Der letzte Atemzug der Wüstenkinder

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San Martin

Mitglied
Der letzte Atemzug der Wüstenkinder


Der Wüste ist die Gnade eines Horizonts nicht gegeben. Es gibt keine klare Linie zwischen Himmel und Sand, nur eine wabernde, ewig flimmernde Mitte, in der die Luftgeister tanzen und Schemen formen: Berge, Meere, Festungen, Oasen, und keine von ihnen ist fassbar. Würde ein Durstender auf sie zuschreiten, wichen sie für jeden seiner Schritte einen Schritt zurück, solange, bis der Sand den Durstigen besiegt.

Unter mir atmet der Sand und wartet. Er wartet auf unsere Knochen, wartet auf unser Blut, welches Er gierig aufsaugen und nimmermehr preisgeben wird. Er wartet und atmet leise. Und bewegt sich langsam, zu langsam für das Auge. Starr Ihn an, und Er scheint leblos. Fall in einen unruhigen Schlaf, und beim Aufschrecken wirst du Ihn ertappen, wie Er sich heimtückisch angeschlichen hat.

Hinter mir liegt unsere letzte Stadt, die letzte Zuflucht der Wüstenkinder. Unter der Höhe meines Wachturms liegen die ärmlichen Hütten in der Sonne und schweigen. Auch wir warten. Nur ein schwaches, erbärmliches Abbild unseres einst großen Volkes ist geblieben. Längst haben uns die Rotgewandten aus den heiligen Stätten im Norden vertrieben. Wer ihnen nicht zum Opfer gefallen ist oder vom Sand besiegt wurde, hat sich hierhin geschleppt. Die Stadt ohne Namen. Eine Stadt so alt, dass ihr Name vor Äonen vergessen wurde. Die Toten gehen in ihren uralten Mauern um, heißt es. Ein Fluch laste auf ihr, heißt es. Ihre Brunnen seien ausgetrocknet, heißt es. Das letztere ist wahr. Das andere wird bald wahr sein. Wir haben uns hierher zurückgezogen, nachdem die Rotgewandten über uns herfielen und nach und nach alles zerstörten, was wir besaßen. Sie kamen aus dem Westen, sagten einige. Sie seien mit brennenden Augen vom Himmel gestiegen, sagten andere.

Wir hofften, sie würden uns nicht ins Herz der Wüste folgen, nicht bis zur namenlosen Stadt. Sie kannten die Wüste nicht so gut wie wir; ihre Kamele waren klein und schwach, ihre Haut seltsam bleich. Wir wähnten uns außerhalb ihres Griffes, doch dann entdeckten sie die sichelförmige Oase. Mit ihrer Hilfe konnten sie den Ritt durch den Sand bewältigen ohne von Ihm besiegt zu werden. Ihre Schläuche fassten gerade genug Wasser, um uns aufzuspüren und uns den Todesstoß zu geben. Vor einer Woche überfielen sie die Oase und metzelten die Wachen nieder. Nur ein Junge, noch bartlos und schwer verwundet, konnte fliehen.

Sie haben sich gesammelt, wie die Wüste selbst, um über uns hereinzubrechen. Unser ist die Vergangenheit; die Zukunft gehört dem Sand. Die Rotgewandten werden uns in den Schlund der Wüste folgen; sie wissen es nur noch nicht. Gestern sind alle verbliebenen Männer aufgebrochen, alle, die stark genug für die letzte Reise waren. Auf einem Bogen umreiten sie das anrückende Heer, das wie Blutstropfen über die Dünenkämme perlt. Mögen die Roten die namenlose Stadt erreichen. Mögen sie durch die Tore preschen und Greise, Frauen und Kinder abschlachten. Mögen sie wie Schakale durch die Straßen streifen und auch den letzten Flüchtling erschlagen. Mögen sie stolz und lachend zu den Brunnen schreiten um ihre Schläuche zu füllen, und mögen sie ihre feurigen Augen aufreißen, wenn sie in die dunklen, ausgetrockneten Schlünde hinabschauen.

Sie werden hastig aufbrechen und zurück in den Schoß der Wüste reiten, während hinter ihnen die Geier sich sammeln und unsere verstümmelten, zertretenen Leiber kosten. Sie werden eilig reiten und an die Oase denken, an das lebensspendende Wasser, an die belebende Kühle. Sie werden nur einen fauligen Tümpel finden, in dem verrottendes Aas schwimmt, und jene von ihnen, die so töricht sind, von dem schlechten Wasser zu trinken, werden sterben neben jenen, die elendig verdursten, und werden sterben neben jenen, die sich gegenseitig niedermetzeln für einen letzten Tropfen Wasser. Wenn wir in den Schlund der Wüste gehen müssen, dann nehmen wir die Rotgewandten bei der Hand und gehen mit ihnen.

Jene unserer Männer aber, die eine Klinge in die Brust der Oase gestoßen haben, werden dem versiegten Flusslauf nach Osten folgen und sich wie Asche in alle Winde verstreuen. Keiner von ihnen wird sich wieder eine Frau nehmen, und unser Volk wird langsam in die Legenden und Mythen einsickern, bis wir selbst zu den Schemen gehören, den Schemen zwischen Himmel und Sand.

Ewig wabernd. Ewig flimmernd.
 

Jarolep

Mitglied
Schaurig-schön!!!
Eine Stelle bleibt mir rätselhaft: die Männer haben also ihre namenlose Stadt verlassen, Frauen, Kinder und Greise ihrem Schicksal übergeben, das anrückende Heer umritten und in die Wüste aufgebrochen, wohlwissend, dass es Selbstmord ist? Stimmt es so?
1. Warum versuchen sie nicht, die Stadt zu verteidigen und dabei ehrenvoll zu sterben? Um die Feinde tiefer in die Wüste zu locken?
2. Warum umreiten sie dann das Heer (liest sich für mich, als wollten sie unbemerkt bleiben)?
Hier stolpere ich ein wenig.
Und trotzdem:

Danke für den gelungenen Text!
 

San Martin

Mitglied
die Männer haben also ihre namenlose Stadt verlassen [...] wohlwissend, dass es Selbstmord ist? Stimmt es so?
Die reitenden Männer überleben ja; nur die Zurückgebliebenen sterben. In gewissem Sinne begeht das Volk der "Wüstenkinder" Selbstmord, aber sie nehmen auf diese Weise die Rotgewandten mit in den Tod. Wenn sie versucht hätten, durch Kämpfen ihre Stadt zu verteidigen, wären sie bezwungen worden und viele Rotgewandte hätten überlebt. Im direkten Kampf wären sie hilflos unterlegen. Tiefer in die Wüste können auch die Wüstenkindern nicht gehen: dort gibt es nur noch Sand, und den fürchten selbst die Kinder der Wüste. Sie sehen den Sand als eine böse Gottheit an, was durch das kapitalisierte "Er" gekennzeichnet wird.
Sie umreiten das Heer, damit sie die Chance haben, die Verbindungsoase zu vergiften. Dazu müssen sie natürlich unbemerkt von den Rotgewandten vorgehen.
Beantwortet das deine Fragen, Jarolep?
 

majissa

Mitglied
Lieber San Martin,

die Einleitung war mir fast zu langatmig; dann gings gerade rechtzeitig spannend weiter mit einer etwas behäbigen Sprache, die allerdings einen eigentümlichen Sog aufbaute, dem ich mich bis zum Ende nicht mehr entziehen konnte. Das "behäbig" will ich nicht falsch verstanden wissen. Die Sprache passt zum (philosophischen) Thema. Mir gefällts. Beeindruckend fand ich, wie du den Plan, die Oase zu vergiften, beschrieben hast, ohne den Leser gleich mit der Nase draufzustoßen. Und am Ende wirds melancholisch, ohne weinerlich zu wirken. Das ist gut gelungen!

LG
Majissa
 

San Martin

Mitglied
Dankeschön, Majissa. Gut zu wissen, dass die etwas altertümliche Sprache dann doch noch zur Atmosphäre beigetragen hat.

Liebe Grüße, Martin.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also,

bei dem text bleibt mir glatt die spucke weg. das is ne glatte 10 und n ehrenplatz in meiner sammlung "Lupengold".
lg
 

San Martin

Mitglied
Dankeschön, flammarion. :) Das mit dem Lupengold sollte ich wohl auch mal anfangen... du hast Recht, die Leselupe hat viel zu bieten.
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo San Martin,

ein sehr schöner, traurig-melancholischer, sprachperfekter Text mit einem übersichtlichen, logischen Aufbau. Der fehlende historische Bezug stört nicht, der Leser hat die Freiheit, ihn mit eigenem konkreten Wissen herzustellen.
Ich bin gespannt auf Deine weiteren Texte.

Liebe Grüße

P.
 

San Martin

Mitglied
Dankeschön für die netten Worte. Einen historischen BEzug gibt es nicht; allerdings musste ich nach dem Schreiben der Geschichte feststellen, dass die englischen Soldaten früher rote Uniformen trugen. Ob das zu Fehlschlüssen führen könnte? Es ist beinahe lustig.
 



 
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