Der erste Versuch

Lesemaus

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Wie oft hatte ich mich schon über meine Feigheit und Unentschlossenheit geärgert! Wie viele interessante Begegnungen fanden deshalb nicht statt, wie viele Männer hatte ich deshalb nicht kennen lernen dürfen? Zu früh den Blick gesenkt. Falsche Signale ausgesendet. Eine Aura von „Rühr mich nicht an“ um mich, die doch gar nicht dem entsprach, was ich eigentlich wollte. Hatte ich nicht selbst durch mein zaghaftes Verhalten dazu beigetragen, dass immer nur anderen die tollen Männer begegneten?

Als ich den fremden, gut aussehenden Geschäftsmann einige Meter neben mir auf dem Bahnsteig stehen sah, bemühte ich mich wieder krampfhaft, nicht zu auffällig in seine Richtung zu schauen. Dass sein Blick mich mehr als nur zufällig streifte, hatte ich bald bemerkt. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass sich eine Frau zu ihm gesellte, die ebenfalls sehr businessmäßig gekleidet war. Sie schienen sich gut zu kennen und plauderten angeregt. Fast war ich enttäuscht. Aber auch erleichtert. Wieder mal um eine Entscheidung herum gekommen!

Die S-Bahn kam und wir stiegen in den gleichen Wagen ein. Ich saß im Nachbarabteil, mit dem Rücken zu den beiden. Seine Blicke brannten mir im Nacken. Mir war unbehaglich zumute. Gleichzeitig spürte ich aber auch ein Kribbeln zwischen meinen Schenkeln. An der Station Friedrichstraße stieg die Frau aus dem Zug. Jetzt saß er allein da, die Frau schien doch nicht zu ihm gehört zu haben. Erschrocken über meine eigene Courage setzte ich mich ihm gegenüber. Ein kurzer Blick in sein erstauntes Gesicht ließ meinen Mut schnell wieder in sich zusammen fallen. Ich hielt meine Zeitschrift wie einen Schutzschild vor meinen Körper. Ärgerlich registrierte ich, wie sich eine heiße Röte bis zu meinen Haarwurzeln ausbreitete.

Der Fremde dachte nicht daran, desinteressiert aus dem Fenster zu schauen. Er beobachtete mich. Schweigend. Als überlege er, was als nächstes käme und von wem es ausginge. Ich grübelte, ob ich Pickel im Gesicht habe, mein Lippenstift verschmiert wäre und vor allem, ob ich den vielen Episoden schmählicher Feigheit eine weitere hinzufügen sollte, mit dem wohlbekannten Ergebnis, dass ich mir noch tagelang hinterher ausmalen würde, was alles Wundervolles hätte geschehen können, wenn ich nur...Ja, was war eigentlich in solch einer Situation das Angebrachte? Übers Wetter reden? Dann lieber schweigen, da gab es auch keine Peinlichkeiten.

An der nächsten Station musste ich ohnehin aussteigen. Er anscheinend nicht, denn er blieb sitzen. Fast aufatmend trat ich auf den Bahnsteig. Einer plötzlichen Eingebung folgend drehte ich mich zum Fenster um und winkte ihm lächelnd mit der Hand einen Abschiedsgruß zu. Beschwingt rückte ich meine Handtasche zurecht, schloss den Gürtel meines Trenchcoats und ging zur Praxis meines Therapeuten, wo ich einen Termin hatte.

Plötzlich überholte mich jemand und ich blieb mit offenem Mund stehen. Der Fremde lächelte mich charmant an und sagte fast entschuldigend: „Einer so netten Geste konnte ich einfach nicht widerstehen!“ Wie immer in solchen Situationen fehlten mir die Worte, doch er rettete mich, indem er mich zu einem Kaffee einlud. Ich entschuldigte mich mit meinem Termin, der mich für eine Stunde beschäftigen würde. Aber so leicht ließ er sich nun nicht mehr abschütteln. „Dann treffen wir uns danach, ich kenne hier in der Gegend ein nettes Lokal.“

Ich war damit einverstanden, schließlich konnte ich jetzt keinen Rückzieher machen. Als ich aus der Praxis des Therapeuten auf die Straße trat, dachte ich in einem ersten Impuls daran, nach Hause zu fahren. Die Frage, wohin das alles führen würde, kreiste unaufhörlich in meinen Gehirnwindungen. Aber ich gab mir einen Stoß und ging zum verabredeten Ort.

Der Fremde saß bereits an einem Tisch mit Blick zur Tür und kam auf mich zu. Ich war irritiert. Er sah nicht mehr so aus wie vor einer Stunde. Er hatte sich umgezogen und den Nadelstreifenanzug gegen eine legere Hose und ein Hemd ohne Krawatte getauscht. Und er roch anders. Nicht mehr nach sich selbst, wie jemand am Ende eines langen Arbeitstages riecht, sondern frisch geduscht und mit einem teuren Männerduft überreichlich eingesprüht. Das Tragische daran war nur, dass ich diesen speziellen Duft absolut nicht riechen konnte!

Sofort war die anfängliche Faszination und Anziehung verschwunden und machte einer Unsicherheit platz, die mich irritierte.

Alfred Göbel, wie er sich mir vorstellte, schien nichts von der Veränderung zu bemerken. Er behandelte mich mit ausgesuchter Höflichkeit, erzählte von seiner Arbeit in einer großen Versicherung und lud mich zum Essen ein, was ich ihm nicht abschlug. Als der Wein mich etwas gelockert hatte, brachte ich unsere Begegnung zur Sprache, weil mich seine Sicht der Dinge interessierte. Er gestand, dass ich ihm schon auf dem Bahnsteig aufgefallen war und er mich tatsächlich mit Blicken gelöchert hatte. Auch er zählte zu den schüchternen Menschen, die aus Angst vor Zurückweisung nicht wagten, den ersten Schritt zu tun. Deshalb empfand er mein Abschiedswinken als Signal, die Gelegenheit zu nutzen und war mir spontan gefolgt. „Du hast tolle Beine und einen sexy Gang“, vertraute er mir an. Mittlerweile waren wir zum „Du“ gewechselt.

Die Gesprächsthemen drohten uns langsam auszugehen und ich bemerkte die Müdigkeit, die sich mit dem Wein in mir verbreitete. „Hast du Lust, noch mit zu mir zu gehen?“ unterbrach er meine Gedankengänge, die sich um die Frage drehten, wie ich mich am stilvollsten wieder aus dieser Situation heraus lavieren könnte. Denn dass dieser Mann, so nett er zweifellos auch war, irgend etwas in mir in Brand setzen könnte, war ausgeschlossen. Deshalb antwortete ich mit einer Gegenfrage: „Und was sollen wir bei dir tun?“ Seine Antwort war nicht dazu angetan, meine Meinung zu ändern. „Ein bisschen Kuscheln.“ Ich schüttelte mich innerlich. Um nichts in der Welt wollte ich mit diesem Menschen kuscheln. Aber eine andere Seite in mir übernahm das Kommando. So, als wollte sie sehen, wie der eingeschlagene Weg enden würde.

Und so fand ich mich kurz darauf vor seiner Wohnungstür, nicht wissend, was ich eigentlich hier verloren hatte. Die Wohnung war ein weiterer Schock. Noch nie habe ich einen Raum gesehen, der solche Einsamkeit ausstrahlte, wie dieses Appartement. Penibel aufgeräumt und sauber, kein herumliegendes Kleidungsstück, keine Zeitschrift, kein Buch. Steril. Unpersönlich. Mich fröstelte beim Gedanken an die Abende, die dieser Mann auf seiner Designercouch vor dem Fernseher zubrachte, einen Teller mit Microwellen-Fastfood auf dem flachen Tisch aus gebürstetem Stahl und Glas und eine Flasche Wein, um wenigstens die innere Kälte zu betäuben.

Geschäftig war Alfred zur Couch gegangen, um sie mit wenigen Griffen in eine Liegefläche zu verwandeln. Danach nahm er meine Hand und führte mich zu dieser auberginefarbenen Fläche aus Leder, die sich so kalt anfühlte wie der Rest des Raumes. „Was möchtest du trinken?“ Meine Antwort verunsicherte ihn sichtlich. „Mineralwasser.“

Als wir uns gegenüber saßen, dachte ich nur noch darüber nach, wie ich ihm am schonendsten beibringen könnte, dass es mit uns nichts werden würde. Nicht für länger und nicht mal für eine Nacht. Als er mein Gesicht in die Hände nahm und mich vorsichtig küsste, war ich mir ganz sicher. Zwischen uns stimmte die Chemie nicht. Hätte ich mehr Wein getrunken, wäre mir mein Mitleid mit ihm sicher zum Verhängnis geworden. Ich hätte mit ihm geschlafen, um sein Selbstwertgefühl nicht zu sehr zu verletzen. Dann hätte er wenigstens auf einen One-night-stand zurück blicken können. Nichts Ungewöhnliches immerhin. Er hätte sich als ganzer Mann, als erfolgreicher Jäger, fühlen können. Und wie hätte ich mich gefühlt?

Es hatte keinen Sinn. Besser ein schnelles Ende. Alfred hatte natürlich meine fehlende Leidenschaft bei seinem Kussversuch bemerkt und entschuldigte sich prompt. Er wollte wissen, was er tun solle. Ich schob meine Müdigkeit vor, was nicht einmal gelogen war und versicherte ihm voll Enthusiasmus, dass er nichts falsch gemacht habe und dass es nicht an ihm liege. „Du bist ein netter Kerl, Alfred, aber das mit uns wird nichts!“

Sein trauriger Blick verursachte mir wieder Schuldgefühle. Warum hatte ich mich nur in diese Situation begeben? Brauchte ich diese Erfahrung unbedingt? „Können wir uns wieder sehen? Kann ich dich anrufen?“ Aber auch diesen rettenden Strohhalm musste ich ihm kappen. Nichts hasse ich so sehr, wie absichtlich verursachte falsche Hoffnungen. „Es war ein schöner Abend, Alfred, für uns beide. Belassen wir es dabei.“ Er nickte resigniert. Sein Angebot, mir ein Taxi zu rufen, lehnte ich dankend ab. Ich brauchte jetzt frische Luft und Bewegung.

Als ich wieder unten auf der Straße stand, spürte ich, wie in mir ein unbändiges Lachen aufstieg. Ich hoffte nur, er hätte es oben in seinem Zimmer nicht gehört und falsch gedeutet. Ich lachte über die Frau, die ich in den vergangenen Stunden gewesen war, die Dinge getan hatte, zu denen mir immer der Mut gefehlt und die ich nun endlich einmal ausprobiert hatte. Es war ein befreiendes Lachen, das sich an den Häuserfassaden brach und in den besternten Nachthimmel kletterte, unter dessen Schutz ich dahin lief, dem nächsten Tag entgegen.


 
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Open Mike

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Wie oft hatte ich mich schon über meine Feigheit und Unentschlossenheit geärgert! Wie viele interessante Begegnungen fanden deshalb nicht statt, wie viele Männer hatte ich deshalb nicht kennen lernen dürfen? Zu früh den Blick gesenkt. Falsche Signale ausgesendet. [...] Hatte ich nicht selbst durch mein zaghaftes Verhalten dazu beigetragen, dass immer nur anderen die tollen Männer begegneten?
Statt "hatte" hier besser "habe" und auch nur als Einleitung, nachfolgend reicht die einfache Vergangenheitsform.
Wenn sie "den Blick zu früh senkte", gab es bereits eine Art Begegnung.

Ähnliches findet sich auch im restlichen Text ("zusammen fallen", "platz", um nur zwei weitere Beispiele zu nennen).

Geschickt, diese beiläufige Erwähnung des Therapeuten.

om
 
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Open Mike

Gast
PS:

Das Wort "Einleitung" war unglücklich gewählt. Gemeint ist die Verwendung des Hilfsverbs im ersten Satz.
 

Lesemaus

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Hallo OM, über deine Vorschläge muss ich erst nachdenken, so finde ich z.B., dass das erste "hatte" schon richtig ist, denn damit ist die Vorvergangenheit gemeint, nämlich, bevor die geschilderte Begebenheit (die ja im Imperfekt geschrieben ist) stattfindet. Würde ich "habe" verwenden, hieße das ja, dieses Ärgern in derselben Vergangenheit anzusiedeln wie die Geschichte, die die Prota dann erzählt. Weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücken konnte.

LG Lesemaus
 
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Open Mike

Gast
"Hatte" wirkt recht distanziert und nimmt somit einen Teil der folgenden Geschichte vorweg.

om
 



 
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