Der weinende Drache

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Ellinor

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Der weinende Drache

Im Drachenland ganz am Ende dieser Welt, wo kaum ein Mensch je gewesen ist, leben die Drachen ganz friedlich mit den Elfen und Gnomen zusammen.
Ihr müsst Euch vorstellen, dass dort alles ganz anders aussieht als in der übrigen Welt. Im Drachenland, wo die Berge Feuer speien und die Drachen in Seen aus flüssiger Lava baden, gibt es keine Häuser und Autos. Dafür gibt es dort Blumen aus Feuer und Bäume und Büsche, die feuriges Laub tragen. Die Berge sind aus Lavagestein, das aussieht wie funkelnde Diamanten.

Die Drachen leben in großen Höhlen zusammen, keiner ist einsam und allein, jeder hilft jedem und alle sind gut zueinander. Sie sind oft guter Dinge und leben fröhlich dahin, so auch die Familie unseres Drachen, der Domingo heißt.
Domingos Eltern sind stattliche Drachen und so groß,, dass es laut dröhnt, wenn sie lachen. Wenn die Drachen weinen würde das ganze Tal überschwemmt werden, so groß sind ihre Tränen. Die Tränen der Drachen sind ganz besonders wichtig für die Elfen und Gnome im Drachenland, weil es dort kein Wasser gibt. Den Elfen und Gnomen dienen die Tränen der Drachen als Getränk und da sie nicht, wie die Drachen, in flüssiger Lava baden können, baden sie in den Drachentränen.

Domingo lebt in einem Tal, das ganz von leuchtenden Bergen umgeben ist. Seine Familie ist recht klein für Drachenverhältnisse, da sie nur aus fünf Mitgliedern besteht. Außer Domingo und seinen Eltern gibt es noch zwei andere Drachenkinder. Domingo ist der Jüngste und einhundertundelf Jahre alt. Seine Schwester Berata ist einhundertunddreiundzwanzig Jahre alt, und Kamiro, Domingos Bruder, ist einhunderundneununddreißig Jahre alt.
Nun könnt ihr euch vorstellen, wie alt die Drachen werden. Die Legende berichtet von einem Drachen, der über dreitausend Jahre alt geworden sein soll.
Unsere Drachenfamilie könnte sehr glücklich sein, wenn es nicht ein Problem mit Domingo gegeben hätte. Domingo kann nicht weinen. So oft er es auch versucht hat, es mag nicht eine Träne aus seinen Augen fließen und darüber ist er sehr traurig. Er weiß wie wichtig seine Tränen sind.

Er überlegt, was er tun kann und beschließt, in die weite Welt zu fliegen, um irgendwo das Weinen zu lernen. Wie ihr sicher wisst, haben die Drachen goldene Flügel. Sie können über die höchsten Berge der Welt fliegen, ohne dass es sie besondere Mühe kosten würde.
Domingo nun teilt seiner Familie den Entschluss mit und alle äußern Bedenken, weil sie meinen, er sei zu jung dazu. Er aber ist nicht von seinem Entschluss abzubringen, und sein Argument, dass er nie glücklich sein könne, solange er nicht fähig sei zu weinen, überzeugt schließlich alle, so dass seine Reise beginnen kann.
Nach einem großen Abschiedsfest, an dem viele Bekannte und Verwandte teilnehmen, zieht Domingo seiner Wege. Von vielen Elfen und Gnomen begleitet, wandert er erst einmal zum Ende des Drachenlandes, das von einer großen Gebirgskette vom übrigen Teil der Welt abgeschlossen ist. An der Grenze des Landes verabschieden sich alle von Domingo, der nun doch ein wenig Angst bekommt.
Die Elfen schenken ihm eine Flöte aus Lavagestein mit den Worten: „ Wenn Du in das Land der Menschen kommst und nicht weiter weißt, spiele diese Flöte. Dann kommen die Elfen, die unsichtbar für die Menschen sind, Dir zur Hilfe.“
Domingo staunt, denn er weiß nicht, was Menschen sind, und die Elfen können es ihm nicht genau sagen.

Die Gnome überreichen ihm einen Stein mit den Worten: „ Auch Gnome leben unsichtbar bei den Menschen, die Du sehen wirst. Wenn Du Rat brauchst, reibe diesen Stein an Deinen Flügeln, dann kommen Dir die Gnome zu Hilfe.“
Auch die Gnome vom Drachenland können einen Menschen nicht genau beschreiben. Sie wissen nur, dass er sich auf zwei Beinen fortbewegt, keine Flügel hat und lauter unverständliche Dinge herstellt. Auch wissen sie, dass die ganz kleinen Menschenkinder Gnome und Elfen noch sehen können, weil sie an sie glauben.
Domingo ist nun wirklich ganz gespannt auf die Menschen und verabschiedet sich von seinen Freunden. Er ist etwas traurig, weil er nicht weiß, wann er sie wiedersehen wird.
Nachdem alle Elfen und Gnome umgekehrt sind, erhebt sich Domingo in die Luft, um das große Gebirge zu überqueren. Er fliegt höher und höher und dreht jauchzend Saltos in der Luft. Die größte Freude der Drachen ist es zu fliegen, zu schweben und Spiralen und Saltos in der Luft zu drehen. Dann aber erinnert er sich an seine große Aufgabe, die er sich gestellt hat. Er will die Menschen suchen, um sein Weinen zu finden.
Nachdem er die großen Berge überquert hat, sieht er ein ihm völlig unbekanntes Land. Alles kommt ihm fremd und merkwürdig vor. Da gibt es keine feuerspeienden Berge oder Lavaseen, da tragen die Bäume kein feuriges Laub. Das Land ist eben und glatt. Alles ist von einer Farbe, die Domingo nicht kennt.
In weiter Ferne sieht er viereckige Kästen und Türme, aus denen grauer Rauch quillt, so dass er denkt, sie müssten Feuer speien. Außerdem dringt Lärm aus dem Gebilde mit Kästen und Türmen, so dass ihm ganz ängstlich ums Herz wird.
„ Ob das eine Stadt ist?“ fragt sich Domingo.
Sein Großvater hat ihm mal erzählt, dass die Menschen große Kästen aus Stein bauen und in diesen leben. Weiter hat er ihm erzählt, dass sich so ein Gebilde Stadt nennt.
„ Ich muss doch einmal hinfliegen und nachsehen.“
Vor lauter Aufregung, vielleicht Menschen zu sehen, schlägt sein Herz ganz heftig. Ganz vorsichtig fliegt er auf die Stadt zu und bekommt einen riesigen Schreck wegen des Lärms, der zu ihm hoch schallt.
Er sieht seltsame Dinger, die sich mit lautem Getöse sehr schnell zwischen den Steinkästen hin und her bewegen. Er sieht auch viele Lebewesen, die auf zwei Beinen schnell und hektisch herumrennen.
„ Das müssen die Menschen sein“, denkt sich Domingo, „ aber was tun sie, warum rennen sie so hin und her?“
Er ist ganz verwirrt, so dass ihm der Kopf schwirrt. Der viele Krach und die Hektik der Stadt machen ihn müde und er beschließt, sich erst einmal auszuruhen.
Er fliegt zu einem Park, der zur Stadt gehört und landet auf einer Wiese. Am Liebsten würde er jetzt ein Bad in einem wärmenden Lavasee nehmen, aber bei den Menschen gibt es so etwas nicht.
Wenn er nicht beschlossen hätte weinen zu lernen, wäre er jetzt sofort wieder nach Hause geflogen. So aber wird er ausharren und sehen, wie er zurecht kommt.
Viele Tage lang beobachtet Domingo die Menschen und wird, außer von Kindern, von niemandem bemerkt. Er macht die seltsame Feststellung, dass die erwachsenen Menschen nicht weinen, nur Kinder lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Oft sind es auch nur die ganz Kleinen.
Er horcht auf die Gespräche der Menschen, nachdem er die Sprache einigermaßen verstehen gelernt hat. Er merkt, dass die Kinder so erzogen werden, dass sie mit ihren Gefühlen haushalten. Er lernt auch, dass die Menschen Regeln aufgestellt haben, und zwar, wie jemand zu sein hat. Oft können sich die Menschen nur über materielle Dinge freuen und nicht aus sich heraus fröhlich sein. Bei ihnen zählen meist nur Geld, Auto, Haus und andere Gegenstände. Nicht der Mensch ist wertvoll, sondern nur was er leistet oder hat.

Das macht Domingo sehr traurig und er denkt sich: „ Hier lerne ich das Weinen nie, aber ehe ich weiterziehe, werde ich die Stadtelfen und Gnome um Rat bitten."
Er bläst in seine Flöte und ein wunderbarer Ton klingt durch die ganze Stadt, so dass alle Kinder ihn hören können, aber nicht wissen wo er herkommt. Anschließend reibt er den Stein der Gnome an seinem Flügel und einen Moment lang liegt ein Regenbogenglanz über der ganzen Stadt. Diesen Glanz können wiederum nur die Kinder sehen.
An diesem Tag fühlen sich die Kinder verzaubert, so dass sie meinen, alle unmöglichen Dinge dieser Welt tun zu können.
Domingo aber sitzt im Park und wartet. Plötzlich hört er ein ganz feines Singen und weiß, dass die Elfen und Gnome kommen. Vor Freude darüber wird sein Herz ganz aufgeregt, denn alle Elfen und Gnome der Welt sind seine Freunde.
Ein ganzes Heer kommt auf ihn zu und begrüßt ihn ehrfürchtig. „ Du hast die Flöte der Elfenkönigin gespielt und den Stein des Gnomenkönigs benutzt, um uns zu rufen. „Was möchtest Du?“ fragen eine Elfe und ein Gnom.
Domingo erzählt, was ihm bei den Menschen widerfahren ist und dass er nun keine Hoffnung habe, bei ihnen das Weinen zu lernen.
„ Wir können Dir nur in Form eines Rates helfen“, ist die Antwort der Elfen und Gnome. „ Wir raten Dir, sieh richtig hin, schau den Menschen ins Gesicht. Du hast nur oberflächlich hingesehen. Sieh ihnen ins Herz und Du wirst die finden, die sie wirklich sind.“
Domingo ist ganz verwirrt, denn er hat sich mehr von den Elfen und Gnomen versprochen.
„ Also muss ich noch bleiben?“ fragt er.
„ Ja, bleibe und spüre! Was meinst Du wohl, wo die Tränen, das Lachen, die Träume, die Wärme und Liebe der Kinder bleiben. Schau bei den Erwachsenen richtig hin und Du wirst viel entdecken.“
Nach diesem Rat sprechen Domingo und seine Freunde über das Drachenland. Auch erfährt er noch viele Dinge über die Menschen und beschließt, nun zu bleiben, um sie sich genauer anzusehen.
Nachdem Elfen und Gnome sich von Domingo verabschiedet haben, fliegt er nach einem ausgiebigen Schlaf wieder in die Stadt und beobachtet alles genauer denn je.
Er blickt in die Augen der Menschen und sieht bis auf ihren Grund. Er vergleicht die Augen der Erwachsenen mit denen der Kinder und sieht, dass sie sich sehr unterscheiden. Die Augen der Kinder sind so klar wie Seen, strahlend wie blank geputzte Sterne und offen wie die Herzen der Elfen. Die Augen der Erwachsenen sind nicht mehr so offen und strahlend wie die der Kinder.
Domingo vergleicht auch die Gesichter der Erwachsenen und Kinder und sieht, dass Kindergesichter zart, weich, offen sind wie die Herzen der Elfen. Die Augen der Erwachsenen sind härter, verschlossener und beherrscht. In Kindergesichtern kann Domingo deutlicher lesen als in den Gesichtern der Erwachsenen.
Er bleibt noch sehr lange in der Stadt, hört ihren Gesprächen zu und lernt, in die Herzen der Menschen zu sehen. In ihnen sieht Domingo sehr viel Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, was sich aber nur ganz wenige zugestehen. Alle Gefühle der Menschen sind in ihrem Herzen versteckt und nicht verschwunden, wie Domingo erst glaubte.
Das macht ihn so traurig, dass er plötzlich laut weinen muss. Domingo merkt, dass er aus welchem Grund auch immer, den Menschen sehr ähnlich ist und sehr viel von seinen Gefühlen in seinem Herzen versteckt.
Die ersten Tränen Domingos wollen schwer aus seinen Augen fließen, so dass sie richtig brennen. Aber je klarer ihm wird, dass die Menschen all ihre Freude und Trauer in sich versteckt halten, umso mehr muss er weinen.
Damit die Stadt jedoch nicht überschwemmt wird, fliegt er so schnell es geht in den Park und weint so richtig von Herzen. Anschließend wird ihm so froh und leicht ums Herz, dass er laut lachen muss.

Nach einem letzten Flug über die Stadt weiß Domingo dass er wiederkommen wird. Dann macht er sich schnell auf den Weg nach Hause ins Drachenland, wo auf Grund seines Erfolges ein großes Fest gefeiert wird.
In der Stadt aber wundern sich die Leute über den riesigen See, der so plötzlich aufgetaucht ist. Als ein kleiner Junge das Wasser probiert, merkt er, dass es süß schmeckt und freut sich darüber.
Das liegt daran, dass die Tränen der Drachen süß sind.
 

pablo

Mitglied
Hallo Ellinor,

mir gefällt dein märchenhafter Stil!
Genauso, wie man des abends den Kindern eine gute-Nacht-Geschichte erzählt, ist dein Werk geschrieben. Das können heutzutage nur noch wenige. Deine Fantasie ist bewundernswert.

Gruß
Pablo
 

Ellinor

Mitglied
Hallo Pablo
Vielen Dank für Deine positive Rückmeldung. Es freut mich, daß Dir mein Märchen gefallen hat. Ich muß aber noch eine Menge lernen um mein Schreiben zu verbessern und freue mich über jeden Kommentar.
 



 
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