Der neue Mensch

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen
H

HFleiss

Gast
Der neue Mensch


Nimm an die Katastrophe,
sag freudig ja, weht dich der Zeitgeist um,
er will dir nichts Böses.
Trag Schlips.
Schwenk dein Verzichtsbewusstsein
wie den täglichen Staubwedel.
Bild deine ramponierte Persönlichkeit,
dass aus dir mal was wird,
ein reizender Bürger mit deutschem Auto
und honettem Inlandsgrabstein
und einmal im Monat ins Musical.
Und sag nicht, du bist auch wer,
wer soll dir das glauben?
Sag, du bist ein Nichts, weniger
Als ein verlorenes Sandkorn in der
Elenden Wüste Gobi,
und eher geht ein
Ausgehungertes Kamel durch ein Nadelöhr
Als einer von denen, amen.
War doch schon immer so.
Grüß den Chef, falls du ihn hast, den
mit dem bezaubernden Dreitagebart,
Eines Tages sitzt auch er in der U-Bahn,
dir gegenüber, er will doch nur dein Bestes
und schwört auf das Egalitäre.
Reiß nicht auf das Maul, das blöde.
Anderen geht es noch mieser,
merk dir das, du bist ein Auserwählter.
Strahl optimistisch, nach vorne,
dort, mein Bester, marschiert die Musik.
Vergiss nicht dein Lächeln,
lange genug hast du’s üben müssen,
Und pfleg deiner edlen Manieren.
Nun nimm sie schon an,
die Katastrophe, sie ist dir geblieben.
Wohl, wenn man’s bedenkt,
immer noch besser als gar nichts.
_____
Dass der Mensch das edelste Geschöpf sei, lässt sich auch schon daraus abnehmen, dass es ihm noch kein anderes Geschöpf widersprochen hat.
G. Ch. Lichtenberg (1742-1799)
 

rosste

Mitglied
hallo Hanna,
das gefällt mir inhaltlich sehr gut.
die katastrophe ist "immer noch besser als gar nichts" - das werden einige neue menschen annehmen. die das nicht machen, werden leer ausgehen und vielleicht nur noch ihren schlips zum ausgehen vorzeigen können.
aber auch der ist beim musical nicht so wichtig.
der zeitgeist will uns nichts böses.
vorn marschiert die musik - das hast du ironisch gemeint.
die nase zu weit vorn. das kann zu neu sein.
gern gelesen.
 

Inu

Mitglied
Hallo Hanna

Ziemlich ungewöhnlich dieses Gedicht. Je öfter ich es las, desto einleuchtender und reicher wurde für mich das Gesagte. Gute Gedanken :)

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Ursprung ein Zeitungsartikel eines Politikers, blamabel offen und noch blamabler ratlos. Vielen Dank, rosste und Inu, dass ihr gelesen und verstanden habt. Ich dachte schon, der Text sei zu intellektuell und undurchsichtig und jeder würde fragen, worüber redet die eigentlich?

Lieben Gruß
Hanna
 
P

Prosaiker

Gast
zu intellektuell? ...

sorry, die frage musste sein.

du verwendest eine seltsame sprache. ich stoße mich schon an den ersten zwei zeilen. warum so unsanft zum deutsch? irgendwie wirkt diese klage unsympathisch auf mich. das liegt am ton des erzählers.
so viele imperative und so wenig nettigkeit, so wenig humor (schon klar, du wolltest auch keinen; hätt ich aber gut gefunden).
inhaltlich find ich das größtenteils in ordnung. aber bei so viel besserwisserei bin ich immer misstrauisch. mir fehlt der rückbezug zum erzähler, denn der ist ja ebenso eingebunden in diesen mist. wenn bukowski auch die ganze welt angeschissen hat, sich selbst hat er zuerst verflucht. das sehe ich hier nicht.
unsympathisch, mir fällt kein besseres wort ein.
vielleicht kannst du ja verstehen, was ich meine.
viele grüße,
Prosa.
 
H

HFleiss

Gast
Erstens heiße ich nicht Bukowski, zweitens ist bittere Satire, die die Schicht unter den Worten offenlegt, bestimmten Leuten immer unsympathisch. Helf Er sich.

Lieben Gruß
Hanna
 
B

bonanza

Gast
das dahinterliegende gefühl läßt sich vielleicht
noch besser herausarbeiten. irgendwie schon meine
wellenlänge. trotzdem liegt es mir auf der zunge,
dass es besser sein könnte, dass etwas fehlt.
durchhalten!

bon.
 
H

HFleiss

Gast
Damit kann ich schlecht was anfangen, wenn du nicht sagst, was deiner Ansicht nach fehlt.

Lieben Gruß
Hanna
 

Black Pearl

Mitglied
Hi Hanna,

moralischer Zeigefinger, seh ich auch mal gern... mir fehlt aber auch ein Ich in dem Ganzen... und du meinst sicher

"pleg deine Manieren", ein "r" zuviel...

mir auch der Schluss zu nichts sagend - mir fehlt glaub ich auch ein wenig etwas böserer satirischer Humor in dem Ganzen - wenn schon kein "Ich", muss mehr Schmackes dahinter, denke ich... mehr Mut zum Pathos, wenn schon moralisch... bedenke, "Du bist Deutschland!" Also mehr Rückgrat ;)
Ist aber Geschmackssache, denke ich, mehr Pathos wär anderen wieder zuviel...

CG, Black Pearl
 
H

HFleiss

Gast
Hallo, Black pearl,
danke für die Meinung. Nein, da ist kein r zuviel, es ist genauso gemeint: deiner Manieren. "Deine Manieren" wäre was anderes. Du hast recht, das hätte ich mit reinbringen können, dieses dämliche Du bist Deutschland, aber es erschien mir nun wirklich zu abgenutzt, zu abgelabert, als dass auch ich noch darauf hätte herumreiten müssen. Außerdem, ich wollte ja nicht die Vorstellung neoliberal geprägter Herrschaften unbedingt weiterverbreiten, sondern habe nur herausgepickt, was z. B. für mich persönlich von Nachteil wäre - auch so ist der neue Mensch doch nun wahrlich schon ein bedauernswerter Krüppel. Oder ist er dir etwa nicht verkrüppelt genug? Vorsicht vor Übertreibung, dann wird er unglaubwürdig.

Lieben Gruß
Hanna
 

Black Pearl

Mitglied
HI Hanna,

du mißverstehst meine Ironie - ich meinte nicht, dass dieses dämliche "Du bist Deutschland" rein soll, sondern du die "Verkrüppelung" mit ein wenig mehr Biss darstellen könntest? Aber wie gesagt, Geschmackssache...

CG, Black Pearl
 
H

HFleiss

Gast
Biss war nicht meine Intention, wenn man unter Biss gängigen Humor versteht, und ich glaube, darauf willst du hinaus. Ich finde die ganze Sache eben nicht sehr humorvoll, sondern eher zum Aufschreien.

Lieben Gruß
Hanna
 
H

HFleiss

Gast
So ist das Ganze doch überhaupt nicht angelegt. Da hast du mich falsch verstanden.

Gruß
Hanna
 

Black Pearl

Mitglied
Wirkt auf mich schon so (auch nach dem dritten Lesen) - hat bis zu dreiviertel den Biss, den ich meine, hätte mir aber noch nen entsprechend bissigen Schluß gewünscht - die letzten elf Zeilen gefallen mir nicht ganz so, wie das darüber...
Aber wie du sagst, Gefahr der Übertreibung, ist die Frage, wie den Schluß noch steigern, ohne zu übertreiben... wirkt mir nur eben durch den etwas schwächeren Schluß nicht ganz rund...hätte irgendwie einen anderen Schluß erwartet.

CG, B. Pearl
 
H

HFleiss

Gast
Ach, schwarze Perle, das Leben ist so anders, als man es sich wünscht. Im Grunde ist sogar der Sarkasmus (der ja auch Resignation enthält zu einem Gutteil) schon zuviel, will ich ausdrücken, was um uns herum geschieht. Unsere Gegenwart ist doch nur Resignation. Da entmündigt man zum Beispiel die Jungen, und was tun sie? Sie suchen nach Auswegen, für sich selbst. Manchmal finden sie sie, manchmal nicht. Und wenn nicht, was tun sie dann? Ganz einfach, sie resignieren. Das ist die deutsche Reaktion auf die deutsche Reaktion. Im Grunde hätte ich ein Gedicht auf das Resignieren schreiben müssen, um aktuell zu sein. Aber ich habe auf einen Artikel "geantwortet", da musste ich mich erstens inhaltlich beschränken, und zweitens schlug die Wut, die ich empfand, in Sarkasmus um - eben weil weit und breit nichts von Widerspruch zu sehen ist. Der Text ist, das wirst du jetzt vielleicht verstehen, kein Kabarett-Text, aber die Grundhaltung ist dieselbe. Habe ich jetzt alles ausreichend erklärt?

Lieben Gruß
Hanna
 

Black Pearl

Mitglied
Hi Hanna,

dann verständlich - das ists genau, was fehlt, es hat Sarkasmus/Resignation, aber keinen rebellischen Biss, der würde dem nen hoffnungsvollen Schlußpunkt setzen - der fehlt hier wirklich. Nun, jetzt weiss ich, was und warums fehlt...
Genau deswegen gefällts mir aber eben nicht ganz, mir fehlt Rebellion ! *g*

CG, B. Pearl

PS: Im Untertanengeist war Deutschland nunmal schon immer ganz groß...leider kein Talent zur Rebellion... hadere ich durchaus auch persönlich mit... manche rebellischen Ansätze scheiterten recht flott am Alleingangsproblem, bin da nicht so tough - und daran, dass in Gruppen lieber viel gequasselt statt gehandelt wird... ;) Nu rebellier ich eben im Kleinen... schreiben, mich so wenig wie möglich den Gesellschaftszwängen beugen... es geht, wenn man nicht die reichste Leiche auf dem Friedhof werden will... :)
 
H

HFleiss

Gast
Das mit der Rebellion - du willst doch nicht etwa zur eisernen Lerche avancieren, oder? Ich lese gerade ein Buch, darin wird von den Dämlichkeiten unserer Eliten gesprochen. Der Autor hat recht, wir werden von Kurpfuschern und dem Mittelmaß regiert, ein Zug der (deutschen) Zeit, und sie erwarten von uns ebenfalls eine mittelmäßige Reaktion, keinesfalls den Aufstand, das liegt für die meisten jedenfalls außerhalb ihrer Vorstellungswelt. Aber auch sie haben eben nur ihre Zeit. Und das lässt hoffen. (Falls sie uns nicht vorher zugrunde gerichtet haben.) Stell dir vor, ich bringe in der Leselupe (!) einen poetisierten Aufruf zum Sturm auf die Paläste - nicht auszudenken, ich würde mich vorher über mich selbst zu Tode gelacht haben und eine Befreiung von den tonangebenden Eliten gar nicht mehr erleben. Das wäre doch schade.

Lieben Gruß
Hanna
 

Black Pearl

Mitglied
Also kommt Zeit kommt Rat kommt Attentat, ganz plump gesagt? Scherz ;)
Nein, ich bin nicht zum Rebellen geboren und es scheint nicht unsere Zeit dafür... (sonst wär ich viell. wirklich ne eiserne Lerche, die lachend untergeht ;) ) aber ich weigere mich, der Geistlosigkeit und dem ausufernden Nützlichkeitsprinzip auf Leistungsbasis anheim zu fallen, das scheint oft auch schon rebellisch genug zu wirken auf manche Zeitgespenster... denn hey, pass dich der Zeit an, sie verlangt nach dir als Arbeitskapital in der Form, die der Markt dir vorbetet, alles andere wird immer mehr irrelevant - früher vom Markt immerhin geduldet oder gar genutzt wirds nun als erstes entbehrlich - Kultur z.B.. Unterhaltung zur Ablenkung ja, Unterhaltung, die zum Denken anregt, gar kritisiert,nein... zumindest immer mehr der Trend so...

Manchmal frustrierend...

CG, Black Pearl
 
H

HFleiss

Gast
Dabei ist noch die Frage, ob du (als Person) gebraucht wirst. Gebraucht werden doch nur die, die sich beugen. Die Scherereien machen, die überlässt man angesichts der Arbeitslosigkeit sich selbst. Und wenn sie sich lange genug selbst überlassen bleiben, erkennen sie sich manchmal nicht wieder im Spiegel, und sie dürfen sich getrost als Opfer bezeichnen, egal, ob sie als Berber durch die Stadt laufen oder irgendwelchen esoterischen Ideologien frönen. In jedem Fall sind sie nicht das, was aus ihnen hätte werden können, das gesellschaftliche System hat sie deformiert. Und da dieses heute Volten schlägt, werden wir wohl in zehn Jahren nicht nur uns selbst nicht wiedererkennen, sondern auch die Gegebenheiten unseres Lebens nicht. Die Leute, die uns regieren, sind derart in ihre Ideologie eingesponnen, dass es den Anschein hat, sie hätten eine neoliberale Psychose. Ich will ja keine Namen nennen, aber einige z. B. sieht man auf dem Bildschirm immer wieder, und sie predigen immer dasselbe: Keine Alternative. Mal sehen, ob es wirklich keine Alternative gibt, gelle?

Lieben Gruß
Hanna
 



 
Oben Unten