen!“, sagte der Spatz und flatterte mit letzter Kraft in Richtung des Baumes. Er wollte sich dort niederlassen, um sich von dem anstrengenden Flug zu erholen. Der kleine Vogel kam aus dem sonnigen Süden und wollte hier in der Gegend den Sommer verbringen. Wegen des starken Windes war er vom Weg abgekommen und hatte den Rest der Vogelschar verloren. Als er sich auf dem Baum niederließ, sah er sich verdutzt um.
„Was ist denn hier los?“, gab er vor Verwunderung laut von sich. „Sind wir zu früh aus dem Süden zurück? Ist etwa noch kein Frühling?“
Aber das konnte nicht sein. Auf seiner Reise hatte er schon viele blühende Bäume gesehen. Dieser jedoch war noch vollkommen kahl. Kein einziges Blatt, geschweige denn eine Knospe war zu sehen.
„Na, da habe ich mir ja ein tolles Plätzchen ausgesucht“, schimpfte der Spatz vor sich hin.
„Dann flieg doch auch wieder weg“, vernahm der Vogel plötzlich eine leise Stimme.
Wer hatte da zu ihm gesprochen?
„Hallo, ist hier noch jemand?“, fragte der Spatz neugierig und reckte und streckte seinen kleinen Kopf, um etwas zu entdecken. Doch er sah niemanden. Komisch! Verstecken konnte man sich hier doch gar nicht gut.
„Bin ich etwa nichts? Du sitzt auf mir“, sagte die Stimme traurig.
„Ach, du bist es, Baum. So war das nicht gemeint. Du siehst so vertrocknet aus. Ich dachte nicht, dass noch Leben in dir steckt“, entschuldigte sich der Spatz.
„Doch, doch. Aber ich habe keine Lust mehr zu blühen.“
„Wieso das denn?“, fragte der Spatz entsetzt.
Da begann der Baum zu erzählen, was ihn so sehr bedrückte:
Es gab mal eine Zeit, da stand er inmitten von ganz vielen Bäumen auf dieser Wiese. Die Wiese war übersäht mit bunten Blumen. Bienen, Hummeln, Käfer, Grashüpfer, sogar Hasen und Rehe hatte es hier gegeben. Alle suchten Schutz vor Wind und Wetter und genossen das friedliche Beisammensein. Er selbst hatte besonders das Zwitschern der vielen Vögel gemocht.
Aber das alles war schon viele Jahre her.
Irgendwann kam ein neuer Besitzer, der alle Bäume bis auf ihn fällen ließ. Von diesem Tag an kamen die Tiere immer seltener. Sie vermissten den Schutz der großen Bäume und auch der kleinen Pflanzen.
So geschah es, dass der Baum der einzige war, der von der idyllischen Wiese übrig geblieben war. Seither stand er einsam und allein an dieser Stelle. Anfangs kamen manchmal noch ein paar Vögel vorbei, die sich auf ihm ausruhen wollten. Doch keiner blieb mehr lange. Warum auch? Die Gegend sah ziemlich trostlos aus.
Irgendwann wurde der Baum so traurig, weil er so allein war, da beschloss er, dass er nicht mehr blühen wollte.
Als der kleine Vogel die Geschichte gehört hatte, machte ihn das sehr betroffen. Der Baum tat ihm leid und er versprach wiederzukommen. Der Spatz machte sich auf die Suche nach seiner Familie. Es dauerte auch nicht lange und er fand sie in einem Park in einer kleinen Stadt. Als am Abend die ganze Vogelschar in einem großen Kastanienbaum saß, erzählte der kleine Spatz von seiner Begegnung mit dem traurigen Baum.
Auch die anderen Vögel waren sehr ergriffen von der Geschichte. Sie beschlossen, gemeinsam dem Baum zu helfen. Am nächsten Morgen flogen alle Spatzen zu der Wiese, auf der der Baum stand. Sie landeten auf den kahlen Zweigen des Baumes. Sofort stimmte jedes Vöglein, wie verabredet, ein Lied an. Langsam, ganz langsam öffnete der Baum seine Augen und wollte nicht glauben, was er sah und hörte. Seine Zweige waren übersäht mit Vögeln und es erklang eine ihm wohl bekannte Melodie aus früheren Zeiten. Sein trauriger Blick verschwand sofort und ein glückliches Lächeln erschien. Der kleine Spatz erklärte dem Baum, dass er und seine Familie beschlossen hatten, den Sommer hier zu verbringen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Die Vogelpärchen wollten ihre Nester in seinen Zweigen bauen und ihre Jungen sollten hier aufwachsen.
„Aber du musst uns versprechen, dass du zu blühen anfängst. Schließlich brauchen wir deine Blätter zum Schutz für uns und unsere Kinder.“
Der Baum bedankte sich und gab sein Versprechen. Es dauerte gar nicht lange und die Äste hingen voller grüner saftiger Blätter. Die Vogelpärchen begannen sofort mit dem Bau der Nester. Einige Wochen später sah die Wiese fast aus wie früher. Auch die Blumen wuchsen plötzlich wieder im wilden Gras. Es grünte und blühte in allen Farben. Sogar die Bienen, Hummeln und anderen Insekten fanden sich schon bald wieder auf der Wiese ein. Sie wurden von dem herrlichen Duft der Blüten angezogen. Der Walnussbaum war zwar immer noch der einzige Baum auf der Wiese. Doch einsam musste er sich nicht mehr fühlen. Er hatte viele Freunde um sich herum. Und er blühte so wunderbar in diesem Sommer wie er es noch nie zuvor getan hatte.
 

Axel B

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Hallo Flitze,

schön zu lesende Geschichte. Nur an einer Stelle bin ich etwas über die Art gestolpert, wie Du sie umgesetzt hast. Der Baum und der Vogel befinden sich die ganze Zeit im direkten Dialog, die Geschichte des Baumes wird allerdings erzählt. Sicherlich geht das, aber von meinem Gefühle her hätte ich auch an dieser Stelle die Fortführung der direkten rede des Baumes erwartet. Ich musste zumindest den ersten Satz dieses Abschnittes noch einmal von vorne beginnen.

Alles Gute
Axel
 



 
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