Der ewige Vorsatz

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chrissieanne

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Die Fenster gegenüber sind nicht sehr nah. Doch legte es jemand darauf an, er könnte sie sehen. Denn die Kastanie trägt kein Laub. Es ist Winter. Im Winter sieht sie mehr vom Himmel, und ihre Wohnung ist recht hell. Aber da schläft sie meist noch.
Im Winter ist es schnell dunkel, und ihr Fenster leuchtet früh. Und sie wäre zu sehen. Legte es jemand darauf an. Er könnte sie sehen.
Jeden Abend auf ihrer Couch. Sie liegt auf der Couch mit der Wärmflasche mal im Rücken, mal im Nacken, dann auf den Füßen. Wenn sie Bauchweh hat auch auf dem Bauch. Sie bräuchte eigentlich mindestens zwei Wärmflaschen. Jede Stunde ungefähr steht sie auf und füllt erneut heißes Wasser ein. Oder holt sich etwas aus dem Kühlschrank oder steht einfach nur auf. Um sich zu bewegen. Was tut sie auf der Couch? Sie sieht fern. Was sonst. Meist in die Glotze, oft ins Leere, manchmal aber schafft sie es, in ihrem Hirn einen Punkt zu erklimmen, der ein Hochsitz ist. Von dem sieht sie auf sich hinab. Das ist kein schöner Anblick.
Sie ist noch jung, noch nicht einmal vierzig Jahre alt. Würde sie sich etwas zurechtmachen, wäre sie attraktiv. Sie hat viele Anlagen. Gute Anlagen, die verkümmert sind, verkümmern werden. Zu alt, um noch wirklich etwas daraus zu machen, zu jung, um so zu leben.
Sie schaut fern. Wenn sie Spielfilme schaut, gießt sie sich immer dann neuen Wein ein, wenn die Figuren dies auch tun. Da kommt sie gut auf ihre Kosten. Mit dem Rauchen ist es schon schwieriger. Es wird ja heutzutage kaum noch geraucht in den Filmen.
Sie leidet und lacht und ärgert sich mit den Figuren. Bei den Dokumentarfilmen ist sie erstaunt, entsetzt, überrascht, gerührt - je nachdem. Und bei den Talkshows gehen ihr die Schwätzer oft auf die Nerven, oder sie weiß, dass sie auch da sitzen könnte, hätte sie etwas aus sich gemacht. Oder hätte jemand sie gesehen, ihre Talente bemerkt. Ach. Zu spät alles.
Immer wieder schluchzt sie. Ihr Körper verkrampft sich und wird geschüttelt. Manchmal laufen Tränen, oft nicht. Es ist wie aufs Klo gehen. Sie achtet kaum noch darauf. Ihr Körper fühlt sich an wie ein Trampolin. Bis zur Unerträglichkeit gespannt. Dann muss sie aufstehen und etwas holen aus der Küche. Oft weiß sie in der Küche dann gar nicht, was sie dort will. Dann macht sie den Abwasch. Den gibt’s immer. Komisch, obwohl sie allein ist, sammelt sich jede Menge Dreck an.
Wenn ihr so trampolinmäßig zumute ist, onaniert sie auch mal. Das schafft Erleichterung. Doch sie fühlt sich schmutzig danach. Sie kommt oft, sehr oft, wenn sie onaniert. Mit Männern kommt sie selten, sehr selten, weil sie so angespannt ist. Komisch. Aber das ist lange her.
Schmutzig fühlt sie sich nicht, weil onanieren schmutzig ist. Es ist das Phlegma. Das klebt an ihr. Diese vielen Orgasmen, die ihre Energien sind, die sie herausdrückt, wie überschüssige Luft aus der Wärmflasche.
Das ist Sünde. Sie sollte sich besser ein Messer in den Bauch rammen. Doch dafür ist sie zu feige. Und wer weiß - vielleicht fällt für sie ja doch noch ein bißchen Lebendigkeit vom Himmel? Einfach so, ohne dass sie sinnlose Anstrengungen, die eh nur Enttäuschung und Frust bringen, absolvieren muss?
Wenn der Abend vorbei ist, so gegen vier Uhr früh, geht sie duschen. Wäscht den Gestank von Langeweile: zuviel Zigaretten (sie muss schummeln), Wein, Chips, Orgasmen und Selbstmitleid (objektiv gesehen, sie merkt das nicht mehr)ab. Im Bett fühlt sie sich dann wieder ganz gut. Nur die Blähungen machen ihr zu schaffen.
Nachdem sie ein wenig gelesen hat, bei Schlaftee und gutem Licht einen sinnvollen Ausklang zumindest, wird sie schlafen und morgen endlich ein neues Leben anfangen. Ein letzter Blick zu den Fenstern, die nicht sehr nah sind - Gott sei dank. Aber sie könnten sie sehen, wenn sie es darauf anlegten.
Als erstes die Vorhänge.
 



 
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