Der letzte Zug

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sesch nesut

Mitglied
Der letzte Zug

Beladen wie ein Packesel kämpfe ich mich durch die miefige Innenstadt Richtung Bahnhof.
Werkssirenen heulen. Ich bin nahe daran, es ihnen gleich zu tun.
Werde ich es wirklich schaffen?
Hastig schaue ich zur Uhr, 11:32 Uhr. Um 5 vor 12 geht mein Zug.
Nach ein paar Straßenecken stehe ich vorm Bahnhof. Ein schwefelgelbes Ungetüm aus Vorkriegstagen. Ich haste hinein. Jetzt noch ein Ticket kaufen und dann die lange Fahrt. Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt.
Am Schalter hat sich eine lange Schlange gebildet, doch es geht schnell.
Der Schalterbeamte schiebt mir das Ticket rüber: "Gleis 1".
Ich sehe ihn an. "Was macht es?"
"Nichts!", murmelt er lustlos, "dafür wird die Rückfahrt richtig teuer".
Ich würge ein "Aha" hervor, bevor ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.

Selten bin ich einer größeren Menschenmenge begegnet als hier. Dicht gedrängt stehen sie herum. Ich bahne mir den Weg zum Gleis.
"Du wirst mir fehlen, Heinz" schnappe ich auf, dann ein Rothaariger: "Noch kannst du mitfahren. Überleg’s dir!".
Ein Satz aus einem Kriminalroman fällt mir ein: Die wichtigsten Dinge im Leben muss ein Mann allein erledigen.
Ein Pfiff, der Zug fährt ein.
Ich trete meine Zigarette aus und kämpfe mich hinein.

Gerangel um einen Sitzplatz. Ich habe Glück und finde ein Abteil mit einem Paar und einem dünnen Mann darin. Ich quetsche mich neben ihn. Während ich meine Koffer mit der Ferse unter den Sitz schiebe, sende ich ein Dankgebet gen Himmel.
Ein weiterer Pfiff, die Fahrt beginnt. Ich habe Sodbrennen.
Warum kriege ich jetzt Sodbrennen? Wut steigt in mir auf. Als habe ich es nicht schwer genug.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Erstaunt sehe ich sie an.
Wie nutzlos mir plötzlich diese Hände erscheinen, fast fremd.
Um mich abzulenken taxiere ich das Paar gegenüber.
Er ist ein Fettsack. Sein Doppelkinn hängt über dem viel zu engen Kragen des durchschwitzten Hemdes.
Sie hat ein Frettchengesicht. Ihr Blick ist huschig und ständig nagt sie an ihrer Unterlippe.
Der Mann neben mir starrt aus dem Fenster. Ich ahne, dass er nicht ansatzweise wahrnimmt, was dort draußen vorüberzieht. Ich folge seinem Blick und sehe in der Scheibe jemanden, der ich ist und doch ein anderer. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Das dunkle Haar, das über die etwas zu groß geratenen Ohren fällt, der sensible Mund... und doch. Das Gesicht ist bleich und die Augen weit aufgerissen.
Als das Frettchen beginnt, sich die Fingernägel abzukauen, greife ich zum Buch in meiner Jackentasche.
'16 Uhr 50 ab Paddington'. Hoffentlich bewahrt es mich vorm Durchdrehen.
Bevor ich es aufschlagen kann, öffnet sich die Tür. Ein Schaffner mit einem Bauchladen tritt herein. "Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmittel?", fragt er schmierig grinsend.
Der Dicke erwacht aus seinem Koma und starrt den Schaffner an. Wir alle starren ihn an.
Während der Dicke aufspringt und sich unter lautem Protest des Frettchens einen Schokoriegel kauft, springe ich zum Fenster und reiße es auf. Der eiskalte Zugwind scheint mir das Gesicht zu zerfetzen, während sich hinter mir ein Drama abspielt. Das Frettchen weint und zetert auf den Dicken ein und ohne mich umzudrehen weiß ich, dass kein Wort davon zu ihm dringt.
"Kommen Sie", sagt der dünne Mann und zieht mich am Pullover vom Fenster weg. "Sie haben doch wohl nicht diesen Zug genommen, um sich den Tod zu holen".
Wortlos lasse ich mich auf meinen Platz sinken.
Das Frettchen weint in ein Taschentuch. Der Dicke starrt wortlos ins Leere.
Ich verstehe sie. Oh Gott, wie sehr ich sie verstehe.

Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Der Schaffner von vorhin öffnet das Abteil und greift den Koffer des Paares. "Ich bedaure sehr, dass Sie uns beim nächsten Halt verlassen müssen. Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder".
Die Frau weint noch immer, sie scheint untröstlich zu sein.
Am Bahnhof verlassen eine Menge Leute den Zug.
"Wie weit es wohl noch ist?" murmle ich vor mich hin und starre auf meine seltsamen Hände.
"So weit, wie es Ihnen erscheint!", erwidert der dünne Mann.
"Sind Sie Philosoph?", spotte ich und reibe mir das müde Gesicht.
"So was Ähnliches, mein Junge, so was Ähnliches".
Ich überlege kurz, wer mich zum letzten Mal "Junge" genannt hat, als die Tür zum Abteil aufgerissen wird.
"Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmitt...!"
Mit zwei Schritten bin ich beim Schaffner, packe ihn am Schlafittchen und presse ihn an die Wand.
"Was fällt Ihnen ein", schreie ich ihn an. "Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?".
Mit einem Stoß befördere ich ihn aus dem Abteil und lehne mich erschöpft an die geschlossene Tür.
"Beim nächsten Mal schmeiße ich ihn aus dem Zug".
Der dünne Mann lacht.
"Was gibt's da zu lachen? Ich meine es ernst!"
"Sind Sie wirklich ärgerlich auf ihn, oder sind Sie es selbst, der Sie so rasend macht? Sehen Sie, er tut doch nur seinen Job".
"Ach, was weiß denn ich". Trotzig lasse ich mich in den Sitz fallen. "Vielleicht ist es besser, wenn ich an der nächsten Station aussteige".
"Obwohl Sie wissen, dass Sie eine Rückreise teuer zu stehen kommt? Außerdem bringt es nichts. Ihr Problem nehmen sie mit".
"Ach, und was ist mein Problem, Herr Neunmalklug?"
"Sie, mein Junge. Sie!"

Tag reiht sich an Tag, Station an Station.
Ich starre in den Himmel, der sich nach Wochen gräulicher Düsternis aufzuklären beginnt.
Manchmal dringt sogar ein Sonnenstrahl hindurch. Und vermag er mich auch nicht zu wärmen, so hinterlässt er doch ein leises Ahnen auf Hoffnung in meinem Herzen.
"Süßwaren, Zigaretten…", tönt es in bekannter Manier.
"Danke, wir haben alles was wir brauchen", höre ich mich sagen.
Der Schaffner schließt die Tür, neben mir kichert es.
"Was ist so lustig? ", frage ich den dünnen Mann.
"Och, nichts weiter. Ich freue mich nur".
Komischer Vogel, denke ich, und schlage mein Buch auf.
Gerade als Miss Marple den Heiratsantrag Luther Ackenthorpes ausschlägt, bremst der Zug.
"Schon wieder eine Station", sage ich zum dünnen Mann. "Mal gucken, wie viele heute aussteigen".
"Drei", antwortet dieser, ohne von seiner Zeitschrift aufzusehen. "Hier ist Endstation".
"Endstation?", flüstere ich und starre ihn an. "Sie meinen, wir sind am Ziel; wir haben es endlich geschafft?"
Der dünne Mann schmunzelt: "Ja, genau das meine ich".
Ich stürze zur Bank, ziehe die Koffer hervor und feuere ihn an.
"Kommen Sie, kommen Sie, wir sind am Ziel! Worauf warten Sie denn noch?"
"Irrtum, mein Junge, Sie sind am Ziel. Ich fahre wieder zurück".
"Zurück? Aber wozu dann all die Strapazen? Das ist doch widersinnig… und teuer, haben Sie gesagt".
"Kostet gar nichts für mich. Ich habe ein Freundschaftsticket".
"Oh", stammele ich. Mehr fällt mir gerade nicht ein.
"Leb wohl, mein Junge, und das meine ich auch so". Sein gespielt strenger Blick folgt mir zur Tür.
"Ach, noch eine Frage", ich drehe mich zu ihm um. "Woher wissen Sie, dass nur noch drei übrig sind?".
"Och, es sind selten mehr als drei", antwortet er und vertieft sich wieder in die Zeitschrift.

Draußen scheint die Sonne und es duftet leicht nach Lavendel und Rosen. Hier werde ich also zu Hause sein. Ich sehe mich um und entdecke eine alte Frau und einen Typ mit Rucksack, die sich ebenso ungläubig umsehen wie ich.
Ich winke ihnen kurz zu, schnappe meine Koffer und begebe mich in eine nikotinlose Zukunft voller Farben und Wohlgerüche.
Die Reise war hart. Zu hart, um sie noch einmal zurückzulegen.
Die Reise von Wardochimmerso nach Neu-Denken.
 

petrasmiles

Mitglied
Toll geschrieben

Hallo sesch nesut,

wenn man so will: ich bin Dir aufgesessen und habe die versteckten Andeutungen, worum es in Deiner Geschichte ging, gar nicht wahrgenommen. Erst hinterher, beim zweiten Lesen, fielen mir die versteckten Hinweise auf.
Ich war so richtig im Bann der Geschichte - und das passiert mir hier nicht häufig.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 

sesch nesut

Mitglied
Hallo Petrasmiles,

herzlichen Dank für deine Rückmeldung.
Ich hatte schon die Befürchtung, dass ich im Text zu deutlich wurde. Kann man selber immer schlecht einschätzen.
Es freut mich, dass dir die Story gefallen hat. ;-)

Viele Grüße
Chajan
 
U

USch

Gast
Hallo sesch nesut,

einfach genial deine Geschichte. Diese Zweigleisigkeit, passend zum Zuggeschehen und das auch sehr spanned geschrieben. Man ist gebannt wie petrasmiles das sagt.

LG USch
 
A

Architheutis

Gast
Liebe(r) Chajan,

meine Güte, ist das gut geschrieben. Du verbindest erzählerisches Talent mit einer ausgeprägten Beobachtungsgabe. Zudem verstehst Du es, dem Leser immer nur das nötige Quentchen zu geben. So brennt Deine Geschichte bis zum Schluß, um in der Sprache Deiner Bilder zu bleiben.

Du hälst alles in Händen, was einen guten Erzähler ausmacht. Mach was draus (am besten einfach weiter so).

Toll.
Archi
 

sesch nesut

Mitglied
Hallo USch,

Zweigleisigkeit - das passt gut zu dieser "Zuggeschichte". ;-)
Ansonsten freue ich mich, dass sie dir gefallen hat.
Bald ist Urlaubszeit, da werde ich mich mal in deine Texte vertiefen.
Hab' Dank für deine freundlichen Worte.

Viele Grüße
Chaj
 

sesch nesut

Mitglied
Hallo Archi,

du machst mich verlegen - solch ein Lob aus berufenem Munde.
Bleibt mir nur, mich deinem Wunsche zu fügen und einfach so weiterzumachen.
Ich danke dir herzlich für deinen Besuch.

Liebe Grüße
Chaj (♂)
 
A

Architheutis

Gast
Lieber Chaj,

es gibt keinen Grund zur Verlegenheit. Meine bescheidenen Kommentare sind die eines literarischen Neulings. Nicht mehr, vor allem aber nicht weniger. Dass Du mich als "Berufenen" wähnst, macht dann wiederum mich verlegen. *grins*

Du hast bisher nur Gutes veröffentlicht. Ich habe einige Male mitverfolgt, wie Neulinge kometenhaft in der LeLu hochgeschossen sind, ihr Nivaeu aber leider nicht halten konnten.

Ein Erklärung dafür könnte sein, dass die Erstveröffentlichungen lange vorher entstanden waren - mit aller Sorgfalt ausgearbeitet. In Anbetracht der positiven Reaktionen ist man dann wohl leicht verleitet, jeden halbwegs guten Gedanken direkt zu veröffentlichen.

Es fehlt dann vielleicht die Sorgfalt, die man jedem seiner Texte gönnen sollte. Die Gefahr eines "Schellschusses" besteht aber wohl auch für alte Hasen.

Ich bin gespannt, wie es mit Dir weitergeht. Bin da guter Dinge. :)

Gruß,
Archi
 
U

USch

Gast
Hallo Chajan,

deine Geschichte schlägt alles in den Schatten, was ich so in letzter Zeit in der ll gelesen habe. Ich gab die Textempfehlung an befreundete Literaturinteressierte weiter, die auch alle begeistert waren.
Ein ganz kleines Haken beim Lesen fiel mir noch auf. Vielleicht hast du Lust das zu ändern.

Ich würge ein "Aha" hervor, bevor ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.
Dieses hervor, bevor klingt nicht so gut. Vielleicht so:
Ich würge ein "Aha" hervor, um mich dann im Laufschritt zum Bahnsteig zu begeben oder einfach: ... um dann zum Bahnsteig zu laufen.

LG Uwe
 
A

Architheutis

Gast
"Ich würge ein "Aha" hervor, begebe mich..."

Lieber Uwe, verzeih mir den kleinen Einwand, aber der erweiterte Infinitv machte es aus meiner Sicht auch nicht besser. Warum nicht 2 schöne Hauptsätze (s.o.)? :)

Aber dem Rest Deiner Aussage schließe ich micht ohne Vorbehalt an.

Gruß,
Archi
 

FrankK

Mitglied
Hallo Chajan

Tolle Geschichte, auch wenn ich mich während des größten Teils der Fahrt wohl im falschen Zug befand. Irgendwie war ich (bei der ersten Lesung) auf die Idee gekommen, es ginge um den langen, schmerzvollen Weg zum "Nichtrauchen".
Aber so ist es natürlich noch viel besser. Manchmal muss man sich halt verfahren, um zu erkennen, dass man richtig angekommen ist.

Zu dem Stolperstein den Usch anmerkte:
Ich würge ein "Aha" [blue]hervor, bevor[/blue] ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.
Zwei nahezu gleich lautende Wörter in unmittelbarer Folge.
Wenn Du Dir diesen Satz selbst einmal laut vorliest, bemerkst Du vielleicht die Stolperstelle - es klingt irgendwie blöd.

Mögliche Lösungen wären:
Ich würge ein "Aha" [blue]heraus, bevor[/blue] ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.

oder:
Ich würge ein "Aha" [blue]hervor, ehe[/blue] ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.

oder ganz umgebaut:
Ich würge ein "Aha" [blue]hervor und[/blue] begebe mich im Laufschritt zum Bahnsteig.

Wobei mir persönlich die letzte Variante am besten gefällt.

Ob Du was daraus machst, bleibt Dir überlassen. Das Stück ist zu gut, um es mit Erbsenzählerei zu verdaddeln.

Danke für dieses Werk.


Viele Grüße aus Westfalen
Frank
 
P

Pagina

Gast
Da ist dir eine flüssig zu lesende, interessante Umsetzung des Themas gelungen!
Herzliche Grüsse, Pagina
 

sesch nesut

Mitglied
Hallo, ihr Lieben alle!

Entschuldigt bitte, dass ich euch so lang hab‘ warten lassen. Das Leben forderte sein Recht.
Doch nun bin da, um euch in aller Demut für eure freundlichen Lobpreisungen zu danken und den saudummen Fehler auszumerzen. Hervor-bevor hört sich wirklich ziemlich blöd an. Wahrscheinlich war ich gedanklich schon beim nächsten Reimgedicht. ;-)
Frank, du hast netterweise schon ein paar Lösungsvorschläge unterbreitet. Aus dem Katalog habe ich mir den vorletzten Vorschlag ausgewählt: Ehe ist ein feines Wort. ;-)

Vielen Dank an euch alle!

Euer Chaj
 

sesch nesut

Mitglied
Der letzte Zug

Beladen wie ein Packesel kämpfe ich mich durch die miefige Innenstadt Richtung Bahnhof.
Werkssirenen heulen. Ich bin nahe daran, es ihnen gleich zu tun.
Werde ich es wirklich schaffen?
Hastig schaue ich zur Uhr, 11:32 Uhr. Um 5 vor 12 geht mein Zug.
Nach ein paar Straßenecken stehe ich vorm Bahnhof. Ein schwefelgelbes Ungetüm aus Vorkriegstagen. Ich haste hinein. Jetzt noch ein Ticket kaufen und dann die lange Fahrt. Ich merke, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt.
Am Schalter hat sich eine lange Schlange gebildet, doch es geht schnell.
Der Schalterbeamte schiebt mir das Ticket rüber: "Gleis 1".
Ich sehe ihn an. "Was macht es?"
"Nichts!", murmelt er lustlos, "dafür wird die Rückfahrt richtig teuer".
Ich würge ein "Aha" hervor, ehe ich mich im Laufschritt zum Bahnsteig begebe.

Selten bin ich einer größeren Menschenmenge begegnet als hier. Dicht gedrängt stehen sie herum. Ich bahne mir den Weg zum Gleis.
"Du wirst mir fehlen, Heinz" schnappe ich auf, dann ein Rothaariger: "Noch kannst du mitfahren. Überleg’s dir!".
Ein Satz aus einem Kriminalroman fällt mir ein: Die wichtigsten Dinge im Leben muss ein Mann allein erledigen.
Ein Pfiff, der Zug fährt ein.
Ich trete meine Zigarette aus und kämpfe mich hinein.

Gerangel um einen Sitzplatz. Ich habe Glück und finde ein Abteil mit einem Paar und einem dünnen Mann darin. Ich quetsche mich neben ihn. Während ich meine Koffer mit der Ferse unter den Sitz schiebe, sende ich ein Dankgebet gen Himmel.
Ein weiterer Pfiff, die Fahrt beginnt. Ich habe Sodbrennen.
Warum kriege ich jetzt Sodbrennen? Wut steigt in mir auf. Als habe ich es nicht schwer genug.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Erstaunt sehe ich sie an.
Wie nutzlos mir plötzlich diese Hände erscheinen, fast fremd.
Um mich abzulenken taxiere ich das Paar gegenüber.
Er ist ein Fettsack. Sein Doppelkinn hängt über dem viel zu engen Kragen des durchschwitzten Hemdes.
Sie hat ein Frettchengesicht. Ihr Blick ist huschig und ständig nagt sie an ihrer Unterlippe.
Der Mann neben mir starrt aus dem Fenster. Ich ahne, dass er nicht ansatzweise wahrnimmt, was dort draußen vorüberzieht. Ich folge seinem Blick und sehe in der Scheibe jemanden, der ich ist und doch ein anderer. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Das dunkle Haar, das über die etwas zu groß geratenen Ohren fällt, der sensible Mund... und doch. Das Gesicht ist bleich und die Augen weit aufgerissen.
Als das Frettchen beginnt, sich die Fingernägel abzukauen, greife ich zum Buch in meiner Jackentasche.
'16 Uhr 50 ab Paddington'. Hoffentlich bewahrt es mich vorm Durchdrehen.
Bevor ich es aufschlagen kann, öffnet sich die Tür. Ein Schaffner mit einem Bauchladen tritt herein. "Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmittel?", fragt er schmierig grinsend.
Der Dicke erwacht aus seinem Koma und starrt den Schaffner an. Wir alle starren ihn an.
Während der Dicke aufspringt und sich unter lautem Protest des Frettchens einen Schokoriegel kauft, springe ich zum Fenster und reiße es auf. Der eiskalte Zugwind scheint mir das Gesicht zu zerfetzen, während sich hinter mir ein Drama abspielt. Das Frettchen weint und zetert auf den Dicken ein und ohne mich umzudrehen weiß ich, dass kein Wort davon zu ihm dringt.
"Kommen Sie", sagt der dünne Mann und zieht mich am Pullover vom Fenster weg. "Sie haben doch wohl nicht diesen Zug genommen, um sich den Tod zu holen".
Wortlos lasse ich mich auf meinen Platz sinken.
Das Frettchen weint in ein Taschentuch. Der Dicke starrt wortlos ins Leere.
Ich verstehe sie. Oh Gott, wie sehr ich sie verstehe.

Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Der Schaffner von vorhin öffnet das Abteil und greift den Koffer des Paares. "Ich bedaure sehr, dass Sie uns beim nächsten Halt verlassen müssen. Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder".
Die Frau weint noch immer, sie scheint untröstlich zu sein.
Am Bahnhof verlassen eine Menge Leute den Zug.
"Wie weit es wohl noch ist?" murmle ich vor mich hin und starre auf meine seltsamen Hände.
"So weit, wie es Ihnen erscheint!", erwidert der dünne Mann.
"Sind Sie Philosoph?", spotte ich und reibe mir das müde Gesicht.
"So was Ähnliches, mein Junge, so was Ähnliches".
Ich überlege kurz, wer mich zum letzten Mal "Junge" genannt hat, als die Tür zum Abteil aufgerissen wird.
"Süßwaren, Zigaretten, Alkohol, Rauschmitt...!"
Mit zwei Schritten bin ich beim Schaffner, packe ihn am Schlafittchen und presse ihn an die Wand.
"Was fällt Ihnen ein", schreie ich ihn an. "Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun?".
Mit einem Stoß befördere ich ihn aus dem Abteil und lehne mich erschöpft an die geschlossene Tür.
"Beim nächsten Mal schmeiße ich ihn aus dem Zug".
Der dünne Mann lacht.
"Was gibt's da zu lachen? Ich meine es ernst!"
"Sind Sie wirklich ärgerlich auf ihn, oder sind Sie es selbst, der Sie so rasend macht? Sehen Sie, er tut doch nur seinen Job".
"Ach, was weiß denn ich". Trotzig lasse ich mich in den Sitz fallen. "Vielleicht ist es besser, wenn ich an der nächsten Station aussteige".
"Obwohl Sie wissen, dass Sie eine Rückreise teuer zu stehen kommt? Außerdem bringt es nichts. Ihr Problem nehmen sie mit".
"Ach, und was ist mein Problem, Herr Neunmalklug?"
"Sie, mein Junge. Sie!"

Tag reiht sich an Tag, Station an Station.
Ich starre in den Himmel, der sich nach Wochen gräulicher Düsternis aufzuklären beginnt.
Manchmal dringt sogar ein Sonnenstrahl hindurch. Und vermag er mich auch nicht zu wärmen, so hinterlässt er doch ein leises Ahnen auf Hoffnung in meinem Herzen.
"Süßwaren, Zigaretten…", tönt es in bekannter Manier.
"Danke, wir haben alles was wir brauchen", höre ich mich sagen.
Der Schaffner schließt die Tür, neben mir kichert es.
"Was ist so lustig? ", frage ich den dünnen Mann.
"Och, nichts weiter. Ich freue mich nur".
Komischer Vogel, denke ich, und schlage mein Buch auf.
Gerade als Miss Marple den Heiratsantrag Luther Ackenthorpes ausschlägt, bremst der Zug.
"Schon wieder eine Station", sage ich zum dünnen Mann. "Mal gucken, wie viele heute aussteigen".
"Drei", antwortet dieser, ohne von seiner Zeitschrift aufzusehen. "Hier ist Endstation".
"Endstation?", flüstere ich und starre ihn an. "Sie meinen, wir sind am Ziel; wir haben es endlich geschafft?"
Der dünne Mann schmunzelt: "Ja, genau das meine ich".
Ich stürze zur Bank, ziehe die Koffer hervor und feuere ihn an.
"Kommen Sie, kommen Sie, wir sind am Ziel! Worauf warten Sie denn noch?"
"Irrtum, mein Junge, Sie sind am Ziel. Ich fahre wieder zurück".
"Zurück? Aber wozu dann all die Strapazen? Das ist doch widersinnig… und teuer, haben Sie gesagt".
"Kostet gar nichts für mich. Ich habe ein Freundschaftsticket".
"Oh", stammele ich. Mehr fällt mir gerade nicht ein.
"Leb wohl, mein Junge, und das meine ich auch so". Sein gespielt strenger Blick folgt mir zur Tür.
"Ach, noch eine Frage", ich drehe mich zu ihm um. "Woher wissen Sie, dass nur noch drei übrig sind?".
"Och, es sind selten mehr als drei", antwortet er und vertieft sich wieder in die Zeitschrift.

Draußen scheint die Sonne und es duftet leicht nach Lavendel und Rosen. Hier werde ich also zu Hause sein. Ich sehe mich um und entdecke eine alte Frau und einen Typ mit Rucksack, die sich ebenso ungläubig umsehen wie ich.
Ich winke ihnen kurz zu, schnappe meine Koffer und begebe mich in eine nikotinlose Zukunft voller Farben und Wohlgerüche.
Die Reise war hart. Zu hart, um sie noch einmal zurückzulegen.
Die Reise von Wardochimmerso nach Neu-Denken.
 
D

dubidu

Gast
Lieber sesch,
beim Lesen deiner Texte öffnet sich ein Fenster und flugs fällt man in eine Dimension, die sich zwischen den Bewusstseinsebenen befindet. Das ist fast schon kafkaesk. Sehr schön. Natürlich gibt es kleinere sprachliche Verbesserungsmöglichkeiten. Aber das sind peanuts, die man vor einem Print bereinigen könnte.
 

sesch nesut

Mitglied
Lieber Dubidu,

schön dich zu "sehen". ;-)

Ich mag Peanuts, drum bin ich wie im wahren Leben daran interessiert, diese zu eleminieren. Wenn dir also etwas aufgefallen ist, dann nur heraus damit.
Gedruckt werden meine Sachen eh nicht. Ist ja nur ein Hobby. Aber ich fände es doch schön, wenn hier nur das Bestmögliche stünde.

Viele Grüße
Chaj
 
K

KaGeb

Gast
Hi,

ich ahne, was mein Vorposter meint: Redundanz.

Beispiele (aus meiner Sicht):


Beladen wie ein Packesel kämpfe ich mich durch die miefige Innenstadt Richtung Bahnhof.
Hier würde (ich) umstellen:

Wie ein Packesel beladen ...

durch die miefige Innenstadt Richtung Bahnhof
[blue]Idee:[/blue] [red]kämpfe ich mich durch die vermiefte Innenstadt zum Bahnof.[/red]


Werkssirenen heulen. Ich bin nahe daran, es ihnen gleich zu tun.
Werde ich es wirklich schaffen?
Hastig schaue ich zur Uhr, 11:32 Uhr. Um 5 vor 12 geht mein Zug.
Hier sind (meiner Meinung nach) tote Bereiche verklausuliert.

[blue]Idee:[/blue] [red]Werksirenen heulen.
Ich auch.
Nicht zu schaffen. In 25 Minuten geht mein Zug!

[/red]

Nützen dir derartige Ideen was? DANN mehr :)

LG kageb
 

sesch nesut

Mitglied
Hallo kageb,

ich weiß, dass es heutzutage üblich ist, Texte auf Teufel komm raus zu verknappen. Ich bin kein Freund davon, denn dadurch verlieren Geschichten ihren Charme und der Verfasser seine Individualität. Jede Geschichte hat ihren Fluss, der durch kurze Sätze gebrochen wird.
Dein letzter Vorschlag birgt dann leider noch Falschaussagen: "Ich" heulte nicht, sondern war nur nahe daran und "ich" habe den Zug doch noch bekommen, was unlogisch gewesen wäre, wenn ich zuvor "Nicht zu schaffen" geschrieben hätte.
5 vor 12 werde ich auch nicht ändern. Es ist nämlich nicht nur eine Uhrzeit.
Das wäre mir zu einfach. ;-)

Ich danke dir für die Beschäftigung mit meinem Text.

Viele Grüße
Chajan
 

anbas

Mitglied
Hallo Chajan,

tja, was soll ich noch viel sagen/schreiben? Eine wirklich tolle Geschichte, und dazu sehr gut erzählt!!!

Ich habe mich in der letzten Zeit überwiegend in der Lyrikecke aufgehalten und bin wirklich froh, dass ich mir mal wieder die Muße genommen habe, in den Kurzgeschichten zu stöbern. So konnte ich auch Deinen Text entdecken. Er ist zu Recht in die Rubrik "Das Beste" gekommen.

Lediglich an dieser Stelle würde ich noch mal etwas umformulieren:
Manchmal dringt sogar ein Sonnenstrahl hindurch. Und vermag er mich auch nicht zu wärmen, so hinterlässt er doch ein leises Ahnen auf Hoffnung in meinem Herzen.
Wie wär's mit:
(...) Obwohl er mich nicht zu wärmen vermag, hinterlässt er...
Liebe Grüße

Andreas
 

sesch nesut

Mitglied
Hallo Andreas,

herzlichen Dank fürs Lesen meiner kleinen Geschichte und deinen guten Verbesserungsvorschlag.
Oft ist es ja eine Sache des persönlichen Geschmacks (grobe Schnitzer natürlich ausgenommen), so dass ich mich letztlich dazu entschlossen habe, die Geschichte so zu belassen wie sie jetzt ist.

Viele Grüße
Chajan
 



 
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