Der zweite Sonntag im Mai

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Die Dämmerung war sicher schon vorüber. Er wollte weiterschlafen und schlug die Augen nicht auf. Aber hier und da bimmelten Kirchenglocken zur Frühmesse über Stadt und Land. Ihre Klänge drangen wie kleine Pfeile ins noch kaum wache Bewusstsein und erweiterten den Spalt mit jeder halben Minute, die verging: unwiderruflich. Ja, die Zeit verging, auch zu dieser frühen Morgenstunde, und was sie einem, indem sie fortschritt, an Gefühl und Erkenntnis aufzwang, blieb haften für alle Zeit. Der junge Mann hätte es so nicht formulieren können – Spitzfindigkeiten waren seine Sache nicht -, dafür empfand er jetzt umso stärker Unlust und Widerwillen. Älter werden, in Zukunft nicht mehr jung sein … Er gab es auf und blinzelte ins Frühlicht.

Obgleich das Schlafzimmer nach Norden lag, ließen die weißen, durchscheinenden Vorhänge schon viel Licht herein. Der Tag würde schön werden.

Er wechselte die Seite und blickte nach der jungen Frau, seiner Frau, wie er ganz selbstverständlich bei sich dachte. Dabei waren sie noch kein Jahr verheiratet, keine sehr lange Zeit, auch nicht gemessen an ihrem bisherigen Leben. Er war siebenundzwanzig, sie drei Jahre jünger. Wenn er sie jedoch meine Frau nannte, nahm er die noch unabsehbare Reihe von Jahren vorweg, die er mit ihr verbringen würde. Diese zukünftigen Jahre waren ein Schatz: unverbrauchte, noch nicht beschmutzte, sozusagen chemisch reine Zeit, noch nicht behaftet mit jenem Film von Erinnerungen, die, wenn man ihnen auf den Grund ging, immer nur gemischte Gefühle erregten. Auch über diese Empfindungen war er sich nicht im Klaren. Aber sie waren vorhanden, ohne Zweifel, und stark.

Er würde diese zukünftigen Jahre mit ihr gemeinsam verleben. Diese Vorstellung war zugleich tröstlich, da es also noch Zukunft gab, und bedrohlich – im Hinblick darauf, dass aus jeder Zukunft einmal Vergangenheit würde.

Ingrid schlief noch. Von den vielen Jahren, die sie beide zusammen sein würden, würden sie einen beträchtlichen Teil verschlafen. Das war natürlich zu bedauern; er konnte diese Zeitspanne jetzt nicht mehr voll in Anschlag bringen. Andererseits hatte es auch sein Gutes: Man war sich nahe, ohne dass irgendetwas zwischen sie treten konnte. Ingrids Atem ging tief und regelmäßig, sie war schön, jetzt noch schöner als im wachen Zustand, fand er. So hatte es noch einen weiteren Vorteil, wenn sie von der kostbaren Zeit so viel verschliefen – und zwar zu einem großen Teil nicht beide gleichzeitig: Sie konnten sich dabei wechselseitig zu verschiedenen Zeiten ungestört betrachten.

Er ging von jeher gern früh schlafen und war dann morgens früh munter. Bei Ingrid war es umgekehrt. Er hatte versucht, sich umzugewöhnen, ihr zuliebe, und hatte es bald aufgegeben. Wenn er nun abends zu ihr sagte: Liebes, lass mich schlafen, ich bin müde, konnte er sicher sein, sie würde ihm von da an keine Fragen mehr stellen und auch sonst kein Wort zu ihm sagen. Nach spätestens fünf Minuten löschte sie ihre Lampe. Das war für ihn das Signal zum Aufbruch in die Regionen des Tiefschlafes. Innerlich war er dann weit fort von Ingrid, die er dennoch unbeweglich an seiner Seite wusste. Sie wachte neben ihm, sie wachte an seiner Stelle. Wenn er, was in dieser ruhigen Gegend selten vorkam, später durch Geräusche von draußen gestört wurde und dann aufwachte, konnte er oft an ihrer Atmung und der Haltung ihres Körpers erkennen, dass sie noch immer nicht eingeschlafen war. Sicher grübelte sie, das tun alle tüchtigen und pflichtbewussten Frauen. Er fragte sie bei Tag nie danach, glaubte jedoch, dass sie nachts an die GmbH dachte, die noch immer nicht gegründet war, oder an ihr erstes Kind, das bisher nicht kommen wollte.

Gekrümmt, wie sie nun dalag, wirkte sie fleischiger, als sie wirklich war. Der Oberarm war nahe an den Kopf herangezogen – wie zur Verteidigung, aber das sah nur so aus –, und zwischen Hals und Schlüsselbein war eine tiefe Höhlung entstanden, in die er sich jetzt mit seinem Blick zu vertiefen suchte. Leider lag die Stelle im Schatten. Noch war es zu früh, Ingrid aufzuwecken. Es war ja Sonntag, eine an sich erfreuliche Tatsache, nur befahl ein grausames, schwer zu befolgendes Gesetz, die eigene Frau, wenn sie Langschläferin war, wenigstens am Sonntag in den Tag hineinschlafen zu lassen. Irgendeine Nummer wäre da unkomplizierter gewesen, fuhr ihm durch den Sinn: Man hätte nicht so viel Rücksicht nehmen müssen. Dieser Widerstand, den sie ihm da nur in seinen Gedanken entgegensetzte, erregte ihn jetzt noch mehr. Er näherte seinen Mund der Höhlung zwischen Hals und Schlüsselbein und küsste sie sanft. Frauen hatten tatsächlich eine viel zartere Haut als Männer. Er musste daran denken, dass er zeitweise unter Rückenakne litt – und war doch sonst ein hübscher und gesunder Kerl! Ingrid rührte sich überhaupt nicht.

Zur Untätigkeit, zum Stillesein verurteilt, wurde er innerlich von Minute zu Minute unruhiger. Diese Unruhe erschien ihm jetzt wie eine Aufforderung zum Handeln, ein Reservoir an Kraft, das sich allmählich aufstaute und einen Abfluss suchte. Wenn sie dann endlich aufgestanden waren, unternahmen sie nur wenig. Sie frühstückten lange. Der Nachmittag ging unter Zerstreuungen dahin, die wenig Energie erforderten: kurze Ausflüge oder Besuche. Man fuhr oder saß herum. Im Haus und im Garten verrichteten sie nur das Nötigste. Er wäre so gern auch in der freien Zeit ein aktiver Mensch gewesen. Hinderte ihn Ingrid daran, es zu sein? Sie müssten eben früher aufstehen, dann würde alles anders werden. Er hatte schon daran gedacht, am Wochenende allein sehr früh aufzustehen und Ingrid weiterschlafen zu lassen. Dreierlei hielt ihn davon ab: Die Aussicht, sie zu nehmen, wenn sie, noch halb im Schlaf, sich sträubte, und ihr Widerstand dann allmählich nachließ und in Lust sich verwandelte; die Angst, sie zu verlieren, denn die Trennung für zwei Stunden am Sonntagmorgen erschien ihm bereits wie der Anfang einer endgültigen; schließlich – und das war vielleicht der Hauptgrund – eine gewisse Müdigkeit auch auf seiner Seite: Gewöhnlich kamen sie am Samstagabend, abweichend von den übrigen Tagen der Woche, erst nach Mitternacht zu Bett; er hatte zu wenig geschlafen und wusste im Grunde recht gut, dass er dann gar nicht imstande war, ernsthaft zu arbeiten oder Sport zu treiben.

Die Helligkeit hatte weiter zugenommen, das Licht von draußen war noch intensiver geworden. Es musste ein wunderbarer Maimorgen sein. Glänzend wird das Flusstal mit den Wiesen daliegen und drüben auf dem Hügel Neustadt, wo die Aufwinds herkamen. Es war ein seltener, echt fränkischer Name, und er war stolz auf ihn. Seit der Hochzeit wohnte Ingrid hier bei ihm im Dorf, im Bungalow, den seine Eltern noch gekauft hatten, kurz vor der Katastrophe. Vom Garten konnte er alles überblicken: das Dorf, das sich den Hang hinunterzog, das breite Tal, die Kreisstadt drüben.

Der Gedanke an den Vater, der geistig verwirrt und in einer Anstalt untergebracht war, und der an die Mutter, die sich deshalb umgebracht hatte, verdunkelten ihm für eine Weile das Zimmer. Es war sinnlos, noch einmal all dem nachzugrübeln. Onkel Georg und er, sie hatten das Geschäft wieder hinaufgebracht, das war alles, was sie damals noch hatten tun können, und das war nicht wenig, weiß Gott, es konnte sich sehen lassen. Um sich abzulenken, will er sich lieber auf den schönen Sonntag freuen, der nun hoffentlich bald anfängt.

Sie könnten zum Beispiel mit dem Motorrad hinauf ins Gebirge fahren, die erste größere Ausfahrt mit Ingrid in diesem Jahr. Das breite Wiesental aufwärts, dann auf die Hochstraße, wieder einmal auf den Goldberg – oder noch besser: die Hohe Kuppe. Zurück durch stillere Täler, wo die Strassen schmal sind, kurvenreich, und wo wenig Verkehr ist. Das ist genau das, was er sich wünscht. Aber Ingrid – sie wird vielleicht nicht wollen? Dann könnten sie ja stattdessen mit dem Wagen flussabwärts fahren. Der Biergarten, in dem sie im vorigen Sommer ab und zu gewesen sind, ist vielleicht schon offen. Man müsste vorher anrufen. In diesem Fall würde Ingrid natürlich auf dem Rückweg fahren müssen …

Eigentlich würde er doch lieber auf der Maschine sitzen. Wozu hat er sie denn wieder angemeldet? Es fällt ihm erst jetzt auf, dass Ingrid schon im vorigen Sommer und erst recht im Herbst nur noch selten mit ihm Motorrad gefahren ist. Wahrscheinlich ist sie auch früher nicht gern mitgekommen, er hat sich täuschen lassen. Er ist schön dumm gewesen zu glauben, er imponiere ihr, wenn er sie abgeholt und auch zurückgebracht hat. Er sieht sie noch im Vorgarten stehen und ihm zuwinken, er hat es manchmal nur im Rückspiegel gesehen. Und sind sie auf ihren Touren nicht wirklich ein hübsches Paar gewesen, zum Beispiel damals in Münsterbach beim Laurenzifest? Die Leute haben sich nach ihnen umgedreht, nicht bloß ihre Verwandten dort unten. Er spürt noch etwas von der Befriedigung, die er empfunden hat, wenn er sich damals so sah, wie ihn die anderen sehen mussten. Damals erschien ihm alles vollkommen, eben so, wie es sein sollte.

Plötzlich fiel ihm ein, dass heute Muttertag war. Scheiße, dachte er, Muttertag.

Beim Spätfilm gestern Abend hatte Ingrid ihm das Programm erläutert. Nicht etwa Vorschläge gemacht: Alles verstand sich ja von selbst. Und es fiel ihm jetzt nicht schwer, sich an jeden einzelnen Punkt zu erinnern. Alles würde nämlich geradeso ablaufen wie im vorigen Jahr, als sie noch verlobt waren und er zu jedem Opfer bereit. Zuerst, lange vor dem Mittagessen, zu seiner Oma ins Gasthaus. Das wird schnell vorbei sein, sie hat immer zu tun. Dann zu den Schwiegereltern und mit denen die Großeltern Mälzer abholen. Mit allen essen gehen. Der Tisch im Lamm ist sicher schon bestellt. Nachmittags kommen Ingrids Tanten. Man wird zum Friedhof fahren, dann spazieren gehen. Und schon wieder essen: Kaffee trinken am Markt. Dann bis zum Abendessen herumsitzen. Das wird zum Brechen öde werden. Schade um den schönen Tag!

Er ist schon entschlossen, sich zu drücken. Soll es Krach geben! Er weiß, was sie von ihm erwarten, und spürt eine Welle von Wut und Ekel in sich aufsteigen. In Augenblicken wie diesem verdunkelt sich alles in ihm, und er ist nicht imstande zu begreifen, in welchem Missverhältnis seine Erregung zu ihrem Anlass steht. Hätte ihm jedoch einer gesagt, dass er diese ganze evangelisch-biedere Sippschaft Mälzer-Leberecht aus tiefstem Herzen, aus tiefster Leber und von noch weiter unten herauf hasst, dann hätte er sogleich begeistert zugestimmt. Aber niemand sagt es ihm, und er selbst kommt nicht darauf.

Erschrocken sah er zu Ingrid hinüber, die noch immer ruhig weiterschlief. Sein Entschluss stand fest, das wusste er, aber mit ihm war auch das schlechte Gewissen da, das diese Entschlüsse gewöhnlich begleitete. Sie war schön, sie war seine Frau, er hatte sie heiraten dürfen. Sie war ebenso schön wie die nackte junge Frau damals auf dem Kalenderbild in Onkel Georgs Büro. War es eine Göttin? Umgeben von merkwürdigen Gestalten, schwebte sie keusch und verlockend auf einer Muschel. Einmal hatte er leider Olga auf das Bild angesprochen, Olga, die seine Tante war, die er jedoch aufgrund ihrer fortdauernden Jugendlichkeit nie Tante, sondern immer nur Olga nannte. Olga half schon damals stundenweise dem Onkel bei der Buchhaltung im Büro. Ob sie wisse, wer es gemalt habe und wie alt es sei. Nein, sagte Olga, sie wisse es nicht, es müsse ein alter Schinken sein, und es passe nicht in ein Trauerhaus. Dann stand sie auf und riss das Blatt von der Wand; Jahre hatte es dort schon gehangen. Sie zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Das war ein paar Monate, nachdem seine Mutter sich umgebracht hatte.

Es wäre vergeblich gewesen, hätte er Olga erklären wollen, auf welche Weise ihn die Göttin an seine Mutter erinnerte. Es war derselbe gleichmütige Gesichtsausdruck, mild und ergeben, fast schon gleichgültig. Jahre später lernte er dann Ingrid im Eiscafé kennen, und sie erinnerte ihn viel stärker noch, als seine verstorbene Mutter es getan hatte, an die zerstörte Reproduktion. In Wahrheit hatte Ingrid mit ihrem etwas länglichen Gesicht nicht viel Ähnlichkeit mit der Venus von Botticelli. Aber einmal konnte der junge Mann gar nicht mehr vergleichen, und zum anderen hatte er sein Bild von Ingrid schon nach kurzem der Göttin entsprechend modelliert, so wie er sie noch im Kopf hatte. Schließlich war für ihn jetzt bei Ingrid wie vorher bereits bei der Venus nicht das Gesicht die Hauptsache – die Hauptsache war dieser prachtvolle, etwas fleischige Körper. Zwar war Ingrid im Ganzen eher schlank, nur um die Hüften etwas stärker, das genügte indessen, sie zur Nachfolgerin der Göttin zu machen. Was hatte ihn schon an der Venus fasziniert: die Fülle des Unterleibes bei ziemlich kleinen Brüsten. Die Scham war sehr schamhaft verborgen unter der enormen rötlich blonden Haarflut, die sich wie eine Kaskade den Kopf herabstürzte, den linken Arm entlang. Arm und Haar bildeten eine Art Theatervorhang. Es war ein Leib, der schamhaft aus einer Kulisse herausschaute und –trat. Wesentliches blieb noch in der Reserve: die Rückseite. Und in diesem Punkt berührten sich übrigens Ingrid und die Göttin. Aber Ingrid wusste es zu umgehen, sie entzog sich ihm dann, und er wollte nicht mit Gewalt nehmen, was mit Gewalt zu nehmen in seiner Vorstellung untrennbar mit dem Akt selbst verbunden war. Immerhin ließ ihn Ingrid, im Unterschied zur Göttin, ab und zu ihre Rückseite betrachten, ja, sie nutzte seine Schwäche und Erregbarkeit aus, wenn sie ihn erregen wollte. Diese Art von kleiner schlauer Berechnung entging ihm auf die Dauer nicht, und sie gefiel ihm.

Besaß er das, was man früher eine schmutzige Phantasie genannt hatte? Keineswegs, auch Phantasie war nämlich seine Sache nicht. Dafür hatte er zeitweise ein Bedürfnis nach den Produkten einer schmutzigen oder eher noch gewalttätigen Phantasie. Er war also im Wesentlichen eine passive Natur. Aber wehe wenn ihm das einer gesagt hätte: Dem wäre es schlecht ergangen.

Er hielt es nicht länger aus. Sich über sie beugend, begann er, Ingrid wiederholt sanft auf die Stirn zu küssen. Wie eine Göttin, dachte er und war voller Rührung. Sie schlug langsam die Augen auf, ihr erster Blick an diesem Morgen traf ihn. Er sank auf sie und empfand sehr viel Zärtlichkeit. Heute würde es besonders gut werden, jedenfalls viel besser als gewöhnlich. Überschwemmt vom eigenen Gefühl, entging ihm, dass sie schon vollkommen wach war.

Sie fragte: „Theo, wie spät ist es denn?“

Er war selbst erstaunt: bereits halb neun. Stundenlang lag er also schon wach.

„Wir müssen sofort aufstehen. Wir haben nicht so viel Zeit wie sonst. Du weißt doch, heute ist Muttertag.“ Sie glitt unter ihm fort, und er blieb liegen, blieb schmollend im Bett und hörte sie im Badezimmer hantieren.

Ihr jetzt grollen zu können, passte ihm gut, taktisch gesehen. Sie hatte sich ihm entzogen, sie war im Unrecht, er von Anfang an im Vorteil. Dies bedachte er, während er duschte und sie für ein eiliges Frühstück sorgte. Also behielt er das Schmollen einfach bei. Sie blieb freundlich, sagte aber nur wenig, aus Vorsicht. Er schien bedrückt und gab sich einsilbig, vermied ihren Blick. Einmal begegneten sich die Blicke doch, als sie beide zur selben Zeit die Münder aus den Kaffeetassen hoben. Gespannt prüfte er ihre Reaktion, versenkte sich bohrend in ihre Augen und zog den eigenen Blick nach Sekunden befriedigt zurück: Sie wusste schon alles, es würde gar keinen Kampf geben. Wie nach dreißig Jahren Ehe, ging ihm durch den Kopf. Und wirklich war es nicht die erste Krise dieser Art. Er hätte an Silvester denken können – der Abend war katastrophal zu Ende gegangen – oder an den Antrittsbesuch ihrer Tanten bei ihnen – sie würden kein zweites Mal kommen, so grob war er gewesen. Aber er vermied es jetzt, sich an diese Szenen zu erinnern. Die Erinnerung daran hätte ihn vielleicht beschämen können, und das wäre dem Schmollen und Grollen abträglich gewesen. Um sich durchzusetzen, musste er stark bleiben, um seinen Willen zu bekommen, musste er seine ganze Kraft einsetzen. Er war verletzt, und sie wollte ihm zu viel zumuten.

Noch hielt sie dem Schein nach daran fest, der Tag würde nach Plan in der Familie verbracht. Sie riet ihm, den leichten, hellgrauen Anzug zu tragen, dazu die nachtblaue Krawatte. Fertig angezogen sah er – schwarzhaarig, groß und breitschultrig – überraschend solide aus. Sie nahm den Fliederstrauß aus der Vase, den sie am Vorabend im Garten geschnitten hatte. Der Strauß entsprach farblich seiner Krawatte, das fiel ihm auf.

Sie wurde schon etwas nervös, aber er sagte noch immer nichts. So verließen sie das Haus, er holte den Wagen aus der Garage. Erst als sie neben ihm saß, die Geschenkpakete auf den Knien, den Flieder in der Linken, bemerkte er leichthin, sie müssten ja nicht den ganzen Tag bei den Eltern verbringen. Dazu sei der Tag viel zu schön.

Wie er sich das denke, das sei unmöglich, alles sei vorbereitet, das Essen im Lamm, Kaffee trinken, Abendessen … An einem Tag wie heute die Mutter allein lassen!

Reiche es denn nicht, sie am Vormittag zu besuchen, ihr die Geschenke zu geben, ihr Gutes zu wünschen, sich eine Stunde mit ihr zu unterhalten? All das sei doch schon etwas Besonderes. Und außerdem, fügte er roh hinzu, lebe seine Mutter ja nicht mehr, er beanspruche die Zeit, die sie, lebte sie noch, bei ihr verbracht hätten.

Worauf sie ihm entgegenhielt, ein viel größeres Opfer sei es für sie, einmal im Vierteljahr mit ihm den Vater in der Anstalt zu besuchen.

Er gab ihr keine Antwort. Er war ihr jetzt ernstlich böse. Dass sie den Gang zum Alten, der hilflos, der eine Ruine war, mit dem sinnlosen Herumsitzen bei ihren Verwandten vergleichen musste! Lief es darauf hinaus, dass sie heute nachgeben wollte, wenn er in Zukunft allein zur Anstalt fuhr?

Sie saßen stumm nebeneinander. Er lenkte den Wagen über die Brücke, durchs Stadttor. Endlich bog er in die kleine Gasse ein, dann von der Strasse ab in die Hofeinfahrt. Ein Messingschild: Glaserei Aufwind – hier war er zu Hause. Die Werkstatt, seit fünfundzwanzig Jahren auf dem Hof des Schwarzen Bären untergebracht, lag verschlossen da. Onkel Georg war vermutlich zu einem Frühschoppen fortgegangen. Olga schlief am Sonntag lange. Sie gingen durch den Hintereingang in die Gaststube hinein.

Seine Großmutter war beschäftigt. Einige Gäste reisten ab, sie stellte die Rechnungen aus. Theo und Ingrid hockten sich an den leeren Stammtisch, um auf sie zu warten.

Die Alte, weißhaarig, über siebzig, mit Augen, die vor Schwäche blinzelten, kam herüber und setzte sich für drei Minuten zu ihnen. Ihr Gesicht wies auffallend wenige Spuren des Alters auf. Die Haut war noch ziemlich glatt und gut durchblutet. Die Jahre und Jahrzehnte hatten dennoch ihr Werk der Zerstörung getan: Das Gesicht der Alten war starr, entblößt von jeder Mimik, unfähig, das geringste Gefühl auszudrücken. Hatte sich die Haut deshalb so frisch erhalten? Theo schätzte seine Großmutter, aber er sah sie nicht gern längere Zeit an.

Die beiden jungen Menschen hätten nicht sagen können, ob ihr Geschenk, eine Brosche, willkommen war. „Ist recht. Danke schön. Und ihr zwei, fahrt ihr noch ans Grab deiner Mutter.“ Uralt klang die Stimme, brüchig. Sie sagte dann, sie hätte zu tun, sie müsse sich als Nächstes darum kümmern, dass die Zimmer aufgeräumt würden; sie sollten jetzt gehen. Theo sah während der Woche fast täglich zu ihr herein.

Das Ehepaar fuhr, wie schon im Vorjahr, danach zu den Schwiegereltern. Theo lenkte den Wagen zur Gartenstadt.

Er schwieg weiterhin. Da nahm sie den Faden wieder auf. Natürlich könne sie ihn nicht zwingen, in Neustadt zu bleiben, aber sie könne nicht fort, ihr Platz sei heute im Haus der Eltern. Er müsse sich daher entscheiden: Bleibe er bei ihnen, komme sie auch in Zukunft mit in die Anstalt. Anderenfalls müsste er dann den Vater allein besuchen.

Das war stark – Erpressung. Die Besuche beim Alten waren viel eher zu ertragen, wenn sie zu zweit dort waren. Die Blicke gehen zwischen drei Personen leichter hin und her als zwischen zweien. Wenn ihm das Bild des Vaters peinlich wurde, sah er hinüber zu Ingrid und fand dann die Kraft, noch etwas zu sagen. Allein mit dem Vater stockte das Gespräch häufig, seine Besuche endeten dann viel zu rasch: regellose Flucht. Allerdings waren sie gerade erst draußen gewesen. In einem Vierteljahr hat er sie vielleicht umgestimmt. Irgendein Grund wird sich schon finden, sie wird auch wieder einmal nachgeben müssen. Der Aussicht, das Haus Leberecht heute schon nach kurzem wieder verlassen zu können, konnte er jetzt nicht widerstehen.

Er sagte, er wolle dann den Tag lieber allein verbringen. Er werde spazieren fahren.

„Du brauchst aber einen triftigen Grund. Nicht dass ihnen die Stimmung von Anfang an verdorben ist. Sag, dass du unerwartet zum Aufmessen auf eine Baustelle musst.“

„In diesem Aufzug? So dumm sind sie nicht.“
Sie lachten beide zur gleichen Zeit. „Erzähle ihnen was von einer Reklamation. Du musst mit den Auftraggebern verhandeln. Ausmessen und verhandeln. Es ist eilig, die Sache muss in Ordnung gebracht werden, bevor die Arbeit morgen weitergeht.“

„Ja, so wird’s gehen.“ Er war mit ihr zufrieden.

Sie waren eine Dreiviertelstunde zu spät. Die Schwiegereltern saßen feiertäglich angezogen in ihrem Wohnzimmer. Herr Leberecht trug schon den Mantel über dem Arm. Sie waren an Pünktlichkeit gewöhnt. Die Großeltern waren es ebenso und warteten jetzt vermutlich schon in derselben Haltung in ihrem eigenen Haus, zwei Strassen weiter. Für längeres Verweilen war keine Zeit mehr.

Ingrid übernahm es, für ihn zu lügen. Auch in diesem Punkt hatte sie nicht genügend Zutrauen in ihn. Die Eltern blickten erst misstrauisch. Dass hier etwas nicht in Ordnung war, schien zum Greifen nahe. Sie ergriffen es aber nicht, vielmehr malten sich auf ihren Gesichtern dann lauter zwiespältige Gefühle ab. Dass er so fleißig war und die Firma so gut versehen mit Aufträgen, war doch ein Grund, auf ihn stolz zu sein. Die Befriedigung gewann die Oberhand, das Misstrauen schmolz bis auf einen kleinen Rest dahin.

Herr Leberecht wollte wissen, um welches Objekt es sich denn handele, wieder die Ferienhauskolonie in den Bergen? – Nein, nein, sagte Theo rasch, etwas Neues, unten am Kanal.

Herr Leberecht meinte, die Ferienhäuser hätten schon genügend Ärger bereitet. Ob sie sich damit nicht übernommen hätten?

Fünf Minuten später gingen alle vier zusammen aus dem Haus. Theo fuhr als erster weg. Es war wie Urlaub. Dabei wäre es ihm am Morgen noch wie ein Verbrechen vorgekommen, Ingrid weiterschlafen zu lassen und allein im Garten zu arbeiten.

Er überlegte, ob er nach Hause fahren und aufs Motorrad umsteigen solle. Aber das würde vielleicht bei den Nachbarn Aufsehen erregen, an einem Tag wie heute. Außerdem hatte er es jetzt eilig, aus der Gegend fortzukommen. Seine Unruhe war seit seinem Erwachen ständig größer geworden. Er blieb auf der Bundesstrasse und fuhr an seinem Dorf vorbei.

Im Radio spielten sie ein altes Lied: Downtown. Er summte es mit: Dann geh in die Stadt - Downtown … Später befand er sich auf der Autobahn, ohne ein Ziel zu haben. Die Strecke war frei, er fuhr sehr schnell, er fuhr immer weiter nach Süden.
 

Vera S

Mitglied
Lieber Arno,
ich lese deine Texte immer sehr gern - sie wirken gleichzeitig gewandt und unangestrengt, auch bei dieser Erzählung gelingt es dir wieder, die Tiefen bzw. Untiefen eines Protagonisten auszuloten, der, obwohl er kein "besonderer" Mensch ist, durch deine sensible Analyse besonders wird. Du verurteilst nicht, beurteilst nicht einmal.
Irritiert hat mich der Wechsel ins Präsens. Auch nach dem zweiten Lesen bin ich nicht sicher, ob er plausibel ist. Wir hatten das Thema an anderer Stelle, der Wechsel ins Präsens vermeidet die übermäßige Nutzung des Plusquamperfekts. Aber besonders an dieser Stelle... quote: "Er spürt noch etwas von der Befriedigung, die er empfunden hat, wenn er sich damals so sah, wie ihn die anderen sehen mussten. Damals erschien ihm alles vollkommen, eben so, wie es sein sollte.

Plötzlich fiel ihm ein, dass heute Muttertag war. Scheiße, dachte er, Muttertag."


... bin ich darüber gestolpert.

Liebe Grüße
Vera
 
Übergang ins Präsens oder besser nicht?

Danke, Vera, für die freundlichen Bemerkungen. Die von dir geschilderte Irritation spricht für genaues Lesen, das sollte dem Autor immer angenehm sein. Hier muss ich zur Erklärung etwas ausholen. Natürlich geht es an dieser Stelle nicht um Vermeidung des Plusquamperfekts. Der Wechsel ins Präsens ist vielmehr ein Mittel, das eine bestimmte Struktur erzeugen soll, nämlich die Darstellung der Hauptfigur von außen wie von innen. Der Begriff Wechsel der Erzählperspektive würde es nicht ganz treffen, eher ist es dem Heranzoomen beim Film vergleichbar. Das Präsens soll also die Distanz zur Figur stark verringern.

Der gesamte Text weist diese Tendenz auf, allerdings mit unterschiedlichen Stilmitteln. Schon der erste Absatz enthält die Spannbreite zwischen "objektiver" und "subjektiver" Darstellung. Im ersten Satz zeigt das Wort "sicher" an, dass es um eine Einschätzung der Lage durch den Helden geht. Im objektiven Erzählstil dürfte es einfach nur heißen: "Die Dämmerung war schon vorüber." Das Wort "sicher" hat also dieselbe Funktion wie das Präsens später. Umgekehrt entfernt sich noch im selben ersten Absatz der Text vom Helden, wird "objektiv" und stellt fest: "Der junge Mann hätte es so nicht formulieren können ..." Dieses Muster kehrt später immer wieder.

Da, wo du gestolpert bist, stellt sich in der Tat die Frage, ob die Rückkehr ins Imperfekt (die ja irgendwann fällig ist) genau hier geschickt ist. Ich meine, der Wechsel gerade an dieser Stelle markiert noch etwas: die Ablösung mehr oder weniger angenehmer Bewusstseininhalte durch einen rein negativen. Da ist eine Art stilistische Inversion im Spiel: Die positiv erinnerte Vergangenheit ("Laurenzifest") steht im Präsens und wird durch abrupten Wechsel in die aktuelle Problematik ("Muttertag") beiseitegeschoben. Das Präsens ist das Tempus relativ freier Subjektivität, das Imperfekt verkörpert den Zwang, der von außen kommt.

Der Text ist übrigens das Anfangskapitel eines langen, noch unveröffentlichten Romans. Mir scheint, es kann als abgeschlossene Erzählung mit offenem Ausgang durchgehen.

Schönen Morgengruß
Arno
 
Die Dämmerung war sicher schon vorüber. Er wollte weiterschlafen und schlug die Augen nicht auf. Aber hier und da bimmelten Kirchenglocken zur Frühmesse über Stadt und Land. Ihre Klänge drangen wie kleine Pfeile ins noch kaum wache Bewusstsein und erweiterten den Spalt mit jeder halben Minute, die verging: unwiderruflich. Ja, die Zeit verging, auch zu dieser frühen Morgenstunde, und was sie einem, indem sie fortschritt, an Gefühl und Erkenntnis aufzwang, blieb haften für alle Zeit. Der junge Mann hätte es so nicht formulieren können – Spitzfindigkeiten waren seine Sache nicht -, dafür empfand er jetzt umso stärker Unlust und Widerwillen. Älter werden, in Zukunft nicht mehr jung sein … Er gab es auf und blinzelte ins Frühlicht.

Obgleich das Schlafzimmer nach Norden lag, ließen die weißen, durchscheinenden Vorhänge schon viel Licht herein. Der Tag würde schön werden.

Er wechselte die Seite und blickte nach der jungen Frau, seiner Frau, wie er ganz selbstverständlich bei sich dachte. Dabei waren sie noch kein Jahr verheiratet, keine sehr lange Zeit, auch nicht gemessen an ihrem bisherigen Leben. Er war siebenundzwanzig, sie drei Jahre jünger. Wenn er sie jedoch meine Frau nannte, nahm er die noch unabsehbare Reihe von Jahren vorweg, die er mit ihr verbringen würde. Diese zukünftigen Jahre waren ein Schatz: unverbrauchte, noch nicht beschmutzte, sozusagen chemisch reine Zeit, noch nicht behaftet mit jenem Film von Erinnerungen, die, wenn man ihnen auf den Grund ging, immer nur gemischte Gefühle erregten. Auch über diese Empfindungen war er sich nicht im Klaren. Aber sie waren vorhanden, ohne Zweifel, und stark.

Er würde diese zukünftigen Jahre mit ihr gemeinsam verleben. Diese Vorstellung war zugleich tröstlich, da es also noch Zukunft gab, und bedrohlich – im Hinblick darauf, dass aus jeder Zukunft einmal Vergangenheit würde.

Ingrid schlief noch. Von den vielen Jahren, die sie beide zusammen sein würden, würden sie einen beträchtlichen Teil verschlafen. Das war natürlich zu bedauern; er konnte diese Zeitspanne jetzt nicht mehr voll in Anschlag bringen. Andererseits hatte es auch sein Gutes: Man war sich nahe, ohne dass irgendetwas zwischen sie treten konnte. Ingrids Atem ging tief und regelmäßig, sie war schön, jetzt noch schöner als im wachen Zustand, fand er. So hatte es noch einen weiteren Vorteil, wenn sie von der kostbaren Zeit so viel verschliefen – und zwar zu einem großen Teil nicht beide gleichzeitig: Sie konnten sich dabei wechselseitig zu verschiedenen Zeiten ungestört betrachten.

Er ging von jeher gern früh schlafen und war dann morgens früh munter. Bei Ingrid war es umgekehrt. Er hatte versucht, sich umzugewöhnen, ihr zuliebe, und hatte es bald aufgegeben. Wenn er nun abends zu ihr sagte: Liebes, lass mich schlafen, ich bin müde, konnte er sicher sein, sie würde ihm von da an keine Fragen mehr stellen und auch sonst kein Wort zu ihm sagen. Nach spätestens fünf Minuten löschte sie ihre Lampe. Das war für ihn das Signal zum Aufbruch in die Regionen des Tiefschlafes. Innerlich war er dann weit fort von Ingrid, die er dennoch unbeweglich an seiner Seite wusste. Sie wachte neben ihm, sie wachte an seiner Stelle. Wenn er, was in dieser ruhigen Gegend selten vorkam, später durch Geräusche von draußen gestört wurde und dann aufwachte, konnte er oft an ihrer Atmung und der Haltung ihres Körpers erkennen, dass sie noch immer nicht eingeschlafen war. Sicher grübelte sie, das tun alle tüchtigen und pflichtbewussten Frauen. Er fragte sie bei Tag nie danach, glaubte jedoch, dass sie nachts an die GmbH dachte, die noch immer nicht gegründet war, oder an ihr erstes Kind, das bisher nicht kommen wollte.

Gekrümmt, wie sie nun dalag, wirkte sie fleischiger, als sie wirklich war. Der Oberarm war nahe an den Kopf herangezogen – wie zur Verteidigung, aber das sah nur so aus –, und zwischen Hals und Schlüsselbein war eine tiefe Höhlung entstanden, in die er sich jetzt mit seinem Blick zu vertiefen suchte. Leider lag die Stelle im Schatten. Noch war es zu früh, Ingrid aufzuwecken. Es war ja Sonntag, eine an sich erfreuliche Tatsache, nur befahl ein grausames, schwer zu befolgendes Gesetz, die eigene Frau, wenn sie Langschläferin war, wenigstens am Sonntag in den Tag hineinschlafen zu lassen. Irgendeine Nummer wäre da unkomplizierter gewesen, fuhr ihm durch den Sinn: Man hätte nicht so viel Rücksicht nehmen müssen. Dieser Widerstand, den sie ihm da nur in seinen Gedanken entgegensetzte, erregte ihn jetzt noch mehr. Er näherte seinen Mund der Höhlung zwischen Hals und Schlüsselbein und küsste sie sanft. Frauen hatten tatsächlich eine viel zartere Haut als Männer. Er musste daran denken, dass er zeitweise unter Rückenakne litt – und war doch sonst ein hübscher und gesunder Kerl! Ingrid rührte sich überhaupt nicht.

Zur Untätigkeit, zum Stillesein verurteilt, wurde er innerlich von Minute zu Minute unruhiger. Diese Unruhe erschien ihm jetzt wie eine Aufforderung zum Handeln, ein Reservoir an Kraft, das sich allmählich aufstaute und einen Abfluss suchte. Wenn sie dann endlich aufgestanden waren, unternahmen sie nur wenig. Sie frühstückten lange. Der Nachmittag ging unter Zerstreuungen dahin, die wenig Energie erforderten: kurze Ausflüge oder Besuche. Man fuhr oder saß herum. Im Haus und im Garten verrichteten sie nur das Nötigste. Er wäre so gern auch in der freien Zeit ein aktiver Mensch gewesen. Hinderte ihn Ingrid daran, es zu sein? Sie müssten eben früher aufstehen, dann würde alles anders werden. Er hatte schon daran gedacht, am Wochenende allein sehr früh aufzustehen und Ingrid weiterschlafen zu lassen. Dreierlei hielt ihn davon ab: Die Aussicht, sie zu nehmen, wenn sie, noch halb im Schlaf, sich sträubte, und ihr Widerstand dann allmählich nachließ und in Lust sich verwandelte; die Angst, sie zu verlieren, denn die Trennung für zwei Stunden am Sonntagmorgen erschien ihm bereits wie der Anfang einer endgültigen; schließlich – und das war vielleicht der Hauptgrund – eine gewisse Müdigkeit auch auf seiner Seite: Gewöhnlich kamen sie am Samstagabend, abweichend von den übrigen Tagen der Woche, erst nach Mitternacht zu Bett; er hatte zu wenig geschlafen und wusste im Grunde recht gut, dass er dann gar nicht imstande war, ernsthaft zu arbeiten oder Sport zu treiben.

Die Helligkeit hatte weiter zugenommen, das Licht von draußen war noch intensiver geworden. Es musste ein wunderbarer Maimorgen sein. Glänzend wird das Flusstal mit den Wiesen daliegen und drüben auf dem Hügel Neustadt, wo die Aufwinds herkamen. Es war ein seltener, echt fränkischer Name, und er war stolz auf ihn. Seit der Hochzeit wohnte Ingrid hier bei ihm im Dorf, im Bungalow, den seine Eltern noch gekauft hatten, kurz vor der Katastrophe. Vom Garten konnte er alles überblicken: das Dorf, das sich den Hang hinunterzog, das breite Tal, die Kreisstadt drüben.

Der Gedanke an den Vater, der geistig verwirrt und in einer Anstalt untergebracht war, und der an die Mutter, die sich deshalb umgebracht hatte, verdunkelten ihm für eine Weile das Zimmer. Es war sinnlos, noch einmal all dem nachzugrübeln. Onkel Georg und er, sie hatten das Geschäft wieder hinaufgebracht, das war alles, was sie damals noch hatten tun können, und das war nicht wenig, weiß Gott, es konnte sich sehen lassen. Um sich abzulenken, will er sich lieber auf den schönen Sonntag freuen, der nun hoffentlich bald anfängt.

Sie könnten zum Beispiel mit dem Motorrad hinauf ins Gebirge fahren, die erste größere Ausfahrt mit Ingrid in diesem Jahr. Das breite Wiesental aufwärts, dann auf die Hochstraße, wieder einmal auf den Goldberg – oder noch besser: die Hohe Kuppe. Zurück durch stillere Täler, wo die Strassen schmal sind, kurvenreich, und wo wenig Verkehr ist. Das ist genau das, was er sich wünscht. Aber Ingrid – sie wird vielleicht nicht wollen? Dann könnten sie ja stattdessen mit dem Wagen flussabwärts fahren. Der Biergarten, in dem sie im vorigen Sommer ab und zu gewesen sind, ist vielleicht schon offen. Man müsste vorher anrufen. In diesem Fall würde Ingrid natürlich auf dem Rückweg fahren müssen …

Eigentlich würde er doch lieber auf der Maschine sitzen. Wozu hat er sie denn wieder angemeldet? Es fällt ihm erst jetzt auf, dass Ingrid schon im vorigen Sommer und erst recht im Herbst nur noch selten mit ihm Motorrad gefahren ist. Wahrscheinlich ist sie auch früher nicht gern mitgekommen, er hat sich täuschen lassen. Er ist schön dumm gewesen zu glauben, er imponiere ihr, wenn er sie abgeholt und auch zurückgebracht hat. Er sieht sie noch im Vorgarten stehen und ihm zuwinken, er hat es manchmal nur im Rückspiegel gesehen. Und sind sie auf ihren Touren nicht wirklich ein hübsches Paar gewesen, zum Beispiel damals in Münsterbach beim Laurenzifest? Die Leute haben sich nach ihnen umgedreht, nicht bloß ihre Verwandten dort unten. Er spürt noch etwas von der Befriedigung, die er empfunden hat, wenn er sich damals so sah, wie ihn die anderen sehen mussten. Damals erschien ihm alles vollkommen, eben so, wie es sein sollte.

Plötzlich fiel ihm ein, dass heute Muttertag war. Scheiße, dachte er, Muttertag.

Beim Spätfilm gestern Abend hatte Ingrid ihm das Programm erläutert. Nicht etwa Vorschläge gemacht: Alles verstand sich ja von selbst. Und es fiel ihm jetzt nicht schwer, sich an jeden einzelnen Punkt zu erinnern. Alles würde nämlich geradeso ablaufen wie im vorigen Jahr, als sie noch verlobt waren und er zu jedem Opfer bereit. Zuerst, lange vor dem Mittagessen, zu seiner Oma ins Gasthaus. Das wird schnell vorbei sein, sie hat immer zu tun. Dann zu den Schwiegereltern und mit denen die Großeltern Mälzer abholen. Mit allen essen gehen. Der Tisch im Lamm ist sicher schon bestellt. Nachmittags kommen Ingrids Tanten. Man wird zum Friedhof fahren, dann spazieren gehen. Und schon wieder essen: Kaffee trinken am Markt. Dann bis zum Abendessen herumsitzen. Das wird zum Brechen öde werden. Schade um den schönen Tag!

Er ist schon entschlossen, sich zu drücken. Soll es Krach geben! Er weiß, was sie von ihm erwarten, und spürt eine Welle von Wut und Ekel in sich aufsteigen. In Augenblicken wie diesem verdunkelt sich alles in ihm, und er ist nicht imstande zu begreifen, in welchem Missverhältnis seine Erregung zu ihrem Anlass steht. Hätte ihm jedoch einer gesagt, dass er diese ganze evangelisch-biedere Sippschaft Mälzer-Leberecht aus tiefstem Herzen, aus tiefster Leber und von noch weiter unten herauf hasst, dann hätte er sogleich begeistert zugestimmt. Aber niemand sagt es ihm, und er selbst kommt nicht darauf.

Erschrocken sah er zu Ingrid hinüber, die noch immer ruhig weiterschlief. Sein Entschluss stand fest, das wusste er, aber mit ihm war auch das schlechte Gewissen da, das diese Entschlüsse gewöhnlich begleitete. Sie war schön, sie war seine Frau, er hatte sie heiraten dürfen. Sie war ebenso schön wie die nackte junge Frau damals auf dem Kalenderbild in Onkel Georgs Büro. War es eine Göttin? Umgeben von merkwürdigen Gestalten, schwebte sie keusch und verlockend auf einer Muschel. Einmal hatte er leider Olga auf das Bild angesprochen, Olga, die seine Tante war, die er jedoch aufgrund ihrer fortdauernden Jugendlichkeit nie Tante, sondern immer nur Olga nannte. Olga half schon damals stundenweise dem Onkel bei der Buchhaltung im Büro. Ob sie wisse, wer es gemalt habe und wie alt es sei. Nein, sagte Olga, sie wisse es nicht, es müsse ein alter Schinken sein, und es passe nicht in ein Trauerhaus. Dann stand sie auf und riss das Blatt von der Wand; Jahre hatte es dort schon gehangen. Sie zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Das war ein paar Monate, nachdem seine Mutter sich umgebracht hatte.

Es wäre vergeblich gewesen, hätte er Olga erklären wollen, auf welche Weise ihn die Göttin an seine Mutter erinnerte. Es war derselbe gleichmütige Gesichtsausdruck, mild und ergeben, fast schon gleichgültig. Jahre später lernte er dann Ingrid im Eiscafé kennen, und sie erinnerte ihn viel stärker noch, als seine verstorbene Mutter es getan hatte, an die zerstörte Reproduktion. In Wahrheit hatte Ingrid mit ihrem etwas länglichen Gesicht nicht viel Ähnlichkeit mit der Venus von Botticelli. Aber einmal konnte der junge Mann gar nicht mehr vergleichen, und zum anderen hatte er sein Bild von Ingrid schon nach kurzem der Göttin entsprechend modelliert, so wie er sie noch im Kopf hatte. Schließlich war für ihn jetzt bei Ingrid wie vorher bereits bei der Venus nicht das Gesicht die Hauptsache – die Hauptsache war dieser prachtvolle, etwas fleischige Körper. Zwar war Ingrid im Ganzen eher schlank, nur um die Hüften etwas stärker, das genügte indessen, sie zur Nachfolgerin der Göttin zu machen. Was hatte ihn schon an der Venus fasziniert: die Fülle des Unterleibes bei ziemlich kleinen Brüsten. Die Scham war sehr schamhaft verborgen unter der enormen rötlich blonden Haarflut, die sich wie eine Kaskade den Kopf herabstürzte, den linken Arm entlang. Arm und Haar bildeten eine Art Theatervorhang. Es war ein Leib, der schamhaft aus einer Kulisse herausschaute und –trat. Wesentliches blieb noch in der Reserve: die Rückseite. Und in diesem Punkt berührten sich übrigens Ingrid und die Göttin. Aber Ingrid wusste es zu umgehen, sie entzog sich ihm dann, und er wollte nicht mit Gewalt nehmen, was mit Gewalt zu nehmen in seiner Vorstellung untrennbar mit dem Akt selbst verbunden war. Immerhin ließ ihn Ingrid, im Unterschied zur Göttin, ab und zu ihre Rückseite betrachten, ja, sie nutzte seine Schwäche und Erregbarkeit aus, wenn sie ihn erregen wollte. Diese Art von kleiner schlauer Berechnung entging ihm auf die Dauer nicht, und sie gefiel ihm.

Besaß er das, was man früher eine schmutzige Phantasie genannt hatte? Keineswegs, auch Phantasie war nämlich seine Sache nicht. Dafür hatte er zeitweise ein Bedürfnis nach den Produkten einer schmutzigen oder eher noch gewalttätigen Phantasie. Er war also im Wesentlichen eine passive Natur. Aber wehe wenn ihm das einer gesagt hätte: Dem wäre es schlecht ergangen.

Er hielt es nicht länger aus. Sich über sie beugend, begann er, Ingrid wiederholt sanft auf die Stirn zu küssen. Wie eine Göttin, dachte er und war voller Rührung. Sie schlug langsam die Augen auf, ihr erster Blick an diesem Morgen traf ihn. Er sank auf sie und empfand sehr viel Zärtlichkeit. Heute würde es besonders gut werden, jedenfalls viel besser als gewöhnlich. Überschwemmt vom eigenen Gefühl, entging ihm, dass sie schon vollkommen wach war.

Sie fragte: „Theo, wie spät ist es denn?“

Er war selbst erstaunt: bereits halb neun. Stundenlang lag er also schon wach.

„Wir müssen sofort aufstehen. Wir haben nicht so viel Zeit wie sonst. Du weißt doch, heute ist Muttertag.“ Sie glitt unter ihm fort, und er blieb liegen, blieb schmollend im Bett und hörte sie im Badezimmer hantieren.

Ihr jetzt grollen zu können, passte ihm gut, taktisch gesehen. Sie hatte sich ihm entzogen, sie war im Unrecht, er von Anfang an im Vorteil. Dies bedachte er, während er duschte und sie für ein eiliges Frühstück sorgte. Also behielt er das Schmollen einfach bei. Sie blieb freundlich, sagte aber nur wenig, aus Vorsicht. Er schien bedrückt und gab sich einsilbig, vermied ihren Blick. Einmal begegneten sich die Blicke doch, als sie beide zur selben Zeit die Münder aus den Kaffeetassen hoben. Gespannt prüfte er ihre Reaktion, versenkte sich bohrend in ihre Augen und zog den eigenen Blick nach Sekunden befriedigt zurück: Sie wusste schon alles, es würde gar keinen Kampf geben. Wie nach dreißig Jahren Ehe, ging ihm durch den Kopf. Und wirklich war es nicht die erste Krise dieser Art. Er hätte an Silvester denken können – der Abend war katastrophal zu Ende gegangen – oder an den Antrittsbesuch ihrer Tanten bei ihnen – sie würden kein zweites Mal kommen, so grob war er gewesen. Aber er vermied es jetzt, sich an diese Szenen zu erinnern. Die Erinnerung daran hätte ihn vielleicht beschämen können, und das wäre dem Schmollen und Grollen abträglich gewesen. Um sich durchzusetzen, musste er stark bleiben, um seinen Willen zu bekommen, musste er seine ganze Kraft einsetzen. Er war verletzt, und sie wollte ihm zu viel zumuten.

Noch hielt sie dem Schein nach daran fest, der Tag würde nach Plan in der Familie verbracht. Sie riet ihm, den leichten, hellgrauen Anzug zu tragen, dazu die nachtblaue Krawatte. Fertig angezogen sah er – schwarzhaarig, groß und breitschultrig – überraschend solide aus. Sie nahm den Fliederstrauß aus der Vase, den sie am Vorabend im Garten geschnitten hatte. Der Strauß entsprach farblich seiner Krawatte, das fiel ihm auf.

Sie wurde schon etwas nervös, aber er sagte noch immer nichts. So verließen sie das Haus, er holte den Wagen aus der Garage. Erst als sie neben ihm saß, die Geschenkpakete auf den Knien, den Flieder in der Linken, bemerkte er leichthin, sie müssten ja nicht den ganzen Tag bei den Eltern verbringen. Dazu sei der Tag viel zu schön.

Wie er sich das denke, das sei unmöglich, alles sei vorbereitet, das Essen im Lamm, Kaffee trinken, Abendessen … An einem Tag wie heute die Mutter allein lassen!

Reiche es denn nicht, sie am Vormittag zu besuchen, ihr die Geschenke zu geben, ihr Gutes zu wünschen, sich eine Stunde mit ihr zu unterhalten? All das sei doch schon etwas Besonderes. Und außerdem, fügte er roh hinzu, lebe seine Mutter ja nicht mehr, er beanspruche die Zeit, die sie, lebte sie noch, bei ihr verbracht hätten.

Worauf sie ihm entgegenhielt, ein viel größeres Opfer sei es für sie, einmal im Vierteljahr mit ihm den Vater in der Anstalt zu besuchen.

Er gab ihr keine Antwort. Er war ihr jetzt ernstlich böse. Dass sie den Gang zum Alten, der hilflos, der eine Ruine war, mit dem sinnlosen Herumsitzen bei ihren Verwandten vergleichen musste! Lief es darauf hinaus, dass sie heute nachgeben wollte, wenn er in Zukunft allein zur Anstalt fuhr?

Sie saßen stumm nebeneinander. Er lenkte den Wagen über die Brücke, durchs Stadttor. Endlich bog er in die kleine Gasse ein, dann von der Strasse ab in die Hofeinfahrt. Ein Messingschild: Glaserei Aufwind – hier war er zu Hause. Die Werkstatt, seit fünfundzwanzig Jahren auf dem Hof des Schwarzen Bären untergebracht, lag verschlossen da. Onkel Georg war vermutlich zu einem Frühschoppen fortgegangen. Olga schlief am Sonntag lange. Sie gingen durch den Hintereingang in die Gaststube hinein.

Seine Großmutter war beschäftigt. Einige Gäste reisten ab, sie stellte die Rechnungen aus. Theo und Ingrid hockten sich an den leeren Stammtisch, um auf sie zu warten.

Die Alte, weißhaarig, über siebzig, mit Augen, die vor Schwäche blinzelten, kam herüber und setzte sich für drei Minuten zu ihnen. Ihr Gesicht wies auffallend wenige Spuren des Alters auf. Die Haut war noch ziemlich glatt und gut durchblutet. Die Jahre und Jahrzehnte hatten dennoch ihr Werk der Zerstörung getan: Das Gesicht der Alten war starr, entblößt von jeder Mimik, unfähig, das geringste Gefühl auszudrücken. Hatte sich die Haut deshalb so frisch erhalten? Theo schätzte seine Großmutter, aber er sah sie nicht gern längere Zeit an.

Die beiden jungen Menschen hätten nicht sagen können, ob ihr Geschenk, eine Brosche, willkommen war. „Ist recht. Danke schön. Und ihr zwei, fahrt ihr noch ans Grab deiner Mutter.“ Uralt klang die Stimme, brüchig. Sie sagte dann, sie hätte zu tun, sie müsse sich als Nächstes darum kümmern, dass die Zimmer aufgeräumt würden; sie sollten jetzt gehen. Theo sah während der Woche fast täglich zu ihr herein.

Das Ehepaar fuhr, wie schon im Vorjahr, danach zu den Schwiegereltern. Theo lenkte den Wagen zur Gartenstadt.

Er schwieg weiterhin. Da nahm sie den Faden wieder auf. Natürlich könne sie ihn nicht zwingen, in Neustadt zu bleiben, aber sie könne nicht fort, ihr Platz sei heute im Haus der Eltern. Er müsse sich daher entscheiden: Bleibe er bei ihnen, komme sie auch in Zukunft mit in die Anstalt. Anderenfalls müsste er dann den Vater allein besuchen.

Das war stark – Erpressung. Die Besuche beim Alten waren viel eher zu ertragen, wenn sie zu zweit dort waren. Die Blicke gehen zwischen drei Personen leichter hin und her als zwischen zweien. Wenn ihm das Bild des Vaters peinlich wurde, sah er hinüber zu Ingrid und fand dann die Kraft, noch etwas zu sagen. Allein mit dem Vater stockte das Gespräch häufig, seine Besuche endeten dann viel zu rasch: regellose Flucht. Allerdings waren sie gerade erst draußen gewesen. In einem Vierteljahr hat er sie vielleicht umgestimmt. Irgendein Grund wird sich schon finden, sie wird auch wieder einmal nachgeben müssen. Der Aussicht, das Haus Leberecht heute schon nach kurzem wieder verlassen zu können, konnte er jetzt nicht widerstehen.

Er sagte, er wolle dann den Tag lieber allein verbringen. Er werde spazieren fahren.

„Du brauchst aber einen triftigen Grund. Nicht dass ihnen die Stimmung von Anfang an verdorben ist. Sag, dass du unerwartet zum Aufmessen auf eine Baustelle musst.“

„In diesem Aufzug? So dumm sind sie nicht.“
Sie lachten beide zur gleichen Zeit. „Erzähle ihnen was von einer Reklamation. Du musst mit den Auftraggebern verhandeln. Ausmessen und verhandeln. Es ist eilig, die Sache muss in Ordnung gebracht werden, bevor die Arbeit morgen weitergeht.“

„Ja, so wird’s gehen.“ Er war mit ihr zufrieden.

Sie waren eine Dreiviertelstunde zu spät. Die Schwiegereltern saßen feiertäglich angezogen in ihrem Wohnzimmer. Herr Leberecht trug schon den Mantel über dem Arm. Sie waren an Pünktlichkeit gewöhnt. Die Großeltern waren es ebenso und warteten jetzt vermutlich schon in derselben Haltung in ihrem eigenen Haus, zwei Strassen weiter. Für längeres Verweilen war keine Zeit mehr.

Ingrid übernahm es, für ihn zu lügen. Auch in diesem Punkt hatte sie nicht genügend Zutrauen in ihn. Die Eltern blickten erst misstrauisch. Dass hier etwas nicht in Ordnung war, schien zum Greifen nahe. Sie ergriffen es aber nicht, vielmehr malten sich auf ihren Gesichtern dann lauter zwiespältige Gefühle ab. Dass er so fleißig war und die Firma so gut versehen mit Aufträgen, war doch ein Grund, auf ihn stolz zu sein. Die Befriedigung gewann die Oberhand, das Misstrauen schmolz bis auf einen kleinen Rest dahin.

Herr Leberecht wollte wissen, um welches Objekt es sich denn handele, wieder die Ferienhauskolonie in den Bergen? – Nein, nein, sagte Theo rasch, etwas Neues, unten am Kanal.

Herr Leberecht meinte, die Ferienhäuser hätten schon genügend Ärger bereitet. Ob sie sich damit nicht übernommen hätten?

Fünf Minuten später gingen alle vier zusammen aus dem Haus. Theo fuhr als erster weg. Es war wie Urlaub. Dabei wäre es ihm am Morgen noch wie ein Verbrechen vorgekommen, Ingrid weiterschlafen zu lassen und allein im Garten zu arbeiten.

Er überlegte, ob er nach Hause fahren und aufs Motorrad umsteigen solle. Aber das würde vielleicht bei den Nachbarn Aufsehen erregen, an einem Tag wie heute. Außerdem hatte er es jetzt eilig, aus der Gegend fortzukommen. Seine Unruhe war seit seinem Erwachen ständig größer geworden. Er blieb auf der Bundesstrasse und fuhr an seinem Dorf vorbei.

Im Radio spielten sie ein altes Lied: Downtown. Er summte es mit: Dann geh in die Stadt - Downtown … Später befand er sich auf der Autobahn, ohne ein Ziel zu haben. Die Strecke war frei, er fuhr sehr schnell, er fuhr immer weiter nach Süden.

(Auszug aus dem Roman "Der Cousin")
 



 
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