Der steinerne Drache

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Meckie Pilar

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Der steinerne Drache

Es war einmal eine Königstochter, die war sehr schön und alle Leute liebten sie, weil sie immer fröhlich war. Als sie fünf Jahre alt geworden war, verzauberte sie eine böse Fee in eine steinerne Brunnenfigur. Im Schlosshof ihres Vaters sollte sie 50 Jahre lang stehen und erst dann würde sie wieder zum Leben erwachen.
Die Leute kamen und bestaunten die hübsche kleine Prinzessin, die dort im Brunnen mit dem steinernen Drachen zu spielen schien. Das klare Wasser perlte an ihrem steinernen Körper herab und füllte die Brunnenschale, aus der die Menschen sich erquickten, wenn es heiß war. Im Winter war die kleine Prinzessin über und über mit einer Eisschicht bedeckt. Aber sie spürte es kaum. Sie wartete.
Jedoch in all den vielen Jahren und Jahrzehnten kam kein Prinz und kam kein Zauberer, der sie erlösen wollte. Und so blieb sie ein halbes Jahrhundert im Brunnen auf dem Schlosshof stehen. Inzwischen waren der König und seine Frau gestorben und das Königreich gehörte längst einem anderen Herrn. Und die Leute vergaßen allmählich, wer sie war.

Als die 50 Jahre herum waren, merkte die Prinzessin in einer Vollmondnacht, dass sie sich wieder rühren konnte. Vorsichtig bewegte sie ein Glied nach dem anderen und stieg dann langsam von ihrem Sockel im Brunnen herunter. Als sie aber ihr Spiegelbild im Wasser sah, erschrak sie zu Tode. Da erblickte sie kein hübsches, kleines Mädchen, als das sie sich in Erinnerung hatte, dort sah sie eine alte Frau. Nun war sie also wirklich 55 Jahre alt und all die Jahre, die sie in Stein verwandet gewartet hatte, waren verloren. Da setzte sich die Prinzessin an den Brunnenrand und weinte bitterlich. Auf einmal spürte sie, dass sie jemand berührte. Es war der steinerne Drache, mit dem sie all die Jahre zusammen im Brunnen gestanden hatte.
„Bist du auch verzaubert gewesen wie ich?“, fragte sie erstaunt.
„Nein. Aber ich bin beauftragt, dir zu dienen, wenn du wieder lebendig bist. Ich kann dir viele Wünsche erfüllen“, entgegnete der steinerne Drache freundlich.
„Kannst du mich wieder jung machen?“ fragte die Prinzessin hoffnungsvoll.
„Nein, das geht nicht. Du bist wieder lebendig, aber die 50 Jahre sind verflossen und du bist jetzt eine alte Frau. Aber ich könnte dir dazu verhelfen, dass du dich wieder jung fühlst“, bot ihr der Drache an.
„Das ist doch lächerlich!“, sagte die Prinzessin ärgerlich. „Wie sollte ich mich jung fühlen können! Schau dir doch mein Gesicht an: diese Falten!“
„Die Liebe“, sagte der Drache weise, „die Liebe macht jung. Wenn dir die Liebe begegnen würde, dann könntest du dich wieder jung fühlen.“
„Gut“, meinte die Prinzessin sofort, „dann wünsche ich mir eben das. Mir soll die Liebe begegnen! Kannst du das machen?“
„Schon“, sagte der Drache nachdenklich und kratzte sich am Kopf. „Aber das ist kein leichter Wunsch für dich.“
„Wieso? Ich wünsche mir einen schönen Prinzen, der mich liebt. Und das wär’s dann“, meinte die Prinzessin schnell.
„Das wird nicht gehen“, wandte der Drache ein.
„Warum?“ Die Prinzessin schien allmählich die Geduld zu verlieren.
„Weil du keine Schätze hast, Prinzessin. Dein Vater hat alle seine Reichtümer verloren. Das Schloss gehört dir nicht mehr. Du bist arm. Und nur wenn du reich wärest, könnte ich dir wohl einen schönen, jungen Mann verschaffen, der dich liebt.“
„Ja, das kann ich mir denken“, seufzte die Prinzessin bitter. „Aber gut“, meinte sie dann, „dann eben einen älteren, aber einen, der mir gefällt und der gut zu mir ist.“
„Wir können es versuchen“, sagte der Drache, „aber du musst dir diese Liebe auch verdienen.“
„Noch was? Ich denke, du kannst mir Wünsche erfüllen!“, rief die Prinzessin ärgerlich.
„Ich kann dir den Wunsch erfüllen, dass dir die Liebe begegnet“, meinte der Drache ungerührt. „Aber es liegt bei dir, ob sie bleibt.“
„Was muss ich tun?“, fragte die Prinzessin begierig.
„Geh von hier in die große Stadt. Vor dem ersten Haus hinter der Stadtgrenze wartet auf dich ein Mann, den du lieben kannst und der dich lieben wird. Wenn du es schaffst, dass eure Liebe am Abend des dritten Tages noch besteht, dann hast du die Liebe gewonnen.“

Die Prinzessin wollte sich gleich auf den Weg machen, aber der Drache rief sie zurück.
„Weil wir beide hier so lange zusammen im Brunnen gestanden und uns kalte Füße geholt haben, möchte ich dir etwas geben, was dir bei der Lösung dieser Aufgabe helfen kann. Nimm diesen Stein. Wenn du nicht mehr weiter weißt oder dich in Gefahr wähnst, so wirf ihn zu Boden und ich werde kommen.“
Also machte sich die Prinzessin auf. Der Weg war weit und sie musste die ganze Nacht hindurch laufen. Als es schon wieder hell war, aber in den meisten Häusern die Menschen noch schliefen, kam sie an die Stadtgrenze. Kurze Zeit später stand sie vor einer hohen Hecke, die ein kleines, verstecktes Haus umschloss. Sie blickte durch das schmiedeeiserne Torgitter. Dort sah sie in einen herbstlichen Garten. Auf Beeten und an der Hauswand blühten Astern in allen Farben, an den Bäumen lockten goldenrote Äpfel, die Birken leuchteten schon gelb, eine Laube war über und über von dunkelrotem Wein umrankt. An einem weißen Tisch in der Laube saß ein Mann, der plötzlich aufsah und sie anblickte.
„Da bist du ja. Komm herein“, sagte er erfreut und ließ sie ein.
Er war nicht mehr jung, aber er gefiel ihr gut. Sie setzte sich zu ihm und sie sprachen miteinander. Sie verstanden sich vom ersten Moment an gut.
Als der Abend kam, saßen sie immer noch im Garten und unterhielten sich. Da stand er auf, küsste sie auf den Mund und erzählte ihr, dass er geträumt hätte, dass an diesem Tag in der ersten Morgenstunde eine Frau in sein Haus käme, die er lieben würde. Und nun habe sich sein Traum erfüllt.
Da freute sich die Prinzessin und berichtete ihm von ihrem Schicksal.
„Warst du auch 50 Jahre lang in einen Stein eingesperrt?“, fragte sie ihn schließlich.
„Nein“, lächelte er. „Ich habe in dieser ganzen Zeit gelebt. Ich habe acht Kinder und schon drei Enkelkinder. Ich hatte nacheinander zwei Frauen, die ich sehr geliebt habe.“
Da blieb der Prinzessin vor Überraschung der Mund offen stehen.
„Ich dachte, du hast auf mich gewartet“, sagte sie schließlich kleinlaut.
„Nein“, sagte der Mann. „Da waren vor dir andere Frauen. Ich kenne die Liebe. Aber jetzt liebe ich dich.“
Da tat der Prinzessin das Herz weh und in ihrer Not warf sie den Stein auf den Gartenweg. Das gab einen seltsamen Klang und dann stand der steinerne Drache vor ihr.
„Was soll ich machen, Drache? Er hatte schon andere Frauen und hat geliebt, lange bevor ich bei ihm war!“
„Am besten bist du froh darüber“, riet der Drache. „Wenn ihr beide bisher nur steinerne Erfahrungen gemacht hättet, würde keiner von euch wissen, wie man liebt. Was gewesen ist, das ist gewesen. Glaube ihm, dass er es heute ernst meint mit dir.“
Und damit war der Drache verschwunden.
Die Prinzessin musste heftig schlucken. Aber sie küsste ihren Liebsten und sie gingen zusammen ins Haus. Sie versuchte, nicht mehr an die anderen Frauen zu denken, die es vorher schon für ihn gegeben hatte. Und unter seinen zärtlichen Küssen vergaß sie ihren Kummer.

Als der Morgen kam nach einer wunderbaren Liebesnacht, sagte sie zu ihm, es sei sehr schön hier in seinem Gartenhäuschen, aber wo stände denn sein Schloss.
Der Mann sah sie erstaunt an. „Welches Schloss?“, fragte er.
„Ja, bist du denn kein Prinz?“, entfuhr es ihr.
„Wie kommst du darauf? Ich habe mein Lebtag von morgens bis abends Bücher gedruckt und gebunden, um mich und meine Kinder ernähren zu können. Und erst seit ein paar Jahren, seit mein Ältester die kleine Werkstatt übernommen hat, lebe ich hier draußen in aller Bescheidenheit und genieße die Ruhe. Ich habe gerade genug, um davon leben zu können. Aber ich lebe gerne und es geht mir nicht schlecht.“.
Diesmal blieb der Prinzessin die Sprache weg. Was sollte sie tun? Sie brauchte doch einen Prinzen!
Sie warf den Stein vor das Bett, dass er auf den Fliesen tanzte. Sofort stand der Drache da.
„Er ist gar kein Prinz!“, sagte sie empört.
„Wer hat denn gesagt, dass er ein Prinz sein wird?“, maulte der Drache. „Es reicht ja wohl auch ein Königskind in der Familie, oder? Und findest du nicht auch, dass einer, der Bücher zu drucken und zu binden vermag, 100 mal mehr wert ist als einer, der nur sein Geld zählen und auf die Jagd gehen kann?"
„Du bist mir ein schöner Wunschdrache!“, schimpfte die Prinzessin, aber sie meinte es nicht böse.
Denn sie sah sich ihren Liebsten genau an und stellte fest, dass es eigentlich wirklich keine Rolle spielte, ob er ein Prinz oder ein Buchbinder war und ob sie den Morgenkaffee hier tranken zwischen Astern und Weinranken oder in einem kühlen Schloss voller Rosen.
Und sie lebten weiter voller Freude und Liebe miteinander.
Als aber der dritte Tag sich dem Ende zuneigte, hörten sie draußen Pferdegetrappel. Sie traten vor das Haus und sahen einen Reiter mit seinem Pferd hinter der Hecke stehen. Er war jung und schön und ganz offensichtlich von edler Geburt.
„Entschuldigung, ist dies das erste Haus hinter der Stadtgrenze?“, fragte er höflich und sah die Prinzessin eindringlich an.
„Ja“, antwortete der Buchbinder zögernd. „Was kann ich für Euch tun?“
„Es wird Euch vielleicht merkwürdig vorkommen, aber ich hatte heute Nacht einen Traum. Ein Drache kam an mein Bett und sagte, ich solle heute Abend zu diesem Haus reiten, und die Prinzessin befreien, die hier festgehalten wird und auf mich wartet.“
„Hier wird keine Prinzessin festgehalten“, sagte der Buchbinder schnell und sah die Prinzessin an.
Sie errötete.
„Ich bin zwar eine Prinzessin“, sprach sie zögernd, „aber ich werde nicht festgehalten.“
„Dann muss es ein Irrtum sein“, meinte der Reiter höflich. „Bestimmt ist es ein anderes Haus. Aber vielleicht fällt euch ja noch irgendetwas ein, was mir helfen könnte, die Prinzessin zu finden, von der der Drache mir gesprochen hat, denn ich sehne mich nach ihr und möchte sie zu meiner Frau machen. Ich wohne im Gasthof zur Linde. Da könnt ihr mich erreichen.“ Er grüßte freundlich und ritt davon.
Die Prinzessin stand ratlos da. Der Stein fiel ihr aus der Hand und rollte vor das Tor auf die Straße. Da stand der Drache vor dem Tor und öffnete es weit.
„Komm, Prinzessin!“, sagte er. „Es ist nicht weit. Ich hatte dir gesagt, ich könnte dir keinen schönen, jungen Prinzen versprechen. Aber du siehst, ich habe es doch geschafft. Du musst jetzt nur zu ihm gehen. Es ist der Mann, der dich lieben wird. Er ist ganz leicht zu finden.“
Sie stand wie angewurzelt und blickte lange den Mann an, der neben ihr stand. Dann sah sie den Drachen an und sagte: “Danke, Drache! Aber ich habe ihn schon gefunden.“ Und sie umarmte den Buchbinder und küsste ihn. Dann wandte sie sich noch einmal an den Drachen und sprach: „Mach es gut, Drache! Und pass auf, dass du nicht so oft kalte Füße bekommst!“
Der Drache grinste. „Jetzt hast du es geschafft. Die Liebe gehört dir, Prinzessin! Und die Jugend. Schau in den Spiegel!“
Und damit verschwand er für immer.
Als die Prinzessin am Abend in den Spiegel sah, leuchteten ihr zwei glückliche Augen zwischen tausend Lachfältchen entgegen und sie pries ihr Schicksal.
Sie lebte noch lange und zufrieden mit ihrem Buchbinder zwischen den Astern und Weinranken. Als es später kalt wurde, rückten sie noch näher zusammen und wärmten sich gegenseitig. Und auf den Winter folgte ein neuer Frühling.
 

Ellinor

Mitglied
Hallo Mecky Pilar
Dein Märchen hat mich vom Anfang bis zum Ende gefesselt. Genau wie ein Märchen sein muß. Gut fand ich auch, wie die Prinzessin der Versuchung wiederstanden hat dem Prinzen zu folgen und lieber bei dem Mann blieb, den sie wirklich liebte. Ein sehr schönes Märchen.
Ellinor
 

Andreas E

Mitglied
Oh ja, das gefällt mir wirklich sehr. Der gesamte Aufbau ist zu 100 Prozent konform mit bekannten Märchen aus alten Tagen. Dennoch hast du hier aber etwas sehr eigenständiges geschaffen, das von Beginn an zu fesseln vermag.
An einigen Stellen hat mich der etwas zu modern geratene Erzählstil gestört (bei manchen Dialogen), aber im Gesamtbild fällt das kaum auf.
 



 
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