Der goldene Käfig

Monika M.

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Der goldene Käfig



Lea rennt. Sie rennt, so schnell sie nur kann. Eben noch waren ihre Beine schwer wie Blei, doch jetzt scheinen sie kaum den Boden zu berühren. Lea weiß, sie muss schnell sein, sonst wird Helmut sie einholen. Wenn ihm das gelingt, dann ist alles vorbei!
Heute morgen noch ist Lea ganz zufrieden aufgewacht. Sie liegt in ihrem weichen Himmelbett und Martha, das Hausmädchen, bringt ihr das Frühstück ans Bett. Sie räkelt sich genüsslich und streicht Marmelade auf ein angewärmtes Brötchen. Ja, sie hat ein herrliches Leben.
Sie muss nicht viel dafür tun. Helmut erwartet lediglich von ihr, dass sie gut aussieht, wenn seine Freunde kommen. Dass sie über seine Witze lacht, auch wenn die nicht gerade zum lachen sind. Dass sie charmant wirkt, und dass sie jedem klarmacht, zu wem sie gehört.
Als sie aufsteht und gerade überlegt, welches der Designerkostüme sie heute anziehen soll, hört sie Helmuts laute Stimme. Er schreit mit Martha herum. Vielleicht hat sie etwas fallen lassen oder stand ihm einfach im Weg.
Lea seufzt und sinkt auf den Sessel, der vor dem großen Spiegel steht. Helmut kann so entsetzlich laut sein. Doch nicht nur das, wenn ihn wirklich etwas ärgert, dann verliert er oft seine Beherrschung. Unwillkürlich fährt Lea an ihr linkes Auge. Aber da ist seit ein paar Tagen nichts mehr zu sehen.
Lea muss oft mit Sonnenbrille herum laufen, auch wenn es draußen regnet. Helmut kann wirklich sehr unbeherrscht sein. Sie zuckt zusammen, als sie seine Schritte vor ihrem Zimmer hört. Er stampft regelrecht auf den Boden, so aufgeregt ist er.
Sie hält den Atem an, drückt sich noch tiefer in den Sessel. Sie ist immer noch nicht angezogen, wenn er herein kommt und sie im Nachthemd sieht, wird er sauer sein. Er kann es nicht leiden, wenn sie morgens trödelt, es gemütlich angehen lässt. Er kann so vieles nicht leiden, was sie macht.
Ach ja, sie hat ein herrliches Leben. Sie hat alles, was man sich nur wünschen kann. Ein nagelneues Cabrio, teure Designerklamotten, unzähligen Schmuck. Wenn sie will, bekommt sie alles von ihm.
Doch eigentlich will Lea diesen ganzen Kram nicht. Wenn sie es genau nimmt, dann will sie nur etwas Ruhe in ihrem Leben. Es wäre wundervoll, wenn sie nicht immer zusammen zucken müsste, weil seine Stimme mal wieder anschwillt. Wenn sie nicht immer aufpassen müsste, was sie sagt und wie sie sich bewegt. Helmut hasst es, wenn sie ungeschickt ist oder unaufmerksam.
Ach ja, sie hat ein gutes Leben. Materiell gesehen hat sie wirklich alles, aber ist das wirklich das Wichtigste! Lea sehnt sich manchmal nach etwas Wärme, nach einer Umarmung, die niemanden beeindrucken soll. Nach einem Kuss, der ganz ohne Berechnung gegeben wird. Für ihn ist sie nicht Lea, für ihn ist sie ein Gegenstand, den man besitzt, so wie die Luxusschlitten, die in seiner Garage stehen.
Ein gutes Leben? In diesem Augenblick fasst Lea einen folgenschweren Entschluss. Sie hat es satt! Sie will nicht länger zusammenzucken, wenn sie seine Stimme laut werden hört. Sie will nicht länger ängstlich verharren, wenn sie seine Schritte hört. Sie will leben – ohne ihn!
An diesem Morgen zieht Lea ein sehr altes Kostüm an. Eigentlich hätte sie es schon längst wegwerfen sollen. Aber irgendetwas hat sie davon abgehalten.
Den kleinen Koffer zu packen ist nicht schwer. Sie nimmt nur Sachen, die sie schon sehr lange besitzt. Sachen, die nicht von Helmut stammen. Der Koffer ist ziemlich leicht. Doch dann entschließt sie sich, doch noch eine Kette und zwei Ringe mitzunehmen. Schließlich hat sie genug unter ihm gelitten. Die Sonnenbrille zerbricht sie. Die will sie nie wieder tragen.
Als Lea den Koffer neben die Tür stellt, weiß sie, das nun das Schwerste kommt. Sie könnte auch einfach so gehen, könnte leise verschwinden, vielleicht einen kurzen Brief hinterlassen. Ich halte es nicht mehr aus, ich gehe, Lea.
Aber nein, es muss ein endgültiger Abschied sein. Sie muss diesen goldenen Käfig ein für alle mal hinter sich lassen. Es darf keine Möglichkeit zur Rückkehr mehr geben, sonst wird sie womöglich eines Tages schwach werden. Sie will sich beweisen, dass sie keine Angst mehr vor ihm hat.
Helmut steht an der Bar und trinkt einen Cognac. Das wird ein schwerer Tag für Martha. Wenn er schon morgens trinkt, dann ist er immer sehr aufbrausend. Ein schwerer Tag, aber nicht mehr für sie.
Lea merkt, dass sie unwillkürlich sehr gerade steht. Das sich ihre Hände zusammenkrampfen. Das ihr die Brust vor Angst wehtut. Doch sie bleibt stehen, wo sie steht und wartet darauf, dass er sie bemerkt.
„Gehst du einkaufen?“, fragt er schließlich und schaut ärgerlich auf ihre Erscheinung. „Gehst mal wieder mein Geld verpulvern. Ist auch nötig, wenn du so etwas anziehen musst!“
„Ich gehe, ja“, sagt Lea so ruhig wie möglich. Zittert ihre Stimme etwa? Sie meint es doch ernst, sie will dieses herrliche Leben nicht mehr. „Ich gehe!“
Helmut scheint plötzlich zu verstehen. Er lacht laut auf. „Gehen, nur zu!“, schreit er und wirft das halbvolle Glas achtlos auf den Boden vor sich. „Du kommst ja doch wieder angekrochen!“
In Lea schnürt sich alles zu. Es wird nicht leicht für sie sein, das weiß sie selber. Doch mit dem bisschen Schmuck kommt sie erst einmal über die Runden und dann...
„Alles ist besser, als das hier“, meint sie leise.
Er sieht sie böse an. Seine Augen werden ganz schmal. Langsam, ganz langsam kommt er näher. „So, meinst du“, zischt er und da sieht Lea die Mordlust in seinem Blick.
Es war doch klar, er würde sie nicht einfach so gehen lassen. Ein Prestigegegenstand, der einfach abhaut, nein, nicht mit ihm!
Lea dreht sich um und beginnt zu rennen. Sie weiß genau, dass sie jetzt schnell sein muss. Einen Herzschlag lang zögert sie, sie könnte jetzt auch die Treppe hinauf rennen und sich in ihrem Zimmer einsperren. In ein paar Stunden vielleicht wäre seine Wut abgeklungen, und nach ein paar Ohrfeigen wieder alles in Ordnung. Sie könnte weitermachen wie bisher.
Doch Lea schüttelt diesen Gedanken ab, schüttelt alles ab, was mit diesem goldenen Gefängnis zu tun hat. Es ist ihr einmal wie das Paradies erschienen, früher, als Helmut sich noch Mühe gab ihr zu gefallen. Jetzt ist es nur noch eine Hölle. Und die will sie endgültig hinter sich lassen.
Lea rennt und rennt, so schnell sie ihre Beine tragen. Sie kann seine wütende Stimme hinter sich hören. Er schreit wilde Beschimpfungen, Scherben klirren und irgendetwas Schweres knallt auf den Boden. Jetzt schreit sie selber auf und hält sich im Laufen die Ohren zu. Dann endlich sitzt sie in ihrem Auto, dem Cabrio, das er ihr erst letztes Jahr geschenkt hat, und fährt mit quietschenden Reifen davon. Sie schaut nicht in den Rückspiegel, sie will nie wieder zurück schauen.
Das Auto wird sie irgendwo abstellen und ihm den Schlüssel zuschicken. Sie wird keine Spuren hinterlassen, er wird sie nie finden. Lea atmet auf. Sie hat es geschafft.
 



 
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