Der fremde Junge
Perikles war schon seit zwei Tagen verschwunden. Manolis war überzeugt, sie hatten ihn weggejagt, weil er zu viel fraß, zuviel bellte. Zu Hause war kein Platz mehr für seinen Hund, deswegen gab es auch für ihn dort keinen mehr. Zornige Entschlossenheit stand in seinem Gesicht. Er hatte den Weg gewählt, den nur wenige gingen, denn er endete weit oben bei den verlassenen Schafhürden. Manolis hockte sich auf einen Stein, kramte verdrossen in seiner Tasche und holte einen krümelig gewordenen Käsefladen hervor. Gedankenverloren biss er ein Stück ab, kaute und stellte sich vor, wie seine Eltern ihn vergeblich rufen und alles nach ihm absuchen würden. Geschieht denen recht, dachte er, denn Perikles ist wohl schon tot. Dabei rollten ihm Tränen über das Gesicht, ohne dass er es merkte.
„Warum heulst du denn?“
Manolis schreckte hoch. Vor ihm stand ein magerer Junge mit großen Augen in einem harten Gesicht. Seine Haut war dunkelbraun gebrannt. Manolis wusste sofort, dass er eines der Kinder türkischer Arbeiter war, die hinter den Tabakfeldern wohnten. Kein griechischer Junge, der etwas auf sich hielt, wechselte mit denen ein Wort. Manolis machte eine weit ausholende, verächtliche Geste, die er seinem Vater abgeguckt hatte und die besagen sollte, dass der andere sich entfernen möge. Der braune Knabe aber übersah diese Bewegung. Seine Blicke gingen forschend über das Gesicht des Jungen, der schnell und verlegen die Tränen abwischte, und er fragte: „Hast du dich verlaufen?“
Manolis warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Nein. Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!“
Doch der andere blieb unbeeindruckt. „Du hast geheult. Ich habe es gesehen.“
„Ich heule, wann ich will.“
Der türkische Junge lächelte dünn und setzte sich neben Manolis in den Sand. „Ich heiße Kemal. Und du?“
Manolis schwieg.
„Bist du aus dem Dorf?“
Wie hartnäckig und aufdringlich er ist! dachte Manolis erbost. „Ich rede nicht mit Türken.“
„Warum nicht?“
Manolis rutschte unbehaglich auf seinem Stein hin und her. Er wäre gern weitergegangen, aber vielleicht würde der Junge ihm folgen. „Ihr Türken habt viele Jahre unser Land unterjocht“, gab er altklug zur Antwort, doch Kemal bohrte nur seine schmutzigen Zehen in den Sand, dann wandte er sein Gesicht Manolis zu. „Du bist dumm. Merkst du nicht, dass ich dir helfen will? Sag schon, warum du heulst.“
Manolis senkte den Blick. Es machte ihn ärgerlich, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. „Ich heiße Manolis“, sagte er schließlich, und ich heule aus Wut – natürlich! Mein Hund ist weggelaufen, und ich suche ihn.“
„Wie sah er denn aus – dein Hund?“
„Braun war er mit weißen Flecken und einer weißen Schnauze. Er heißt Perikles.“
Kemal nickte. „Ja, da ist klar, so ein Hund – mochtest du ihn sehr gern? Ich meine, so wie einen sehr guten Freund?“
Manolis sah Kemal erstaunt an. Woher wusste der, dass es sich genauso verhielt? „Ja, er ist mein allerbester Freund.“
Kemal schwieg, dann meinte er zögernd: „So einen Hund, braun, weiß gefleckt, also den habe ich gesehen. Ja, bei unserer Hütte lief so einer herum.“ Kemal bemerkte Manolis’ hoffnungsvollen Blick. Er nickte bekräftigend. „Ja, ich möchte wetten, dass es dein Hund ist.“
Manolis sprang auf. „Dann lass uns doch mal nachsehen.“
Kemal zuckte die Achseln. „Können wir. Komm mit!“ Und schon wandte er sich um und lief voraus. Manolis stolperte hinterher. Er schämte sich, als er, hinter Kemal hertrottend, an den ärmlichen Lehmhäusern vorbeiging. Kemal führte ihn zu einem abseits gelegenen Schuppen und winkte Manolis. Der kam misstrauisch näher. Kemal öffnete die Tür, und heraus schoss ein wolliges, geflecktes Bündel. Braun-weiß, aber nicht Manolis’ Hund. Freudig aufgeregt sprang er an den Beinen der Jungen hoch. Wütend und enttäuscht schob Manolis den kleinen Hund mit einem leichten Stoß beiseite. „Das ist nicht mein Hund.“
„Ich weiß“, sagte Kemal und hob den kleinen Hund auf. „Doch sieh nur, wie niedlich er ist und was für hübsche Augen er hat.“
Manolis jedoch fühlte sich heimtückisch in das schmutzige Türkendorf gelockt. Giftig zischte er zurück: „Ein hässlicher Köter ist er und außerdem – ein Türkenhund!“
„Ich dachte, du magst Hunde.“ Kemals Stimme war plötzlich traurig, doch Manolis in seiner Verbitterung merkte es nicht. „Du wusstest es. Weshalb hast du mich hierher gelockt?“
Kemal sah Manolis verwundert an. „Ich dachte, wenn dein Hund fort ist, schenke ich dir eben einen anderen. Und der hier – „ er kraulte ihn zärtlich hinter dem Ohr, „der ist doch wirklich lieb. Und stark wird er auch mal, du wirst sehen.“
„Ich will keinen anderen Hund, behalte deinen Bastard!“ Manolis wandte sich heftig ab und rannte die Gasse zurück. Als er sich umdrehte, sah er, dass Kemal und der Hund ihm folgten. Er ging langsamer. „Wohin willst du jetzt?“ schrie Kemal. Er holte ihn ein. „Sei mir nicht böse, ich habe es gut gemeint. Soll ich dir helfen, deinen Hund zu suchen?“
Manolis schüttelte den Kopf und schwieg. Der kleine Hund lief ihm schwanzwedelnd voraus. „Wohin gehst du jetzt?“ fragte Kemal.
„In die Berge.“
„Ist dein Hund da oben?“
„Nein, ich glaube nicht.“ Zögernd rückte Manolis mit der Wahrheit heraus, dass er fortgelaufen war, weil er glaubte, dass sein Hund nicht mehr lebte. Kemal sah ihn ernst von der Seite an. Plötzlich drehte er sich um und rannte zurück. Der kleine Hund zögerte kurz, dann flitzte er Kemal hinterher.
Manolis sah den beiden nach und dann hinauf zu den schroffen Hängen, die sich in der Dämmerung dunkel vom verblassenden Himmel abhoben. Er fluchte leise. Jetzt hätte er schon oben sein können bei den Schafhürden und schlafen. Stattdessen lief er durch die Straßen der Türken, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Nein, auch nicht mit ihren Hunden!
Da lief das wuschelige Bündel plötzlich vor seine Füße. Manolis sah sich um. Kemal schlenderte lächelnd heran. Seine Hände steckten im Bund seiner geflickten, kurzen Hosen, von seiner Schulter hing eine große, schwere Tasche.
Manolis blieb stehen. „Hör zu, Kemal – „ zum ersten Mal nannte er ihn bei seinem Namen – „ich will allein gehen.“
„Allein ist nicht gut, oben ist es einsam. Essen gibt es auch nicht.“ Er wies auf seine Tasche und grinste. „Hier drin ist alles, was wir brauchen.“
Manolis fühlte einen leichten Druck im Magen. Was wollte der fremde Junge? In seiner Unsicherheit erwiderte er trotzig: „Ich nehme nichts von Türken. Gib es deinem Hund!“
Kemal pfiff diesen zu sich und warf ihm einen Brocken zu. „Wenn der Hunger kommt, wirst du essen“, stellte er fest und setzte gelassen den Weg fort, den Manolis nehmen musste, und jetzt war es Manolis, der Kemal und dem Hund folgte.
Fast unbemerkt war es Nacht geworden, das Lärmen der Zikaden verstummt. Kemal zog eine Taschenlampe aus seiner Tasche. Es zeigte sich, dass er den Weg gut kannte, denn er führte Manolis sicher bergan. Manolis überlegte, was er ohne Kemal getan hätte. An eine Taschenlampe hatte er nicht gedacht, auch seine Wegzehrung war kärglich gewesen. Er hatte seine Flucht von zu Hause erbärmlich geplant.
Als sie die Schafhürden erreichten, war Manolis müde, zerschlagen und wütend auf sich selbst. Er ließ sich zu Boden fallen und stellte sich schlafend. Kemal raschelte mit etwas. Der Duft von Weißbrot, Schafskäse und Oliven stieg Manolis in die Nase. Der Hund schmatzte. Manolis wollte sich missmutig auf die andere Seite wälzen, da schob sich eine Hand zu ihm hinüber, und ein Kanten Brot mit Schafskäse zerstörte seinen Stolz. Er packte zu und stopfte das Brot in sich hinein. Manolis meinte, Kemals zufriedenes Grinsen zu sehen, doch Kemal grinste nicht. Er wartete, bis Manolis aufgegessen hatte, dann fragte er mit ruhiger Stimme: „Was wirst du morgen tun?“
Manolis zuckte zusammen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung vom Fortgang seiner Flucht. „Weiß noch nicht“, murmelte er.
„Du wirst wieder nach Hause gehen“, stellte Kemal fest.
„Willst du mir das vielleicht vorschreiben?“ brauste Manolis auf.
„Du wirst es tun, weil es so am besten ist“, kam es selbstsicher von Kemal.
„Was weißt denn du?“ Und nach einer Pause: „Du bist schließlich auch weggelaufen. Was sagen denn deine Eltern dazu?“
Kemal antwortete nicht sofort. „Sie vermissen mich nicht“, sagte er schließlich leise. „Wir sind viele zu Hause, weißt du. Es fällt nicht auf.“
Manolis horchte auf. Kemal hatte zum ersten Mal unsicher geklungen. Manolis konnte sich nicht vorstellen, dass man ihn daheim nicht vermissen könne. „Gibst du mir noch etwas?“ fragte er, und diesmal ging es ihm leicht über die Zunge. Sofort reichte ihm Kemal noch ein Stück Brot mit Käse und ein paar Oliven. Der kleine Hund rutschte schnüffelnd an Manolis heran, und der begann ihn abwesend zu kraulen. „Ich kann doch nicht zurück“, fuhr er zögernd fort, „sie werden furchtbar schimpfen.“
Kemal schüttelte den Kopf, doch Manolis konnte es nicht sehen. „Nein, sie werden sich freuen, dass du wieder da bist – du wirst sehen.“ Kemal schwieg, und Manolis kam es so vor, als säße Kemal ein Kloß im Hals. Manolis wurde nachdenklich, beinahe traurig. Schnell schob er den letzten Bissen in den Mund und dachte, wie behaglich es war, satt zu sein. Zu Hause wurde er das immer. Und Kemal? Er sah mager aus, und sie waren viele, hatte er gesagt. Doch Manolis mochte ihn nicht weiter fragen. „Wir wollen es überschlafen“, sagte er und gähnte absichtlich, obwohl er gar nicht mehr müde war.
„Ja gut“, sagte Kemal und rollte sich auf die Seite. Seine ruhigen Atemzüge verrieten Manolis bald, dass er eingeschlafen war. Auf seinem Bauch lag die Hundeschnauze. Manolis beneidete Kemal um seinen Schlaf. Wie selbstsicher er war und wie vernünftig. Er selbst dagegen war so kindisch. Manolis konnte nicht wissen, dass ein hartes Leben Kemal eine unbeschwerte Kindheit vorenthalten hatte.
Der Morgen war kühl. Manolis hatte nicht geschlafen. Er stand auf und reckte sich. Der Hund hob sofort den Kopf. Manolis lächelte ihm zu, als verstünde der Hund. Beruhigend war es, diese beiden Begleiter zu haben. Manolis wäre jetzt nicht gern allein gewesen. Er rüttelte Kemal an der Schulter. „Wach auf!“
Der war sofort wach, genau wie sein Hund. Er lächelte überlegen. „Gehen wir erst, oder essen wir erst?“
„Erst essen“, sagte Manolis.
Der Hund hockte vor Manolis, denn der warf ihm die besten Bissen zu. Kemal beobachtete die beiden. „Du behandelst deine Freunde gut, was?“
Irritiert sah Manolis auf. Dann lachte er verlegen. „Hast du schon überlegt, wie es weiter geht?“
Kemal nickte. „Wir gehen nach Hause. Zur dir nach Hause.“
Manolis schüttelte abwehrend den Kopf, aber Kemal achtete nicht auf ihn,. Er stopfte die Essensreste in seine Tasche und stand auf. Manolis blieb ihm eine Erwiderung schuldig. Ergeben folgte er Kemal. Erst, als sie die Maisfelder erreichten, bereute Manolis seine Folgsamkeit. Was würden seine Freunde aus dem Dorf sagen, wenn sie ihn in Begleitung eines türkischen Jungen sahen?
Kemal drehte sich zu ihm um. „Geh du jetzt voran, zeig mir dein Haus.“
Manolis zögerte, doch dann schämte er sich. Tapfer lächelnd schritt er neben Kemal quer über den Marktplatz. Als er sich dem väterlichen Hof näherte, ging er langsamer, das flaue Gefühl war wieder da. Er blieb am Zaun stehen und spähte vorsichtig in den Hof. „Hier ist es“, murmelte er.
Kemal sah sich prüfend um. „Gefällt mir gut. Sind deine Eltern nett?“
Manolis nickte stumm. Nett – ja. Aber heute? Da raste plötzlich ein braun-weiß geflecktes Etwas freudig bellend auf den Zaun zu und sprang an ihm hoch.
„Perikles!“ schrie Manolis überrascht. Er riss das Tor auf, und Perikles riss Manolis bei seiner stürmischen Begrüßung fast um. „Perikles, du bist ja wieder da!“ rief Manolis und knuffte ihn übermütig.
Kemals Hund stand schwanzwedelnd abseits, unbewegt Kemal. Er war fremd hier, seine Überlegenheit war einer unsicheren Erwartung gewichen. Da stand eine Frau neben Manolis und legte ihm die Hand auf den Scheitel. „Mein Junge“, sagte sie nur.
Manolis wurde dunkelrot. „Mama – ich dachte, ihr hättet – ich dachte, Perikles wäre – „
„Schon gut, du bist ja wieder da. Im Nachbardorf gibt es eine Hündin, die hat Perikles besucht.“ Die Mutter lächelte. „In einer solchen Angelegenheit bleibt ein Mann gern lange aus. – Doch wer sind denn die beiden?“ Sie wies auf Kemal und den kleinen Hund.
„Der Hund, der muss nun auch hier bleiben!“ stieß Manolis eifrig hervor.
Als hätte der verstanden, stolzierte er auf Perikles zu, und nach Hundeart beschnüffelten sie sich. Offensichtlich hatte Perikles dem anderen vorgeschlagen, sich gemeinsam das Gelände anzusehen. Die Hunde verschwanden im Hof. Manolis’ Mutter lächelte. „Perikles hat schon entschieden. Hoffentlich ist dein Vater nicht anderer Meinung. Und – wer ist das?“
Manolis sah Kemal an. Der starrte stumm auf seine nackten Zehen. „Das ist Kemal, mein Freund. Morgen spielen wir zusammen Fußball, nicht?“
Kemal sah von seinen Zehen hoch. In seinen ernsten Augen stand ein Glänzen, und ein schüchternes Lächeln machte seine Züge weich. „Arkadaschim“, flüsterte er in seiner Sprache. „Mein Freund.“ Dann macht er eine Kopfbewegung zum Haus hin und fragte leichthin: „Warum gehen wir nicht hinein?“
„Klar!“ rief Manolis, und sie liefen den Hunden hinterher.
Perikles war schon seit zwei Tagen verschwunden. Manolis war überzeugt, sie hatten ihn weggejagt, weil er zu viel fraß, zuviel bellte. Zu Hause war kein Platz mehr für seinen Hund, deswegen gab es auch für ihn dort keinen mehr. Zornige Entschlossenheit stand in seinem Gesicht. Er hatte den Weg gewählt, den nur wenige gingen, denn er endete weit oben bei den verlassenen Schafhürden. Manolis hockte sich auf einen Stein, kramte verdrossen in seiner Tasche und holte einen krümelig gewordenen Käsefladen hervor. Gedankenverloren biss er ein Stück ab, kaute und stellte sich vor, wie seine Eltern ihn vergeblich rufen und alles nach ihm absuchen würden. Geschieht denen recht, dachte er, denn Perikles ist wohl schon tot. Dabei rollten ihm Tränen über das Gesicht, ohne dass er es merkte.
„Warum heulst du denn?“
Manolis schreckte hoch. Vor ihm stand ein magerer Junge mit großen Augen in einem harten Gesicht. Seine Haut war dunkelbraun gebrannt. Manolis wusste sofort, dass er eines der Kinder türkischer Arbeiter war, die hinter den Tabakfeldern wohnten. Kein griechischer Junge, der etwas auf sich hielt, wechselte mit denen ein Wort. Manolis machte eine weit ausholende, verächtliche Geste, die er seinem Vater abgeguckt hatte und die besagen sollte, dass der andere sich entfernen möge. Der braune Knabe aber übersah diese Bewegung. Seine Blicke gingen forschend über das Gesicht des Jungen, der schnell und verlegen die Tränen abwischte, und er fragte: „Hast du dich verlaufen?“
Manolis warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Nein. Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!“
Doch der andere blieb unbeeindruckt. „Du hast geheult. Ich habe es gesehen.“
„Ich heule, wann ich will.“
Der türkische Junge lächelte dünn und setzte sich neben Manolis in den Sand. „Ich heiße Kemal. Und du?“
Manolis schwieg.
„Bist du aus dem Dorf?“
Wie hartnäckig und aufdringlich er ist! dachte Manolis erbost. „Ich rede nicht mit Türken.“
„Warum nicht?“
Manolis rutschte unbehaglich auf seinem Stein hin und her. Er wäre gern weitergegangen, aber vielleicht würde der Junge ihm folgen. „Ihr Türken habt viele Jahre unser Land unterjocht“, gab er altklug zur Antwort, doch Kemal bohrte nur seine schmutzigen Zehen in den Sand, dann wandte er sein Gesicht Manolis zu. „Du bist dumm. Merkst du nicht, dass ich dir helfen will? Sag schon, warum du heulst.“
Manolis senkte den Blick. Es machte ihn ärgerlich, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. „Ich heiße Manolis“, sagte er schließlich, und ich heule aus Wut – natürlich! Mein Hund ist weggelaufen, und ich suche ihn.“
„Wie sah er denn aus – dein Hund?“
„Braun war er mit weißen Flecken und einer weißen Schnauze. Er heißt Perikles.“
Kemal nickte. „Ja, da ist klar, so ein Hund – mochtest du ihn sehr gern? Ich meine, so wie einen sehr guten Freund?“
Manolis sah Kemal erstaunt an. Woher wusste der, dass es sich genauso verhielt? „Ja, er ist mein allerbester Freund.“
Kemal schwieg, dann meinte er zögernd: „So einen Hund, braun, weiß gefleckt, also den habe ich gesehen. Ja, bei unserer Hütte lief so einer herum.“ Kemal bemerkte Manolis’ hoffnungsvollen Blick. Er nickte bekräftigend. „Ja, ich möchte wetten, dass es dein Hund ist.“
Manolis sprang auf. „Dann lass uns doch mal nachsehen.“
Kemal zuckte die Achseln. „Können wir. Komm mit!“ Und schon wandte er sich um und lief voraus. Manolis stolperte hinterher. Er schämte sich, als er, hinter Kemal hertrottend, an den ärmlichen Lehmhäusern vorbeiging. Kemal führte ihn zu einem abseits gelegenen Schuppen und winkte Manolis. Der kam misstrauisch näher. Kemal öffnete die Tür, und heraus schoss ein wolliges, geflecktes Bündel. Braun-weiß, aber nicht Manolis’ Hund. Freudig aufgeregt sprang er an den Beinen der Jungen hoch. Wütend und enttäuscht schob Manolis den kleinen Hund mit einem leichten Stoß beiseite. „Das ist nicht mein Hund.“
„Ich weiß“, sagte Kemal und hob den kleinen Hund auf. „Doch sieh nur, wie niedlich er ist und was für hübsche Augen er hat.“
Manolis jedoch fühlte sich heimtückisch in das schmutzige Türkendorf gelockt. Giftig zischte er zurück: „Ein hässlicher Köter ist er und außerdem – ein Türkenhund!“
„Ich dachte, du magst Hunde.“ Kemals Stimme war plötzlich traurig, doch Manolis in seiner Verbitterung merkte es nicht. „Du wusstest es. Weshalb hast du mich hierher gelockt?“
Kemal sah Manolis verwundert an. „Ich dachte, wenn dein Hund fort ist, schenke ich dir eben einen anderen. Und der hier – „ er kraulte ihn zärtlich hinter dem Ohr, „der ist doch wirklich lieb. Und stark wird er auch mal, du wirst sehen.“
„Ich will keinen anderen Hund, behalte deinen Bastard!“ Manolis wandte sich heftig ab und rannte die Gasse zurück. Als er sich umdrehte, sah er, dass Kemal und der Hund ihm folgten. Er ging langsamer. „Wohin willst du jetzt?“ schrie Kemal. Er holte ihn ein. „Sei mir nicht böse, ich habe es gut gemeint. Soll ich dir helfen, deinen Hund zu suchen?“
Manolis schüttelte den Kopf und schwieg. Der kleine Hund lief ihm schwanzwedelnd voraus. „Wohin gehst du jetzt?“ fragte Kemal.
„In die Berge.“
„Ist dein Hund da oben?“
„Nein, ich glaube nicht.“ Zögernd rückte Manolis mit der Wahrheit heraus, dass er fortgelaufen war, weil er glaubte, dass sein Hund nicht mehr lebte. Kemal sah ihn ernst von der Seite an. Plötzlich drehte er sich um und rannte zurück. Der kleine Hund zögerte kurz, dann flitzte er Kemal hinterher.
Manolis sah den beiden nach und dann hinauf zu den schroffen Hängen, die sich in der Dämmerung dunkel vom verblassenden Himmel abhoben. Er fluchte leise. Jetzt hätte er schon oben sein können bei den Schafhürden und schlafen. Stattdessen lief er durch die Straßen der Türken, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Nein, auch nicht mit ihren Hunden!
Da lief das wuschelige Bündel plötzlich vor seine Füße. Manolis sah sich um. Kemal schlenderte lächelnd heran. Seine Hände steckten im Bund seiner geflickten, kurzen Hosen, von seiner Schulter hing eine große, schwere Tasche.
Manolis blieb stehen. „Hör zu, Kemal – „ zum ersten Mal nannte er ihn bei seinem Namen – „ich will allein gehen.“
„Allein ist nicht gut, oben ist es einsam. Essen gibt es auch nicht.“ Er wies auf seine Tasche und grinste. „Hier drin ist alles, was wir brauchen.“
Manolis fühlte einen leichten Druck im Magen. Was wollte der fremde Junge? In seiner Unsicherheit erwiderte er trotzig: „Ich nehme nichts von Türken. Gib es deinem Hund!“
Kemal pfiff diesen zu sich und warf ihm einen Brocken zu. „Wenn der Hunger kommt, wirst du essen“, stellte er fest und setzte gelassen den Weg fort, den Manolis nehmen musste, und jetzt war es Manolis, der Kemal und dem Hund folgte.
Fast unbemerkt war es Nacht geworden, das Lärmen der Zikaden verstummt. Kemal zog eine Taschenlampe aus seiner Tasche. Es zeigte sich, dass er den Weg gut kannte, denn er führte Manolis sicher bergan. Manolis überlegte, was er ohne Kemal getan hätte. An eine Taschenlampe hatte er nicht gedacht, auch seine Wegzehrung war kärglich gewesen. Er hatte seine Flucht von zu Hause erbärmlich geplant.
Als sie die Schafhürden erreichten, war Manolis müde, zerschlagen und wütend auf sich selbst. Er ließ sich zu Boden fallen und stellte sich schlafend. Kemal raschelte mit etwas. Der Duft von Weißbrot, Schafskäse und Oliven stieg Manolis in die Nase. Der Hund schmatzte. Manolis wollte sich missmutig auf die andere Seite wälzen, da schob sich eine Hand zu ihm hinüber, und ein Kanten Brot mit Schafskäse zerstörte seinen Stolz. Er packte zu und stopfte das Brot in sich hinein. Manolis meinte, Kemals zufriedenes Grinsen zu sehen, doch Kemal grinste nicht. Er wartete, bis Manolis aufgegessen hatte, dann fragte er mit ruhiger Stimme: „Was wirst du morgen tun?“
Manolis zuckte zusammen. Er hatte nicht die geringste Vorstellung vom Fortgang seiner Flucht. „Weiß noch nicht“, murmelte er.
„Du wirst wieder nach Hause gehen“, stellte Kemal fest.
„Willst du mir das vielleicht vorschreiben?“ brauste Manolis auf.
„Du wirst es tun, weil es so am besten ist“, kam es selbstsicher von Kemal.
„Was weißt denn du?“ Und nach einer Pause: „Du bist schließlich auch weggelaufen. Was sagen denn deine Eltern dazu?“
Kemal antwortete nicht sofort. „Sie vermissen mich nicht“, sagte er schließlich leise. „Wir sind viele zu Hause, weißt du. Es fällt nicht auf.“
Manolis horchte auf. Kemal hatte zum ersten Mal unsicher geklungen. Manolis konnte sich nicht vorstellen, dass man ihn daheim nicht vermissen könne. „Gibst du mir noch etwas?“ fragte er, und diesmal ging es ihm leicht über die Zunge. Sofort reichte ihm Kemal noch ein Stück Brot mit Käse und ein paar Oliven. Der kleine Hund rutschte schnüffelnd an Manolis heran, und der begann ihn abwesend zu kraulen. „Ich kann doch nicht zurück“, fuhr er zögernd fort, „sie werden furchtbar schimpfen.“
Kemal schüttelte den Kopf, doch Manolis konnte es nicht sehen. „Nein, sie werden sich freuen, dass du wieder da bist – du wirst sehen.“ Kemal schwieg, und Manolis kam es so vor, als säße Kemal ein Kloß im Hals. Manolis wurde nachdenklich, beinahe traurig. Schnell schob er den letzten Bissen in den Mund und dachte, wie behaglich es war, satt zu sein. Zu Hause wurde er das immer. Und Kemal? Er sah mager aus, und sie waren viele, hatte er gesagt. Doch Manolis mochte ihn nicht weiter fragen. „Wir wollen es überschlafen“, sagte er und gähnte absichtlich, obwohl er gar nicht mehr müde war.
„Ja gut“, sagte Kemal und rollte sich auf die Seite. Seine ruhigen Atemzüge verrieten Manolis bald, dass er eingeschlafen war. Auf seinem Bauch lag die Hundeschnauze. Manolis beneidete Kemal um seinen Schlaf. Wie selbstsicher er war und wie vernünftig. Er selbst dagegen war so kindisch. Manolis konnte nicht wissen, dass ein hartes Leben Kemal eine unbeschwerte Kindheit vorenthalten hatte.
Der Morgen war kühl. Manolis hatte nicht geschlafen. Er stand auf und reckte sich. Der Hund hob sofort den Kopf. Manolis lächelte ihm zu, als verstünde der Hund. Beruhigend war es, diese beiden Begleiter zu haben. Manolis wäre jetzt nicht gern allein gewesen. Er rüttelte Kemal an der Schulter. „Wach auf!“
Der war sofort wach, genau wie sein Hund. Er lächelte überlegen. „Gehen wir erst, oder essen wir erst?“
„Erst essen“, sagte Manolis.
Der Hund hockte vor Manolis, denn der warf ihm die besten Bissen zu. Kemal beobachtete die beiden. „Du behandelst deine Freunde gut, was?“
Irritiert sah Manolis auf. Dann lachte er verlegen. „Hast du schon überlegt, wie es weiter geht?“
Kemal nickte. „Wir gehen nach Hause. Zur dir nach Hause.“
Manolis schüttelte abwehrend den Kopf, aber Kemal achtete nicht auf ihn,. Er stopfte die Essensreste in seine Tasche und stand auf. Manolis blieb ihm eine Erwiderung schuldig. Ergeben folgte er Kemal. Erst, als sie die Maisfelder erreichten, bereute Manolis seine Folgsamkeit. Was würden seine Freunde aus dem Dorf sagen, wenn sie ihn in Begleitung eines türkischen Jungen sahen?
Kemal drehte sich zu ihm um. „Geh du jetzt voran, zeig mir dein Haus.“
Manolis zögerte, doch dann schämte er sich. Tapfer lächelnd schritt er neben Kemal quer über den Marktplatz. Als er sich dem väterlichen Hof näherte, ging er langsamer, das flaue Gefühl war wieder da. Er blieb am Zaun stehen und spähte vorsichtig in den Hof. „Hier ist es“, murmelte er.
Kemal sah sich prüfend um. „Gefällt mir gut. Sind deine Eltern nett?“
Manolis nickte stumm. Nett – ja. Aber heute? Da raste plötzlich ein braun-weiß geflecktes Etwas freudig bellend auf den Zaun zu und sprang an ihm hoch.
„Perikles!“ schrie Manolis überrascht. Er riss das Tor auf, und Perikles riss Manolis bei seiner stürmischen Begrüßung fast um. „Perikles, du bist ja wieder da!“ rief Manolis und knuffte ihn übermütig.
Kemals Hund stand schwanzwedelnd abseits, unbewegt Kemal. Er war fremd hier, seine Überlegenheit war einer unsicheren Erwartung gewichen. Da stand eine Frau neben Manolis und legte ihm die Hand auf den Scheitel. „Mein Junge“, sagte sie nur.
Manolis wurde dunkelrot. „Mama – ich dachte, ihr hättet – ich dachte, Perikles wäre – „
„Schon gut, du bist ja wieder da. Im Nachbardorf gibt es eine Hündin, die hat Perikles besucht.“ Die Mutter lächelte. „In einer solchen Angelegenheit bleibt ein Mann gern lange aus. – Doch wer sind denn die beiden?“ Sie wies auf Kemal und den kleinen Hund.
„Der Hund, der muss nun auch hier bleiben!“ stieß Manolis eifrig hervor.
Als hätte der verstanden, stolzierte er auf Perikles zu, und nach Hundeart beschnüffelten sie sich. Offensichtlich hatte Perikles dem anderen vorgeschlagen, sich gemeinsam das Gelände anzusehen. Die Hunde verschwanden im Hof. Manolis’ Mutter lächelte. „Perikles hat schon entschieden. Hoffentlich ist dein Vater nicht anderer Meinung. Und – wer ist das?“
Manolis sah Kemal an. Der starrte stumm auf seine nackten Zehen. „Das ist Kemal, mein Freund. Morgen spielen wir zusammen Fußball, nicht?“
Kemal sah von seinen Zehen hoch. In seinen ernsten Augen stand ein Glänzen, und ein schüchternes Lächeln machte seine Züge weich. „Arkadaschim“, flüsterte er in seiner Sprache. „Mein Freund.“ Dann macht er eine Kopfbewegung zum Haus hin und fragte leichthin: „Warum gehen wir nicht hinein?“
„Klar!“ rief Manolis, und sie liefen den Hunden hinterher.