Der schreiende Diamant

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Mein erstes Tagebuch begann ich zu füllen, als ich die Schmerzen - ausgelöst durch den plötzlichen Tod meines Vaters -, nicht mehr fassen konnte, als die Tränen nicht mehr versiegen wollten, als ich alleine trauern musste. Ungelenk schrieb ich in dieses rote Buch, das eigentlich ein Poesiealbum hätte sein sollen; mein Vater hatte dort aber nicht mehr hinein geschrieben.

Das Schreiben erlöste mich früh schon von quälenden Gedanken und von schmerzenden Erinnerungen; und doch blieben sie erhalten. Bei manchem Blättern durch die Zeit kann ich heute feststellen, dass mir mein Tagebuch vor allem in den schmerzenden, in den dunkleren und kälteren Tagen mein treuester Begleiter war.

Wie durch einen Zufall stolperte ich eines Tages über meinen Diamant, denn wenn meine Mutter mich mal wieder zu belehren versuchte, fing ich im Geiste Gedichte zu reimen an, die mich schnell von der Schimpftirade wegtrugen. Manche waren so schön, dass ich sie aufschrieb und verschloss. Dieser unglaublich rohe Diamant lag nun da auf losen Blättern oder in der Schublade oder in Büchern eingezwängt. Immer öfter verlangte er bearbeitet zu werden, aber ich hatte einfach kein Werkzeug und außerdem schämte ich mich noch sehr seiner Anwesenheit, wollte ihn lieber verschlossen sehen. Doch er war so laut.

Nachdem ich mich etwas mehr an ihn gewöhnt hatte, zeigte ich ihn versuchsweise einem Freund. Er mochte ihn und fand es sehr schade, dass ich einen so wertvollen Juwel verschließen würde. Ich habe ihn also nur noch mit einem Tuch bedeckt, habe ihn häufiger ans Licht geholt.

Eines Tages hörte ich im Radio von dieser exquisiten Preisverleihung "Der Nobelpreis für Literatur", bei welcher die besten Köche der Welt zusammen kamen und die geladenen Gäste dort verköstigten. Ich begann davon zu träumen, dass ich in der fernen fernen Zukunft so ein gutes Buch schreiben würde, dass ich auch zu einer Verleihung eingeladen würde - nur zur Verleihung allerdings. Oft dachte ich auch darüber nach, ob noch etwas anderes als ein Buch mich zu einer solchen Verleihung führen könnte, doch mir viel als Jugendliche nichts ein was ich als Talent soweit treiben könnte wie mein Schreiben.

Aber ich hielt mich nicht für gut genug, schließlich wollte ich so gut sein wie Robert Musil, so gut wie Franz Kafka. Und meine Ziele waren einfach zu hoch. Adieu Nobelpreis; ich fand mich damit ab, dass ich vielleicht ein ganz ansehnliches Hobby hatte.

Dachten Sie vielleicht, damit gäbe sich der Diamant zufrieden? Er musste zwar nicht mehr in einer Kiste ruhen, auch hatte ich das Tuch abgenommen, aber dieser verfluchte Diamant wollte strahlen, wollte leuchten, so wie ich es ihm versprochen hatte. Also mühte ich mich ab, tat, was ich konnte. Mein Handwerkszeug war dürftig, meine Vorstellungen noch immer konventionalistisch halbherzig und meine Fertigkeiten ungeübt. Ich erweiterte meine Fertigkeiten mit einem Studium, erzählte mir jedoch noch immer, dass ich das eigentlich tue, um einen "richtigen" Beruf zu ergreifen. Ich bearbeitete meinen Diamanten ein wenig, damit er bemerken konnte, dass ich ihn nicht vergessen hatte. Er belohnte mich immer wieder dafür,
mit seinem gelegentlichen Leuchten amüsierte er mich sehr.
Ich verstand, dass ich noch Zeit bräuchte; das Verlangen nach einem anerkannten Beruf war unwiderstehlich; ich gab nach und nahm den erneuten Umweg in Kauf. Ein weiterer unwiderstehlicher Umweg war der Wunsch nach Familie und nach Kindern. Der Diamant schrie inzwischen immer lauter. Immer häufiger fing ich an, kleine Anekdoten aufzuschreiben, interessante Geschichten festzuhalten oder witzige Begebenheiten und eindrucksvolle Figuren kurz zu skizzieren. Kurz, ich fing an zu sammeln.
Und ich bin kurz davor zu platzen, wenn ich das nicht alles wieder aus mich herauslaufen lassen kann.

Ich behaue den Diamanten mit ermüdendem, veraltetem und langweiligem Werkzeug, doch immer häufiger erstrahlt seine Schönheit. Und so hoffe ich, dass sein Strahlen sein Schreien übertönt und sogar irgendwann zum Schweigen bringt.
 



 
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