Der verkannte Ästhet

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Der verkannte Ästhet
Noch vor einem Dreivierteljahr hatte niemand den schleichenden Niedergang des Malergeschäfts von Helmut Zumrecht abgesehen, nicht seine Eltern, die lange ihr ganzes Vertrauen darin gesetzt hatten, dass er das Erbe seines Vaters würdevoll verträte und das Ansehen des Unternehmens in seiner kleinen Heimatstadt aufrecht erhielte, auch nicht seine Kinder, die in den letzten Jahren zwar gelegentlich bemerkt hatten, wie er etwas stiller geworden war, doch auch angesichts seiner Eigenart nie an seinen Fähigkeiten gezweifelt hatten, und nicht einmal seine Frau Petra, die sich nie für Helmut vor ihren Eltern hatte schämen müssen – hatte er doch mit seinem Geschäft lange Zeit einen ausreichenden Gewinn erwirtschaftet. Es mochte sein, dass Helmuts Umgebung seit längerem die ein oder andere Absonderlichkeit an ihm aufgefallen war, etwa wenn ihn Gäste zu späterer Stunde zunehmend unruhig werden gesehen hatten, bis er sich gegen Mitternacht kurz entschuldigte, um jedoch wenige Minuten später wieder bei bester Laune aufzutauchen; oder wenn er seinen Gesellen vor der Mittagspause mitgeteilt hatte, dass er – sie sollten sich nicht daran stören – „durcharbeiten“ werde; oder wenn er den sonntäglichen Familienspaziergang offensichtlich immer mehr als lästige Pflicht betrachtet und auf halbem Wege im Wald sich über das unausgewogene Verhältnis von Laub- und Nadelbäumen, über deren unregelmäßigen Abstand und über die ungleichmäßig angelegten Waldwege zu erregen begonnen hatte, bis sich gewöhnlich seine Frau entnervt dazu entschloss, den Weg nach Hause anzutreten, wo sich Helmuts Laune rasch wieder verbesserte – allerdings erst nach einigen Minuten, während denen er verschwunden blieb. Dieses seltsame Verschwinden, sei es bei Einladungen, in Mittagspausen oder nach Sonntagsspaziergängen, gab indes anfangs nur Anlass zu scherzhaften Vermutungen seiner Gäste und spöttischen Bemerkungen seiner Gesellen, jedoch führte es auch zum wachsenden Argwohn von Petra, bis sie ihm eines Abends – in der immer fixer gewordenen Vorstellung, dass er seine Rückzüge nutzte, um sie bei Telefongesprächen zu hintergehen – heimlich hinterher schlich, ihm in das geräumige Kellergeschoss folgte und durch die einen Spalt weit geöffnete Tür seiner kleinen Heimwerkstatt beobachtete, wie er eine weiße, mannshohe, die ganze Länge des Zimmers einnehmende Leinwand mit breiten, aber sorgfältig ausgeführten Pinselstrichen bemalte, ruhig und sehr konzentriert, ohne sich daran zu stören, dass das Weiß auf seinem Pinsel sich von demjenigen auf der Leinwand in nichts zu unterscheiden schien. Ebenso vertieft in die Betrachtung seines absurden Werkes wie sie in diejenige ihres Mannes, bemerkte er sie nicht, bis sie sich durch ein unwillentliches Anstoßen der knarrenden Tür zu erkennen gab. Er wandte sich um, musterte sie zuerst irritiert, dann verärgert, aber schließlich fast weinerlich, ähnlich einem kleinen Kind, das von seinen Eltern dabei überrascht worden war, wie es ihnen ein Weihnachtsgeschenk bastelte. Er stieß einige unfreundliche Worte hervor, über die sie sich in diesem Moment seltsamerweise keineswegs wunderte, säuberte mit verbitterter Miene seinen Pinsel, räumte schweigend seine Utensilien auf und verlor im Übrigen den ganzen weiteren Tag über kaum einziges Wort mehr. Stumm setzte er sich in den Sessel, blätterte leise in der Fernsehzeitung und verzichtete am Ende, obwohl es doch Sonntag war, dennoch darauf, den Fernseher auch nur eine Minute lang einzuschalten.
Sie sprachen nicht mehr darüber.
Vielleicht, so dachte Petra später, hätte ihr auffallen sollen, dass er von seiner Arbeit noch weniger als früher, ja schließlich gar nichts mehr erzählte; womöglich hätte sie dann bemerkt, dass er trotz der schwierigen Lage für die Handwerker gegenüber seinen Kunden in unbegreiflicher Weise wählerisch wurde und nur noch bestimmte Aufträge anzunehmen bereit war, nämlich ausschließlich diejenigen, bei denen es um ganze Fassadenausbesserungen ging, um große Außenwände, die weiß angestrichen werden sollten, obwohl ihm angesichts der Do-it-yourself-Bewegung daran hätte gelegen sein müssen, sich auch bei allerlei Innenanstrichen vor der Konkurrenz auszuzeichnen. Tatsächlich sollte diese Eigenart nicht nur auf das Unverständnis seiner Gesellen stoßen, die ihrer drohenden Entlassung durch den rechtzeitigen Wechsel ihres Arbeitgebers gerade noch zuvorzukommen wussten, sondern ihm auch den Ruf der mangelnden Fachkompetenz einhandeln, der schließlich sogar den guten Leumund seiner Familie zugrunde richtete. Ein Alkoholproblem, dachten die Nachbarn, Bekannten und ehemaligen Kunden, wird wohl die Ursache sein, tragisch das Ganze, aber keineswegs ein Anlass dazu, Mitleid zu empfinden.
Zumrecht war indes weit davon entfernt, solches einzufordern. Stumm und glücklich betrachtete er seine stets strahlend weißen Fassaden, ohne es sich erklären zu können, dass er so lange Zeit benötigt hatte, um sich ihres ästhetischen Wertes völlig bewusst zu werden, der sich mit der Größe der bemalten Fläche auf zauberhafte Weise von selbst steigerte, folglich von keiner kleinen Innenwand jemals erreicht werden konnte. Wenn er sich schließlich nach mehreren Korrekturen, deren Notwendigkeit erst bei der Gesamtbetrachtung seiner Arbeit offensichtlich wurde, mit seinem Werk zufrieden gab, bedauerte er es beinahe, es nicht durch einen erneuten Anstrich nochmals perfektionieren, nicht das Weiß mit akkuraten Pinselstrichen noch strahlender zu machen, nicht die klarste und reinste aller Farben noch makelloser auf die Wand auftragen zu dürfen, ohne bei seinen vorsichtigen Ansätzen dazu, die meist in die Mittagspause und in den Feierabend fielen, riskieren zu müssen, von den Auftraggebern argwöhnisch beobachtet zu werden. Schließlich aber sollte er lernen, sich auch von diesen Blicken nicht irritieren zu lassen und damit auch nicht von dem schwindenden Ansehen seines Geschäfts, das bald statt der jahrzehntelang üblichen schwarzen nur noch rote Zahlen schrieb. Offenbar wusste niemand außer ihm die Schönheit eines Werkes zu schätzen, dessen Eleganz und Ästhetik gerade in der Schlichtheit bestand, einer bei Zeitgenossen, die sich fortwährend und mehr aus Gewohnheit denn aus echtem Verlangen der ständigen Berieselung der Sinne aussetzten, völlig verkannten Qualität. Mit Gleichmut dagegen trug es Zumrecht, als er für sein Geschäft Konkurs anmeldete, und dass ihn seine Frau verließ und schließlich sogar seine Kinder sich irritiert von ihm abwandten, begriff er als logische Konsequenz der Tatsache, dass seine Kunst offenbar von allen unterschätzt wurde. Keine einzige Träne weinte er seiner zugrunde gerichteten Existenz hinterher, denn nichtswürdig war jegliche Empfindung einer finanziellen oder moralischen Schuld gegenüber seiner Familie, seinem Vater und seinem einstmals treuen Kundenstamm angesichts der Vollendung und Reinheit seiner Werke in blendendem Weiß.
 
L

Law

Gast
Hallo Roland,

eine sehr bemerkenswerte Geschichte, die mich anfänglich fast langweilte weil ich das Vorurteil hatte, der klinkt sich aus um einen zu trinken, aber dann gelang Dir die Überraschung mit dem verkannten Ästheten. Er hätte sich und seine Dienstleistung anders positionieren sollen. Als Spezialist für wirklich weisse Fassaden, als jemand der die meisten weissen Fassaden der Stadt gestrichen hatte mit dem Blick fürs spezielle weiss, einer der jeden Weiss - Ton kennt, als der Trendsetter in weiss, der Konzentration auf einzig existierende Fassaden nanotechnologisch auf ewig weiss.
Aber wer weiss das schon, ob das diesen Ästheten des farbigen Minimalismus die Familie oder gar die Frau erhalten hätte.

Tja so ist das Leben und respekt für diesen wirklich kreativen Ansatz.

kollegialer Gruß
LAW
 
N

nobody

Gast
Interessant und für das Thema wohl am geeignetsten war für mich die Erzählperspektive: Distanziert, dann wieder eine Annäherung an den Protagonisten, wenn es um dessen Gedanken und die Verteidigung seiner "Ideale" ging.

Stil und Sprache wie gewohnt erfreulich gut; ich erinnere mich an einen Spruch, der in meiner alten Schule an der Wand hing: "Gutes Deutsch in ganzen Sätzen!" Später haben wir gerätselt, ob das nun selber ein ganzer Satz sei...

Ein ganz kleiner Meckerpunkt: Ich hätte es leichter gehabt beim Lesen, wenn mir in der ersten Hälfte des Textes ein Absatz Gelegenheit zum Luftholen gegeben hätte.

Übrigens: Wenn ich mal ganz falsch liegen sollte mit meinen "freien Textassoziationen", wäre ich für einen Hinweis dankbar - ich bin noch nicht sehr sicher, was die "Textarbeit" angeht.

Gruß Franz
 



 
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