Der große Leuchtturm und die kleine Boje

eisfisch

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Der große Leuchtturm und die kleine Boje

(Gedanken zu einem Bild 3)

Wer den täglichen Wetterbericht im Fernsehen sieht, hat ihn sicher schon oft wahrgenommen – den Leuchtturm von Hiddensee. Während die Kachelmänner der verschiedenen Sendeanstalten ihre Vorhersagen ins Mikrofon sprechen, ragt hinter ihnen der altehrwürdige Leuchtturm in den Himmel und schickt je nach Tageszeit sein helfendes Licht auf die offene See.

Und wer genauer hingeschaut hat, konnte an manchen Tagen erkennen, dass der Leuchtturm selbst bei Tageslicht ein kurzes Blinken auf die Reise geschickt hatte, scheinbar zufällig und ohne jeden Anlass. Inzwischen bleibt dieses Blinken aus. Die Techniker vom Fernsehen waren sich sicher, dass sie gemeinsam mit dem neuen Leuchtturmverwalter den technischen Defekt behoben hatten, der dieses kurzzeitige Blinken ausgelöst hatte. Aber sie wussten eigentlich nicht genau, wo der Fehler denn nun gelegen hatte. Es war ihnen auch egal, der Leuchtturm funktionierte schließlich wieder und tat das, was er tun sollte.
Hätte man den alten Leuchtturmwärter nicht vorzeitig in den Ruhestand versetzt, hätte dieser besser gewusst, was mit dem Leuchtturm los gewesen war. Er hätte an die vielen alten Geschichten gedacht, die man sich vom Leuchtturm erzählte. Und mit einem Blick auf das offene Meer hätte er erkannt, was das Blinken zu bedeuten hatte...

Nicht weit von der Küste der Insel entfernt wurde einige Monate zuvor eine kleine Boje zu Wasser gelassen. Eine plötzlich entdeckte Untiefe hatte erfordert, die Führung des Fahrwassers etwas zu korrigieren. Da dies alles sehr schnell geschehen musste, nahm man einfach eine alte Boje aus dem Lager, um sie an der vorgesehenen Stelle ins Wasser zu setzen und am Meeresgrund zu verankern. Diese Boje nun war nicht irgendeine Boje! Sie hatte schon viele Jahre an den verschiedensten Stellen des Meeres den Schiffen ihren Weg gewiesen und dabei zahlreiche Stürme, eisige Winter und heiße Sommer auf dem Meer erlebt. Wie freute sich die Boje, dass sie ihren Lebensabend jetzt doch nicht in der dunklen Ecke eines Bojenschuppens verbringen würde!

In der ersten Nacht auf dem Meer sah die Boje den nahe gelegenen Leuchtturm mit altehrwürdiger Routine seine Lichtsignale auf die See hinaus schicken. Die kleine Boje hatte in all ihren Jahren noch nie einen Leuchtturm von so Nahem gesehen! Eifrig versuchte sie, den Leuchtturm mit ihrem Blinken auf sich aufmerksam zu machen. Es dauerte nicht lange, und der Leuchtturm antwortete ihr. Er hatte ewige Zeiten stur vor sich hingeleuchtet, nur damit die Schiffe wussten, wo er ist und sich damit ausrechnen konnten, wo sie sich selbst befanden. Und so dauerte es eine Weile, bis der Leuchtturm es hinbekam, eine gemeinsame Sprache mit der kleinen Boje zu finden. Aber dann gab es kein Halten mehr! Nacht für Nacht blinkten sich beide gegenseitig ihre Geschichten zu, erzählten sie sich von stürmischen Nächten, von großen Schiffen und vom Klang der Nebelhörner.
Der neue Leuchtturmverwalter bemerkte zwar ab und an ein kurzes unruhiges Flackern des Turmlichtes. Aber er machte sich keine Gedanken darüber, Hauptsache, der Lichtkegel drehte seine gewohnten Kreise.

Eines Tages spürte die kleine Boje, dass sie wohl nicht mehr allzu lange ihren Dienst tun würde. Die Untiefe verschwand so nach und nach auf die gleiche unerklärliche Weise, wie sie entstanden war. Außerdem konnte die frisch aufgetragene Farbe nicht verhindern, dass sich tief unter ihr der Rost durch das Gerüst der Boje fraß. Die Zeit forderte unnachsichtig ihren Tribut.
Und so fasste die kleine Boje einen Entschluss: In der Zeit, die ihr noch blieb, wollte sie sich auf den Weg zum Leuchtturm machen, wollte sie ihm einmal noch so nahe sein, wie es keine andere Boje vor ihr gewesen war.
Gesagt getan, beständig zog sie an ihrer Verankerung, die ja ohnehin in Bewegung war. Jeden Windstoß, jede Strömung nutzte sie aus, um sich Zentimeter für Zentimeter auf die Küste zuzubewegen, dorthin wo der Leuchtturm stand. Der Leuchtturm ahnte nichts vom Vorhaben der Boje, sie wollte ihn damit überraschen.
Aber nach einiger Zeit merkte die Boje, dass sie es von allein nicht schaffen würde. Sie wusste nicht, wie sie sich noch helfen konnte und verfiel in Schwermut. Plötzlich erhob sich ein Sturm, und starke, hohe Wellen kamen auf. Die Boje wusste, das war ihre letzte Chance! Sie zog mit aller Kraft an ihrer Verankerung und schaffte es tatsächlich, sich vom Meeresgrund zu lösen. Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte sie sich in die Wellen, die sie unaufhaltsam zur Küste trugen. Und wirklich, eine letzte, besonders hohe Welle spülte sie mit solcher Macht an den Strand, dass die Boje noch ein gutes Stück strandauf, in Richtung des Leuchtturmes rollte.

Die kleine Boje fühlte, dass ihr letzter Moment gekommen war, ihre ganze Kraft hatte sie in den Weg hierher gelegt. Aber es war ein glücklicher Moment. Sie konnte hoch über sich den Leuchtturm sehen und mit dem allerletzten Aufbäumen sandte sie ihm ein Lichtsignal, blinkte sie ihm zu, sie wäre jetzt hier, bei ihm. Und kurz bevor die kleine Boje nur noch ein Haufen vor sich hinrostendes Metall war, nahm sie wahr, wie der Leuchtturm zurückblinkte, voller Überraschung, voller Freude und zugleich voller Wehmut...

Die Touristen, die Wochen später die verrosteten Überreste der Boje fanden, schüttelten verärgert die Köpfe über diesen Fall der Strandverschmutzung. Sie fotografierten die Boje, um sie der Inselverwaltung als Beweis für die Schluderei vorzulegen.
Als sie aber das Foto in der Hand hielten, konnten sie sich irgendwie des seltsamen Eindrucks nicht erwehren, als würde die verrostete Boje dahin gehören, wo sie lag. Wie auch immer, sie beschwerten sich nicht und behielten das Foto. Denn immerhin war auf ihm auch der Leuchtturm zu sehen, groß und majestätisch. Und er schien sogar zu blinken, mitten am Tag...
 



 
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