Der kleine Laden

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Dornrose

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Pflichtbewusst wie jeden Tag stand sie sofort auf, als der Wecker klingelte. Sie zog die Pantoffeln an, die sie am Vorabend sorgsam unters Bett gestellt hatte und den Bademantel, der am Fußende lag und ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein. Nur die Handgriffe in der Küche fielen ihr nicht so leicht wie sonst.

Im Badezimmer betrachtete sie sich im Spiegel, in den sie seit mehr als fünfzig Jahren blickte. Er hatte die Falten gesehen, die sich nach und nach in ihr Gesicht geschlichen hatten und auch die grauen Haare, die anfangs leicht ihr dunkelblondes Haar durchzogen und mit den Jahren immer mehr geworden waren.

Sie wusch sich, kämmte das Haar und zog den geblümten Kittel über. Als sie die Küche wieder betrat, war der Kaffee bereits durch die Maschine gelaufen. Die halb gefüllte Kaffeekanne nahm sie mit zum Küchentisch, den sie bereits am Abend zuvor gedeckt hatte. Sie schenkte den Kaffee ein, holte aus dem Kühlschrank Butter und Marmelade und aus dem Brotschrank zwei Scheiben Schwarzbrot.

Während sie an dem schwarzen Kaffee nippte, dachte sie wieder an den Brief, der alles änderte. Der Hauseigentümer hatte kurz und knapp mitgeteilt, man müsse ihr die Kündigung für das Ladenlokal mit der angrenzenden Wohnung aussprechen. Kein Wort des Bedauerns. Warum auch? Man hatte sie vor Monaten schon gebeten, den Laden zu räumen, um aus dem Ladenlokal ein Internetcafé machen zu können, das der Hauseigentümer plante, selbst zu führen. Die Kündigung war die letzte Maßnahme, als sie nicht freiwillig auszog.

In der kleinen Stadt kannte jeder sie als „Käthchen“. Nach dem Krieg hatte sie mit ihrem Mann den Lebensmittelladen eröffnet. Sie erinnerte sich noch gut, als sie eines Tages durch den Ort ging, entlang an Mauerresten von zerbombten Häusern und plötzlich das Haus mit dem Laden entdeckte, das nicht völlig zerstört war. In den Anfangsjahren war es sehr beschwerlich, Käthchen und ihr Mann verdienten nur wenig, aber mit den Jahren wurde es besser.

Als eines Tages der Supermarkt in unmittelbarer Nähe gebaut wurde, verschwand gleichzeitig ein großer Teil der Kundschaft. Übrig blieben die alten Leute, die auf die persönliche Bedienung bei Käthchen nicht verzichten wollten. Das war bis heute so geblieben, aber Käthchen hatte sich einiges einfallen lassen müssen, um die Kunden halten zu können. So beschäftigte sie seit Jahren stundenweise Teenager, die sich ein Taschengeld verdienen wollten und die Einkäufe den älteren Leute nach Hause brachten. Den Service wussten ihre Kunden sehr zu schätzen. Viel verdienten Käthe und ihr Mann nicht mit dem Laden, aber zum Leben reichte es gerade. Wichtiger war den beiden die Unabhängigkeit und eine Tätigkeit, die ihnen Spaß machte und ihrem Leben einen Sinn gab.

Kätchen war schon seit fünfzehn Jahren Witwe. Ihr Mann war plötzlich von ihr gegangen. Eine schwere Zeit war es damals, aber mit der Zeit war auch dieser Schmerz vergangen und die Erinnerung geblieben. Den Laden führte sie weiter und wäre niemals auf die Idee gekommen, ihn aus Altersgründen aufzugeben. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Für Hobbys war in ihrem Leben nie Zeit gewesen.

Die alte Dame schenkte sich einen zweiten Kaffee ein. Ihre 75 Jahre spürte sie an diesem Tag mehr als deutlich und vor allem wurde ihr schwer ums Herz bei dem Gedanken, dass sie die letzten Stunden hier verbrachte. Kinder gab es nicht und auch keine Verwandten, die sie hätten aufnehmen können und so blieb nichts anderes übrig, als ein Doppelzimmer im Seniorenheim zu beziehen. Wie Kinder zusammengelegt in einen Raum, und das auch noch mit einer völlig fremden Person.

Gedankenverloren saß sie nun in ihrer Küche und wischte ein paar Brotkrümel mit der Hand vom Tisch. Ein Teil der Möbel war bereits am Vortag abgeholt worden. Ihr Geschäft hatte vor einem Monat schon geschlossen und war völlig leer. Sie erhob sich von dem Stuhl, schlurfte durch die Räume und blickte sich überall um. Hier war ihr Zuhause. Warum konnte man sie nicht hier wohnen und ihre letzten Jahre glücklich sein lassen?

Sie fühlte sich schrecklich müde. Müde gearbeitet und vom Leben müde geworden, müde der vielen Schicksalsschläge, die sie hatte erleben müssen. Scheinbar gab es nichts mehr, auf das sie sich freuen konnte. Vielleicht war die Dame nett, mit der sie künftig ein Zimmer würde teilen müssen. Vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall konnte sie direkt sagen, dass sie diese Art der Unterbringung nie gewollt hatte. Ihr Leben war nur noch mit Sorgen und anscheinend unlösbaren Problemen behaftet. Und es gab niemanden, mit dem sie hätte reden könne. Niemand, der sie verstand. Die jungen Nachbarn redeten ihr allesamt gut zu: Sie würde sich wohlfühlen in dem Heim, hätte endlich Zeit für sich selbst. Keine Hausarbeit mehr und die Rückenschmerzen würden bestimmt auch verschwinden, wenn sie nicht mehr so lange stehen müsse, so sagten sie. Gut reden konnten sie, aber sie waren ja auch selbst nicht so alt und mussten ihr liebgewonnenes Heim nicht verlassen.

So vergingen die frühen Morgenstunden des Tages. Die Sonne bahnte sich langsam einen Weg durch die Wolkendecke und schien durch die Fenster.

Nachdem Möbelpacker und Nachbarn mehrfach an ihrer Türe geklingelt hatten, ohne, dass die alte Dame öffnete, wurde sie mit dem Zweitschlüssel, den sie bei einer Nachbarin für Notfälle hinterlegt hatte, geöffnet.

In der Küche stand noch das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch. Auf einem Stuhl stand ein offener Karton mit Fotos und auch auf dem Tisch lagen Fotos verteilt, die Käthchens ganzes Leben dokumentierten. Die Eltern und Geschwister, die Schwiegereltern, die Hochzeit von Kätchen und ihrem Mann, Aufnahmen aus dem Lädchen, Aufnahmen aus jüngeren Jahren von Unternehmungen und es gab auch Fotos von den letzten Jahren.

Die alte Dame musste sich noch einmal aufs Bett gelegt haben. Ihr Gesicht strahlte Zufriedenheit und Ruhe aus, als hätten sich die Dinge nun doch noch zum Guten umgekehrt.
 

Josef Knecht

Mitglied
Hallo Dornrose,
deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen und war auch durchaus spannend, weil man gegen Ende der Geschichte spürt, das die alte Damen nie ins Seniorenheit wechseln wird. Was nun mit der Dame genau passiert erzählst du leider nicht, ich vermute, dass sie Selbstmord begangen hat. Du hast auf jeden Fall positive Emotionen bei mir geweckt und Spannung erzeugt.
Eine schöne Geschichte.
Liebe Grüße
Josef
 

Dornrose

Mitglied
Das gebrochene Herzchen

Hallo Josef,

vielen Dank für deine positive Reaktion sowie auch die kritische Anmerkung bzgl. des Endes. Ob die Dame denn nun an gebrochenem Herzen starb oder Selbstmord beging, habe ich absichtlich offen gelassen. Es ist beides möglich. Und manche Geschichten - so dachte ich jedenfalls - kann man sich selbst zuende denken. Ob das hier die beste Lösung ist? Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es noch andere Reaktionen, damit ich mich sicher fühlen darf mit meinem Schluss?

Herzliche Grüße

Dagmar
 



 
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