„Vom Scheunendach ist er mir obagfallen, der Bur.“ Er fiel vom Scheunendach hinunter – weiß Gott wie der Kleine da raufkam – und lag leise röchelnd am Boden. Aus seinem Mund rann helles Blut. „Mir han ja damals kan Telefon net ghabt und kan Auto net; mei Dirndl hab ich aufs Dorf g`schickt um `n Doktor.“ Eine halbe Stunde war das Mädel schon unterwegs, die Mutter kniete sich vor dem Buben, hielt sein schlaff hängendes Ärmchen, rief ihn beim Namen und heulte verzweifelt mit brechender Stimme, die bald ähnlich klang die das Röcheln des Sterbenden.
Ihre Tochter kam in einem kleinen Militärlaster zurück, wo lauter Russen saßen. Ein junger Bursche in Sowjetenuniform sprang raus und deutete der Frau, dass sie mit dem Kind einsteigen soll. „Aber des warn doch die verfluchten Besatzer, i konnt net einsteigen zu die Russen, verstehst, da konnt i net einisteigen.“
Diese Geschichte erzählt Frau K. täglich, wenn sie aber bei Kräften ist und weniger döst, auch mehrere Male am Tag. Sonst spricht sie nichts. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist leer, es kann weder die Namen ihrer Pfleger noch die letzte Mahlzeit behalten; auch ihre Vergangenheit ist ausgelöscht bis auf einen einzigen Tag. In Gegenwart dieses einzigen Tages, in der qualvollen, immerwährenden Gegenwart von damals vergeht ihre Zeit. Immer wieder, immer wieder steigen die verdutzten Russen achselzuckend ins Auto und fahren fort; immer wieder stirbt ihr das Kind in den Armen, sie kann ihr eigenes spitzes Kreischen hören und die Stille, in der es sich auflöst.
Schwester Lena hat immer zugeschaut, dass sie nicht zu Frau K. eingeteilt wird, aber jetzt steht der Dienstplan nun mal so und die Stationsleiterin will keine Rücksicht nehmen auf irgendwelche uralten G`schichten. „Schließlich musst du ihr ja nicht sagen, dass Du Russin bist, gehst hin und machst ganz normal deine Arbeit.“
„Vom Scheunendach ist er mir obagfallen, der Bur.“ …
„Frau K.!“, Lena ergreift ihre Patientin energisch an Handgelenken, „Frau K., bitte, hören Sie mir zu! Bevor ich Sie pflegen darf, müssen Sie mich anhören!“ So eindringlich hat auf die alte Frau schon lange niemand eingeredet, sie stockt und richtet ihre Augen auf die Schwester. „Frau K., ich bin Russin, verstehen Sie, ich will, dass Sie es wissen. Ich will mich Ihnen nicht so unterschieben. Wenn Sie nicht möchten, dass eine Russin bei Ihnen ist, ist es kein Problem, ich kann `ne andere Schwester holen.“
„Du bist also von den Russen?“ Frau K. starrt ins Leere, ihre Finger nesteln auf dem Bettlaken. „Und wärst du zu der Wehrmacht in ihrenen Wagen gestiegen mit dem Kind?“ – „Ich habe damals nicht gelebt, Frau K., ich weiß es nicht. Meine Großmutter wär niemals eingestiegen, das weiß ich sicher. Seit ich `nen Österreicher geheiratet hab`, redet sie mit mir kein Wort, nicht mal ihren Enkel wollte sie ansehen. So ist es. Aber was sollen wir jetzt tun, Frau K., wir Zwei?“
„Wenn du mir bei die Gummistrümpf` helfen tat`st, Kindchen“, Frau K. lächelt sie an, „wie heißt du denn?“ „Lena, Lena, ich heiße Lena“, die Schwester merkt plötzlich, dass sie fürchterlich laut redet und bricht in helles glückliches Lachen aus. Ein riesiger Felsblock hat sich in der Seele ihrer Patientin bewegt und den zugemauerten Eingang freigelassen. Sie, kleine Pflegehelferin, durfte an diesem Wunder teilhaben. Frau K. erzählt plötzlich auch andere Sachen, - wie sie den Hof nicht derhalten konnte und in die Barackensiedlung nach St. Pölten kam, wie ihre Tochter die Schul` g´schafft hat, wie sie die erste Waschmaschine kauften…
Lena rennt zum Stützpunkt und bettelt den diensthabenden Arzt doch mitzukommen: „Sie müssen sich das ansehen, Herr Doktor, die Frau K. ist wie aufgewacht! – Sie hat mir zugehört und erzählt, und sie hat mich nach dem Namen gefragt!“ Mit einer skeptischen Miene läßt sich der Arzt das Wunder einer Spontanheilung vorführen. „Guten Tag, Frau K.! Wie ist das werte Befinden?“ Doch leider war es ein Wunder von sehr flüchtiger Natur. Die Augen der Patientin sind halbgeschlossen und fixieren die Eintretenden nicht:
„Vom Scheunendach ist er mir obagfallen, der Bur.“
Ihre Tochter kam in einem kleinen Militärlaster zurück, wo lauter Russen saßen. Ein junger Bursche in Sowjetenuniform sprang raus und deutete der Frau, dass sie mit dem Kind einsteigen soll. „Aber des warn doch die verfluchten Besatzer, i konnt net einsteigen zu die Russen, verstehst, da konnt i net einisteigen.“
Diese Geschichte erzählt Frau K. täglich, wenn sie aber bei Kräften ist und weniger döst, auch mehrere Male am Tag. Sonst spricht sie nichts. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist leer, es kann weder die Namen ihrer Pfleger noch die letzte Mahlzeit behalten; auch ihre Vergangenheit ist ausgelöscht bis auf einen einzigen Tag. In Gegenwart dieses einzigen Tages, in der qualvollen, immerwährenden Gegenwart von damals vergeht ihre Zeit. Immer wieder, immer wieder steigen die verdutzten Russen achselzuckend ins Auto und fahren fort; immer wieder stirbt ihr das Kind in den Armen, sie kann ihr eigenes spitzes Kreischen hören und die Stille, in der es sich auflöst.
Schwester Lena hat immer zugeschaut, dass sie nicht zu Frau K. eingeteilt wird, aber jetzt steht der Dienstplan nun mal so und die Stationsleiterin will keine Rücksicht nehmen auf irgendwelche uralten G`schichten. „Schließlich musst du ihr ja nicht sagen, dass Du Russin bist, gehst hin und machst ganz normal deine Arbeit.“
„Vom Scheunendach ist er mir obagfallen, der Bur.“ …
„Frau K.!“, Lena ergreift ihre Patientin energisch an Handgelenken, „Frau K., bitte, hören Sie mir zu! Bevor ich Sie pflegen darf, müssen Sie mich anhören!“ So eindringlich hat auf die alte Frau schon lange niemand eingeredet, sie stockt und richtet ihre Augen auf die Schwester. „Frau K., ich bin Russin, verstehen Sie, ich will, dass Sie es wissen. Ich will mich Ihnen nicht so unterschieben. Wenn Sie nicht möchten, dass eine Russin bei Ihnen ist, ist es kein Problem, ich kann `ne andere Schwester holen.“
„Du bist also von den Russen?“ Frau K. starrt ins Leere, ihre Finger nesteln auf dem Bettlaken. „Und wärst du zu der Wehrmacht in ihrenen Wagen gestiegen mit dem Kind?“ – „Ich habe damals nicht gelebt, Frau K., ich weiß es nicht. Meine Großmutter wär niemals eingestiegen, das weiß ich sicher. Seit ich `nen Österreicher geheiratet hab`, redet sie mit mir kein Wort, nicht mal ihren Enkel wollte sie ansehen. So ist es. Aber was sollen wir jetzt tun, Frau K., wir Zwei?“
„Wenn du mir bei die Gummistrümpf` helfen tat`st, Kindchen“, Frau K. lächelt sie an, „wie heißt du denn?“ „Lena, Lena, ich heiße Lena“, die Schwester merkt plötzlich, dass sie fürchterlich laut redet und bricht in helles glückliches Lachen aus. Ein riesiger Felsblock hat sich in der Seele ihrer Patientin bewegt und den zugemauerten Eingang freigelassen. Sie, kleine Pflegehelferin, durfte an diesem Wunder teilhaben. Frau K. erzählt plötzlich auch andere Sachen, - wie sie den Hof nicht derhalten konnte und in die Barackensiedlung nach St. Pölten kam, wie ihre Tochter die Schul` g´schafft hat, wie sie die erste Waschmaschine kauften…
Lena rennt zum Stützpunkt und bettelt den diensthabenden Arzt doch mitzukommen: „Sie müssen sich das ansehen, Herr Doktor, die Frau K. ist wie aufgewacht! – Sie hat mir zugehört und erzählt, und sie hat mich nach dem Namen gefragt!“ Mit einer skeptischen Miene läßt sich der Arzt das Wunder einer Spontanheilung vorführen. „Guten Tag, Frau K.! Wie ist das werte Befinden?“ Doch leider war es ein Wunder von sehr flüchtiger Natur. Die Augen der Patientin sind halbgeschlossen und fixieren die Eintretenden nicht:
„Vom Scheunendach ist er mir obagfallen, der Bur.“