Destiny's Distance

TiiNitus

Mitglied
Leichtigkeit


Irgendwo in der Ferne krächzte etwas. Es klang wie ein Vogel. Doch irgendwas war anders. Es klang nicht wie das übliche Zirpen, dass sie kannte. Irgendwie tropischer. Sams Nase brannte. Die Pollenzeit würde erst in ein paar Monaten anfangen und erkältet war sie auch nicht. Es fühlte sich viel mehr an wie… roch es etwa nach Meerwasser?
Ihre Beine fühlten sich taub an und etwas Raues kitzelte sie im Gesicht und an den Armen.
Langsam öffnete sie die Augen, nicht zu schnell allerdings, aus Angst mit etwas überrascht zu werden, das ihr nicht gefallen würde. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie, während sie sich mit von der Sonne zusammen gekniffenen Augen umsah.
Und tatsächlich..das musste ein Irrtum sein! Sie schreckte hoch, verharrte kurz wie erstarrt in der Bewegung, überlegte es sich dann jedoch anders und wagte einen kleinen Schritt nach vorne. Mit dem linken Fuß blieb sie an einer Wurzel hängen, ihre Balance versagte im Kampf gegen die Erdanziehungskraft und sie fiel der Länge nach hin. Mit wutverzerrten Gesicht richtete sie sich auf und spuckte den Sand aus, der zwischen ihren Zähnen knirschte. Ja, das musste ein Irrtum sein!
Ihre letzte Hoffnung starb jedoch als sie es erblickte: das Flugzeug, das sie auf diese bekloppte Insel gebracht hatte. Die einzelnen Teile des Metallpanzers trieben im Wasser umher und streiften hier und da einen Felsvorsprung, der aus den gefährlich steilen Klippenwänden herausragte. Sam sah sich genauer um. Sie befand sich auf einer Art Insel wie es schien. Vor ihren Füßen erstreckte sich ein weißer Sandstrand, der einige Meter weiter vom wogenden und brausenden Meer verschluckt wurde. Die Sonne schien langsam aber sicher ihren Lauf zu nehmen und stand mittlerweile ein paar Meter über dem Horizont. Bald würde sie hinter dem Wasser verschwinden. Noch hüllte sie die Umgebung allerdings in ein friedliches, hellorangenes Licht. Für einen kurzen Moment fesselte sie der Anblick, dann schaute Sam vorsichtig über ihre linke Schulter. Das Bild was sich ihr bot war nicht minder schön, wenn auch ähnlich erschreckend. Grüne Büsche und Sträucher schienen jedes Stück Land erobert zu haben, dass sie ausfindig machen konnten. Beim Fernsehen hatte Sam immer über Geschichten gelacht, Geschichten wie diese. Wie konnte sie auch ahnen, dass sie einst selbst die Hauptrolle spielen würde, dass sie beim einem Fallschirmsprung verschütt gehen könnte. Das letzte woran sie sich erinnern konnte war der grelle Blitz der das Flugzeug des Luftsport- Anbieters traf und somit, wie sie noch früh genug erfahren würde, ihre Welt komplett veränderte. Die Sonne brannte in Sams Nacken, sie hatte allerdings weitaus größere Probleme als sich über angebrachte Lichtschutzfaktoren Gedanken zu machen. Abgesehen davon lag ihre Sonnenmilch sowieso im Hotel. Hotel! Einige ihrer Erinnerungen drängten sich in den Vordergrund, als wollten sie mit aller Macht verhindern, dass man sie vergisst. All ihre Sachen waren im Hotel. Ihre Kleidung, ihr Handy..ihre Eltern waren auch da ... – für einen kurzen Moment durchströmte sie der Schmerz wie Gift nach einem Schlangenbiss. Was machten ihre Eltern gerade? Hatte man sie über den Absturz ihrer einzigen Tochter informiert, oder planschten sie zu diesem Zeitpunkt noch unbeschwert im Pool?

„Saamy oh Gott das bist du ja!“
Die Stimme wurde mit jeder Sekunde, die sie näher kam lauter. Sam fuhr herum „Mum?!“
So wie es ihr über die Lippen kam, bereute sie es wieder und als sie erkannte wer sie tatsächlich gerufen hatte, beschlich sie ein quälendes Gefühl der Enttäuschung.
Schnell löste sie sich von dem Gedanken und nahm ihre Freundin fest in die Arme. Diese fing an zu weinen. Obwohl Emma normalerweise eine eher toughe Person war, schien ihr diese Situation auch gehörig an die Nieren zu gehen, jedenfalls hatte Sam sie vorher noch nie weinen sehen. Sie konnte es ihr in keiner Weise verdenken.
„Du lebst wie schön! Den anderen geht es auch gut.“
Den anderen? Sams Verwirrung schien sich über ihr Gesicht zu legen wie eine Maske, denn nach wenigen Sekunden schoss Emma auch schon hinterher „Ryan und Kristen …erinnerst du dich etwa nicht mehr?“
Besorgt betrachtete sie Sams Platzwunde am Kopf und suchte etwas womit sie das Blut abwischen konnte. Behutsam ließ Sam sich in den weichen Sand sinken, während ihre Freundin sich ein Stück Stoff vom Hemd riss und damit den Strand entlang rannte. Nach ein paar Sekunden kehrte sie keuchend zurück und begann die Wunde zu säubern. Sam kniff unwillkürlich die Augen zusammen, als das Salzwasser in der offenen Wunde zu brennen begann. Hinter sich hörte sie das Stampfen von Füßen im dichten Sand, ignorierte die näherkommenden Stimmen jedoch. Emma und die Übrigen fingen nun an sie mit Fragen zu löchern, doch Sam konnte sich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Ihr Kopf schmerzte mittlerweile so stark, dass Wellen des Unbehagens sie durchströmten, die so schwer waren, dass sie ihren Körper am Boden hielten und sie bewegungsunfähig zu machen schienen. Einen kurzen Moment lang musste Sam an eine ihrer geliebten Arztserien denken. In einer Folge waren einem Unfallopfer Löcher in den Schädel gebohrt worden, um den Hirndruck zu verringern. So ungefähr musste es sich angefühlt haben…
„Sam? Sammy??“
Kristen sah sie mit von Sorge geweiteten Augen an.
„ Sie scheint nicht ganz bei sich zu sein. Vielleicht erkennt sie uns ja nicht mehr...!?“
Die Panik in ihrer Stimme brach den letzten Rest von Lethargie aus Sams Gedanken.
„ Nein, ich habe nur Kopfschmerzen!“
„ Kein Wunder!“, Ryan, eigentlich Adrienne, ergriff nun das Wort
„Ein normaler Mensch wäre nach so einem Aufprall gestorben! Und da du noch lebst schlage ich vor, du zeigst ein wenig mehr Enthusiasmus…“
„ Jetzt nerv sie doch nicht. Sie hat ja nicht überlebt, um dich zu ärgern oder?“
Emma heftete den Blick auf Sam. Erwartete sie ernsthaft eine Antwort auf diese Frage? Sam entschied sich dafür lieber nichts mehr zu sagen, sie wollte nicht, dass ihre Freunde unter ihrer Wut leiden mussten. Sie konnten nämlich alle am wenigsten für dieses Dilemma. Es war schließlich Sams Idee gewesen einen Fallschirmsprung zu wagen, sich einmal in ihrem Leben auf einen solchen Höhenflug einzulassen…
Die Lautstärke der aufgewühlten Stimmen um sie herum nahm stetig ab. Sie wollte nicht hören, wie sie diskutierten. Sie schloss ihre Augen und atmete. Ein und aus, ein und aus. Je länger sie dies tat umso freier und leichter schien sie zu werden. Es war als würde alles von ihr abfallen als… neben ihr kreischte jemand. Es war Kristen, sie blickte entgeistert in ihr Gesicht, als hätte Sam gerade einen grausamen Witz erzählt.
„ Was hast du denn??“, fragte Sam, doch es half nichts.
Jetzt schrieen auch alle anderen. Sie sprangen von ihr weg, fuchtelten wild mit den Armen und zappelten mit den Füßen. Sam fing an zu lachen, doch das machte die Sache nur noch schlimmer. Langsam hatte sie die Nase voll, richtete sich auf und rief laut „ Aufhören!“
Ihre Freundinnen blieben stehen. Tatsächlich bewegte sich keiner von ihnen mehr. Das war eine neue Erfahrung für Sam, denn sonst taten sie nie was man ihnen sagte…
„Was habt ihr denn für ein Problem? Ich meine natürlich nur wenn ich fragen darf, falls das so ein Ding unter euch ist, möchte ich es lieber nicht wissen…“
Emma war die erste die ihre Stimme wieder fand. Zumindest versuchte sie es.
„Du…du …“ ,sie schloss den Mund und setzte erneut an. „Du …warst weg!“.
Die letzten Worte sagte sie in einem ungewöhnlich hohen Tempo, so als würden sie dadurch an Ernsthaftigkeit verlieren oder seien leichter über die Lippen zu bringen.
„ Was meinst du damit, ich war weg?“ Sam fing an die Geduld zu verlieren.
„Soll das ein Scherz sein? Wisst ihr, ich habe ziemliche Kopfschmerzen, die im Moment allerdings noch das kleinste Übel sind, nehm ich an. Wir sollten und also lieber darüber unterhalten, was wir jetzt zu tun gedenken. Wenn ihr es allerdings, vielleicht aus irgendeinem schwarzen Humor heraus, den ich nicht verstehe, vorzieht mich stattdessen langsam um den Verstand zu bringen… Herzlichen Glückwunsch! Das scheint zu ...“
„Du warst wirklich weg! Ich hab es gesehen.“ Kristen errötete. Sie war noch nie der impulsive Typ Mensch gewesen und fürchtete stets die Reaktion ihres Gegenübers.
„Ich habe dich angesehen und, ich weiß auch nicht, auf einmal warst du weg. Als wärst du …unsichtbar“ Sie schielte zu Ryan herüber, die zwei Fuß breit von ihr entfernt stand und das Szenario mit fast angewiderten Miene verfolgte. Schließlich fuhr sie fort.
„..und als du uns angeschrieen hast, da konnten wir dich wieder sehen.“
Sam lachte. Genervt war sie nun nicht mehr. Sie freute sich viel mehr, dass ihre Freunde es geschafft hatten sie für ein paar Minuten von den Schmerzen abzulenken.
Während die letzten Ausläufer ihres Lachanfalles allmählich abebbten, betrachtete sie Emma, die sie ihrerseits mit einem skeptischen Blick musterte. Sam besah sich jetzt all ihre Freundinnen ganz genau. Für gewöhnlich hatte sie ein gutes Gespür für Unwahrheiten, seien es auch nur kleine Notlügen. Ihr letztes Grinsen erlosch schließlich, als sie sich eingestehen musste, dass ihre Freunde es offensichtlich wirklich ernst meinten.
Sam schaute hinab auf ihre Finger, die ineinander verhakt auf ihren Knien ruhten, sichtbar wie eh und je. Noch einmal ging sie die vergangen zwei Minuten in Gedanken durch.
Sie erinnerte sich genau an das Gefühl von Leichtigkeit, das von jeder ihrer Adern Besitz ergriffen hatte und sie mit purer Lebensenergie erfüllt hatte. Kurz danach hatten ihre Freundinnen angefangen zu zetern. War es wirklich möglich, dass sie unsichtbar gewesen war?
„Wie kann das sein?“ Sam schaute sie der Reihe nach an, als jedoch keiner antwortete, wurde ihr bewusst, dass es dafür keine anständige Erklärung gab.
„Was wenn…“ -
„der Absturz, ja.“, Ryan beendete den Satz für sie.
„Es ist doch so“, fuhr sie jetzt in energischerem Ton fort, „man bekommt nicht einfach von heute auf morgen so eine, ich sag jetzt mal Gabe. Es ist doch kein Zufall, dass du einen Tag nachdem wir mit einem Flugzeug fast draufgegangen sind, plötzlich in der Lage bist dich, na ja, unsichtbar zu machen, oder?“Alle nickten.
„Aber ich bin schon oft in meinem Leben hingefallen, und dann war ich auch nicht plötzlich ein anderer Mensch!“
„Du bist nicht einfach hingefallen! Ich habe es dir schon einmal gesagt, ein normaler Mensch wäre jetzt längst auf dem Weg gen Himmel! Aber du bist ja sowieso nicht mehr ganz sozial kompatibel so wie’s aussieht…“
„Jetzt fang doch nicht schon wieder an um dich zu schießen, Ryan!“, Emma griff nun ein.
„ Also, ich würde sagen, wir sind uns in der Hinsicht einig, dass der Absturz an allem Schuld gewesen sein muss. Also Sam, um Ryan einmal Recht zu geben, aber nur einmal, also guck nicht so schadenfroh!“, fügte sie mit einem schnellen Blick auf die ungestümteste der vier Mädchen hinzu, „du musst von ungefähr 40 Metern Lufthöhe gefallen sein. Der Flieger befand sich gerade im Sturzflug! Nachdem der Blitz in den Flugzeugbug eingeschlagen hatte, warst du die Erste, die ins Wasser fiel. Später mussten wir alle springen, Ryan ist als Zweite hinterher und hat dich mit an Land genommen. Wir anderen folgten. Eigentlich rechneten wir schon mit dem Schlimmsten als du nicht mehr zu Bewusstsein kamst.“
Stille trat ein. Es war eine quälende Stille. Die Pause der Konversation klingelte schon in Sams Ohren als Kristen meinte: „Glaubt ihr der Blitz hat, wie soll ich das sagen, ich meine ich bin keine Leuchte in Physik, aber glaubt ihr der Blitz hat irgendwas in ihren Genen verändert? Sam war am nächsten an dem Blitz dran, vielleicht hat ihr das ja in irgendeiner Weise geschadet…“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“ Sams Gesicht nahm nun einen ungläubigen Gesichtsausdruck an. „Es gibt doch durchaus Menschen, die schon einmal von einem Blitz erwischt wurden oder sich in der Nähe befanden. Sie sind entweder tot oder mit einem Schrecken davon gekommen, dass sie sich jedoch alle unsichtbar machen können, bezweifle ich stark.“
„Vielleicht ist es bei jedem anders. Sie können vielleicht plötzlich besser hören, oder mit den Füßen schreiben, oder was weiß ich, aber, dass du dich unsichtbar machen kannst, ist ja wohl kaum zu leugnen. Sag mir woher das sonst kommt!“
„Das weiß ich doch auch nicht. Es muss an etwas anderem liegen. Vielleicht ist das hier eine komischen Klimazone oder so, wie dieses mysteriöse Bermuda- Dreieck oder wie man das auch nennen mag. Ein Ort an dem alles anders ist und an dem es keinen Empfang gibt und alle Menschen verhungern, weil niemand weiß wo sie sind…und wo wir gerade beim Thema sind, hat zufällig jemand ein Handy parat?“
„Wieso? Willst du dir eine Pizza ordern?“ Ryans Augen funkelten und ihr Gesicht bekam rote Wutflecken.
„ Schon gut, reg dich ab Adrienne Bingley. Ich meinte eigentlich, dass wir dann gucken könnten ob wir Empfang haben.“
„Ja weil es hier bestimmt Telefonmasten und so was gibt nicht wahr? Ich sehe schon den ersten, ach nein, Moment, war doch nur eine Palme!“
Deutlicher als zuvor traten Ryans harte Züge nun hervor. Mit vor Zorn glühenden Augen schaute sie umher und dennoch meinte Sam dahinter noch etwas Anderes in ihrem Blick zu erkennen, etwas das erstaunlich nach unbändiger Furcht aussah.
„ Also mein Handy ist irgendwo im Wasser.“ Kristen blickte traurig zu Boden.
„Meins wohl auch“, auch Ryan klang jetzt betrübt.
„Meins ist auch ersoffen!“, rief Emma von weiter links.

Emma. Sie hatte sich schon vor einer Weile aus dem Gespräch ausgeklinkt und war nun anscheinend damit beschäftigt einen Schlafplatz zu basteln. Ihre Füße waren dreckig, überall klebte Sand und ihre Haare waren verwüstet. Dass sie das nicht störte war ein Zeichen dafür wie ernst die Situation war in der sie steckten. Sie schichtete Blätter und Baumrinde übereinander, wahrscheinlich als eine Art Matratze, oder passender, eine Art Bio- Isomatte. Ihre Hände waren verschmiert und teilweise aufgerissen. Als Sam den Berg Äste und Stöcker sah, den Emma wohl für das Dach angeschleppt hatte, war ihr klar wieso. Sie alle sahen groß, krumm und stachelig aus. Sam war noch nie eine große Botanikerin gewesen und die Vegetation auf der Insel, auf der sie sich nun alle befanden, war ihr erst recht fremd.
Sie wandte den Blick von Emma ab und sah nun wieder die anderen an.
„ Habt ihr euch schon… umgesehen?“
Kristen schien zu wissen was Sam meinte.
„ Es gibt keine Häuser in der Nähe. Wir kamen zwar noch nicht wirklich weit, Ryan hat sich am Bein verletzt und Emma wollte dich nicht alleine lassen, aber bis jetzt haben wir noch keine anderen Menschen entdeckt.“
Als Kristen zu ende gesprochen hatte, blickte Sam zu Ryan und ließ den Blick über ihre Beine schweifen. Das linke Hosenbein war oberhalb des Knies abgerissen worden und darunter war eine offene Wunde zu sehen.
„‘s nichts Ernstes“, antwortete Ryan sofort. Sie sah aus als sei es ihr peinlich als schwaches Glied der Gruppe gehandelt zu werden.
„Hab‘ mir das Knie an einem Fels aufgerieben als ich dich an Land gebracht hab‘. Es tut nur ziemlich weh wenn ich das Bein beugen muss, aber das wird schon wieder.“
Sam besah sich nun alle nacheinander gründlich. Sie sahen müde und traurig aus.
„ Lasst uns die Diskussion für heute beenden. Ihr seht erschöpft aus. Ich jedenfalls fühle mich als hätte mich ein Bus überfahren. Wir sollten Emma helfen unser Schlafgemach zu Ende zu bauen. Okay?“
„Okay“ stimmten sie im Chor. Sie stapften durch den Sand hin zu ihrer fleißigen Freundin, die ihnen ein Lächeln schenkte, das tief aus ihrem Inneren zu kommen schien.
 

TiiNitus

Mitglied
[1.Kapitel]
Leichtigkeit


Irgendwo in der Ferne krächzte etwas. Es klang wie ein Vogel. Doch irgendwas war anders. Es klang nicht wie das übliche Zirpen, dass sie kannte. Irgendwie tropischer. Sams Nase brannte. Die Pollenzeit würde erst in ein paar Monaten anfangen und erkältet war sie auch nicht. Es fühlte sich viel mehr an wie… roch es etwa nach Meerwasser?
Ihre Beine fühlten sich taub an und etwas Raues kitzelte sie im Gesicht und an den Armen.
Langsam öffnete sie die Augen, nicht zu schnell allerdings, aus Angst mit etwas überrascht zu werden, das ihr nicht gefallen würde. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie, während sie sich mit von der Sonne zusammen gekniffenen Augen umsah.
Und tatsächlich..das musste ein Irrtum sein! Sie schreckte hoch, verharrte kurz wie erstarrt in der Bewegung, überlegte es sich dann jedoch anders und wagte einen kleinen Schritt nach vorne. Mit dem linken Fuß blieb sie an einer Wurzel hängen, ihre Balance versagte im Kampf gegen die Erdanziehungskraft und sie fiel der Länge nach hin. Mit wutverzerrten Gesicht richtete sie sich auf und spuckte den Sand aus, der zwischen ihren Zähnen knirschte. Ja, das musste ein Irrtum sein!
Ihre letzte Hoffnung starb jedoch als sie es erblickte: das Flugzeug, das sie auf diese bekloppte Insel gebracht hatte. Die einzelnen Teile des Metallpanzers trieben im Wasser umher und streiften hier und da einen Felsvorsprung, der aus den gefährlich steilen Klippenwänden herausragte. Sam sah sich genauer um. Sie befand sich auf einer Art Insel wie es schien. Vor ihren Füßen erstreckte sich ein weißer Sandstrand, der einige Meter weiter vom wogenden und brausenden Meer verschluckt wurde. Die Sonne schien langsam aber sicher ihren Lauf zu nehmen und stand mittlerweile ein paar Meter über dem Horizont. Bald würde sie hinter dem Wasser verschwinden. Noch hüllte sie die Umgebung allerdings in ein friedliches, hellorangenes Licht. Für einen kurzen Moment fesselte sie der Anblick, dann schaute Sam vorsichtig über ihre linke Schulter. Das Bild was sich ihr bot war nicht minder schön, wenn auch ähnlich erschreckend. Grüne Büsche und Sträucher schienen jedes Stück Land erobert zu haben, dass sie ausfindig machen konnten. Beim Fernsehen hatte Sam immer über Geschichten gelacht, Geschichten wie diese. Wie konnte sie auch ahnen, dass sie einst selbst die Hauptrolle spielen würde, dass sie beim einem Fallschirmsprung verschütt gehen könnte. Das letzte woran sie sich erinnern konnte war der grelle Blitz der das Flugzeug des Luftsport- Anbieters traf und somit, wie sie noch früh genug erfahren würde, ihre Welt komplett veränderte. Die Sonne brannte in Sams Nacken, sie hatte allerdings weitaus größere Probleme als sich über angebrachte Lichtschutzfaktoren Gedanken zu machen. Abgesehen davon lag ihre Sonnenmilch sowieso im Hotel. Hotel! Einige ihrer Erinnerungen drängten sich in den Vordergrund, als wollten sie mit aller Macht verhindern, dass man sie vergisst. All ihre Sachen waren im Hotel. Ihre Kleidung, ihr Handy..ihre Eltern waren auch da ... – für einen kurzen Moment durchströmte sie der Schmerz wie Gift nach einem Schlangenbiss. Was machten ihre Eltern gerade? Hatte man sie über den Absturz ihrer einzigen Tochter informiert, oder planschten sie zu diesem Zeitpunkt noch unbeschwert im Pool?

„Saamy oh Gott das bist du ja!“
Die Stimme wurde mit jeder Sekunde, die sie näher kam lauter. Sam fuhr herum „Mum?!“
So wie es ihr über die Lippen kam, bereute sie es wieder und als sie erkannte wer sie tatsächlich gerufen hatte, beschlich sie ein quälendes Gefühl der Enttäuschung.
Schnell löste sie sich von dem Gedanken und nahm ihre Freundin fest in die Arme. Diese fing an zu weinen. Obwohl Emma normalerweise eine eher toughe Person war, schien ihr diese Situation auch gehörig an die Nieren zu gehen, jedenfalls hatte Sam sie vorher noch nie weinen sehen. Sie konnte es ihr in keiner Weise verdenken.
„Du lebst wie schön! Den anderen geht es auch gut.“
Den anderen? Sams Verwirrung schien sich über ihr Gesicht zu legen wie eine Maske, denn nach wenigen Sekunden schoss Emma auch schon hinterher „Ryan und Kristen …erinnerst du dich etwa nicht mehr?“
Besorgt betrachtete sie Sams Platzwunde am Kopf und suchte etwas womit sie das Blut abwischen konnte. Behutsam ließ Sam sich in den weichen Sand sinken, während ihre Freundin sich ein Stück Stoff vom Hemd riss und damit den Strand entlang rannte. Nach ein paar Sekunden kehrte sie keuchend zurück und begann die Wunde zu säubern. Sam kniff unwillkürlich die Augen zusammen, als das Salzwasser in der offenen Wunde zu brennen begann. Hinter sich hörte sie das Stampfen von Füßen im dichten Sand, ignorierte die näherkommenden Stimmen jedoch. Emma und die Übrigen fingen nun an sie mit Fragen zu löchern, doch Sam konnte sich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Ihr Kopf schmerzte mittlerweile so stark, dass Wellen des Unbehagens sie durchströmten, die so schwer waren, dass sie ihren Körper am Boden hielten und sie bewegungsunfähig zu machen schienen. Einen kurzen Moment lang musste Sam an eine ihrer geliebten Arztserien denken. In einer Folge waren einem Unfallopfer Löcher in den Schädel gebohrt worden, um den Hirndruck zu verringern. So ungefähr musste es sich angefühlt haben…
„Sam? Sammy??“
Kristen sah sie mit von Sorge geweiteten Augen an.
„ Sie scheint nicht ganz bei sich zu sein. Vielleicht erkennt sie uns ja nicht mehr...!?“
Die Panik in ihrer Stimme brach den letzten Rest von Lethargie aus Sams Gedanken.
„ Nein, ich habe nur Kopfschmerzen!“
„ Kein Wunder!“, Ryan, eigentlich Adrienne, ergriff nun das Wort
„Ein normaler Mensch wäre nach so einem Aufprall gestorben! Und da du noch lebst schlage ich vor, du zeigst ein wenig mehr Enthusiasmus…“
„ Jetzt nerv sie doch nicht. Sie hat ja nicht überlebt, um dich zu ärgern oder?“
Emma heftete den Blick auf Sam. Erwartete sie ernsthaft eine Antwort auf diese Frage? Sam entschied sich dafür lieber nichts mehr zu sagen, sie wollte nicht, dass ihre Freunde unter ihrer Wut leiden mussten. Sie konnten nämlich alle am wenigsten für dieses Dilemma. Es war schließlich Sams Idee gewesen einen Fallschirmsprung zu wagen, sich einmal in ihrem Leben auf einen solchen Höhenflug einzulassen…
Die Lautstärke der aufgewühlten Stimmen um sie herum nahm stetig ab. Sie wollte nicht hören, wie sie diskutierten. Sie schloss ihre Augen und atmete. Ein und aus, ein und aus. Je länger sie dies tat umso freier und leichter schien sie zu werden. Es war als würde alles von ihr abfallen als… neben ihr kreischte jemand. Es war Kristen, sie blickte entgeistert in ihr Gesicht, als hätte Sam gerade einen grausamen Witz erzählt.
„ Was hast du denn??“, fragte Sam, doch es half nichts.
Jetzt schrieen auch alle anderen. Sie sprangen von ihr weg, fuchtelten wild mit den Armen und zappelten mit den Füßen. Sam fing an zu lachen, doch das machte die Sache nur noch schlimmer. Langsam hatte sie die Nase voll, richtete sich auf und rief laut „ Aufhören!“
Ihre Freundinnen blieben stehen. Tatsächlich bewegte sich keiner von ihnen mehr. Das war eine neue Erfahrung für Sam, denn sonst taten sie nie was man ihnen sagte…
„Was habt ihr denn für ein Problem? Ich meine natürlich nur wenn ich fragen darf, falls das so ein Ding unter euch ist, möchte ich es lieber nicht wissen…“
Emma war die erste die ihre Stimme wieder fand. Zumindest versuchte sie es.
„Du…du …“ ,sie schloss den Mund und setzte erneut an. „Du …warst weg!“.
Die letzten Worte sagte sie in einem ungewöhnlich hohen Tempo, so als würden sie dadurch an Ernsthaftigkeit verlieren oder seien leichter über die Lippen zu bringen.
„ Was meinst du damit, ich war weg?“ Sam fing an die Geduld zu verlieren.
„Soll das ein Scherz sein? Wisst ihr, ich habe ziemliche Kopfschmerzen, die im Moment allerdings noch das kleinste Übel sind, nehm ich an. Wir sollten und also lieber darüber unterhalten, was wir jetzt zu tun gedenken. Wenn ihr es allerdings, vielleicht aus irgendeinem schwarzen Humor heraus, den ich nicht verstehe, vorzieht mich stattdessen langsam um den Verstand zu bringen… Herzlichen Glückwunsch! Das scheint zu ...“
„Du warst wirklich weg! Ich hab es gesehen.“ Kristen errötete. Sie war noch nie der impulsive Typ Mensch gewesen und fürchtete stets die Reaktion ihres Gegenübers.
„Ich habe dich angesehen und, ich weiß auch nicht, auf einmal warst du weg. Als wärst du …unsichtbar“ Sie schielte zu Ryan herüber, die zwei Fuß breit von ihr entfernt stand und das Szenario mit fast angewiderten Miene verfolgte. Schließlich fuhr sie fort.
„..und als du uns angeschrieen hast, da konnten wir dich wieder sehen.“
Sam lachte. Genervt war sie nun nicht mehr. Sie freute sich viel mehr, dass ihre Freunde es geschafft hatten sie für ein paar Minuten von den Schmerzen abzulenken.
Während die letzten Ausläufer ihres Lachanfalles allmählich abebbten, betrachtete sie Emma, die sie ihrerseits mit einem skeptischen Blick musterte. Sam besah sich jetzt all ihre Freundinnen ganz genau. Für gewöhnlich hatte sie ein gutes Gespür für Unwahrheiten, seien es auch nur kleine Notlügen. Ihr letztes Grinsen erlosch schließlich, als sie sich eingestehen musste, dass ihre Freunde es offensichtlich wirklich ernst meinten.
Sam schaute hinab auf ihre Finger, die ineinander verhakt auf ihren Knien ruhten, sichtbar wie eh und je. Noch einmal ging sie die vergangen zwei Minuten in Gedanken durch.
Sie erinnerte sich genau an das Gefühl von Leichtigkeit, das von jeder ihrer Adern Besitz ergriffen hatte und sie mit purer Lebensenergie erfüllt hatte. Kurz danach hatten ihre Freundinnen angefangen zu zetern. War es wirklich möglich, dass sie unsichtbar gewesen war?
„Wie kann das sein?“ Sam schaute sie der Reihe nach an, als jedoch keiner antwortete, wurde ihr bewusst, dass es dafür keine anständige Erklärung gab.
„Was wenn…“ -
„der Absturz, ja.“, Ryan beendete den Satz für sie.
„Es ist doch so“, fuhr sie jetzt in energischerem Ton fort, „man bekommt nicht einfach von heute auf morgen so eine, ich sag jetzt mal Gabe. Es ist doch kein Zufall, dass du einen Tag nachdem wir mit einem Flugzeug fast draufgegangen sind, plötzlich in der Lage bist dich, na ja, unsichtbar zu machen, oder?“Alle nickten.
„Aber ich bin schon oft in meinem Leben hingefallen, und dann war ich auch nicht plötzlich ein anderer Mensch!“
„Du bist nicht einfach hingefallen! Ich habe es dir schon einmal gesagt, ein normaler Mensch wäre jetzt längst auf dem Weg gen Himmel! Aber du bist ja sowieso nicht mehr ganz sozial kompatibel so wie’s aussieht…“
„Jetzt fang doch nicht schon wieder an um dich zu schießen, Ryan!“, Emma griff nun ein.
„ Also, ich würde sagen, wir sind uns in der Hinsicht einig, dass der Absturz an allem Schuld gewesen sein muss. Also Sam, um Ryan einmal Recht zu geben, aber nur einmal, also guck nicht so schadenfroh!“, fügte sie mit einem schnellen Blick auf die ungestümteste der vier Mädchen hinzu, „du musst von ungefähr 40 Metern Lufthöhe gefallen sein. Der Flieger befand sich gerade im Sturzflug! Nachdem der Blitz in den Flugzeugbug eingeschlagen hatte, warst du die Erste, die ins Wasser fiel. Später mussten wir alle springen, Ryan ist als Zweite hinterher und hat dich mit an Land genommen. Wir anderen folgten. Eigentlich rechneten wir schon mit dem Schlimmsten als du nicht mehr zu Bewusstsein kamst.“
Stille trat ein. Es war eine quälende Stille. Die Pause der Konversation klingelte schon in Sams Ohren als Kristen meinte: „Glaubt ihr der Blitz hat, wie soll ich das sagen, ich meine ich bin keine Leuchte in Physik, aber glaubt ihr der Blitz hat irgendwas in ihren Genen verändert? Sam war am nächsten an dem Blitz dran, vielleicht hat ihr das ja in irgendeiner Weise geschadet…“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“ Sams Gesicht nahm nun einen ungläubigen Gesichtsausdruck an. „Es gibt doch durchaus Menschen, die schon einmal von einem Blitz erwischt wurden oder sich in der Nähe befanden. Sie sind entweder tot oder mit einem Schrecken davon gekommen, dass sie sich jedoch alle unsichtbar machen können, bezweifle ich stark.“
„Vielleicht ist es bei jedem anders. Sie können vielleicht plötzlich besser hören, oder mit den Füßen schreiben, oder was weiß ich, aber, dass du dich unsichtbar machen kannst, ist ja wohl kaum zu leugnen. Sag mir woher das sonst kommt!“
„Das weiß ich doch auch nicht. Es muss an etwas anderem liegen. Vielleicht ist das hier eine komischen Klimazone oder so, wie dieses mysteriöse Bermuda- Dreieck oder wie man das auch nennen mag. Ein Ort an dem alles anders ist und an dem es keinen Empfang gibt und alle Menschen verhungern, weil niemand weiß wo sie sind…und wo wir gerade beim Thema sind, hat zufällig jemand ein Handy parat?“
„Wieso? Willst du dir eine Pizza ordern?“ Ryans Augen funkelten und ihr Gesicht bekam rote Wutflecken.
„ Schon gut, reg dich ab Adrienne Bingley. Ich meinte eigentlich, dass wir dann gucken könnten ob wir Empfang haben.“
„Ja weil es hier bestimmt Telefonmasten und so was gibt nicht wahr? Ich sehe schon den ersten, ach nein, Moment, war doch nur eine Palme!“
Deutlicher als zuvor traten Ryans harte Züge nun hervor. Mit vor Zorn glühenden Augen schaute sie umher und dennoch meinte Sam dahinter noch etwas Anderes in ihrem Blick zu erkennen, etwas das erstaunlich nach unbändiger Furcht aussah.
„ Also mein Handy ist irgendwo im Wasser.“ Kristen blickte traurig zu Boden.
„Meins wohl auch“, auch Ryan klang jetzt betrübt.
„Meins ist auch ersoffen!“, rief Emma von weiter links.

Emma. Sie hatte sich schon vor einer Weile aus dem Gespräch ausgeklinkt und war nun anscheinend damit beschäftigt einen Schlafplatz zu basteln. Ihre Füße waren dreckig, überall klebte Sand und ihre Haare waren verwüstet. Dass sie das nicht störte war ein Zeichen dafür wie ernst die Situation war in der sie steckten. Sie schichtete Blätter und Baumrinde übereinander, wahrscheinlich als eine Art Matratze, oder passender, eine Art Bio- Isomatte. Ihre Hände waren verschmiert und teilweise aufgerissen. Als Sam den Berg Äste und Stöcker sah, den Emma wohl für das Dach angeschleppt hatte, war ihr klar wieso. Sie alle sahen groß, krumm und stachelig aus. Sam war noch nie eine große Botanikerin gewesen und die Vegetation auf der Insel, auf der sie sich nun alle befanden, war ihr erst recht fremd.
Sie wandte den Blick von Emma ab und sah nun wieder die anderen an.
„ Habt ihr euch schon… umgesehen?“
Kristen schien zu wissen was Sam meinte.
„ Es gibt keine Häuser in der Nähe. Wir kamen zwar noch nicht wirklich weit, Ryan hat sich am Bein verletzt und Emma wollte dich nicht alleine lassen, aber bis jetzt haben wir noch keine anderen Menschen entdeckt.“
Als Kristen zu ende gesprochen hatte, blickte Sam zu Ryan und ließ den Blick über ihre Beine schweifen. Das linke Hosenbein war oberhalb des Knies abgerissen worden und darunter war eine offene Wunde zu sehen.
„‘s nichts Ernstes“, antwortete Ryan sofort. Sie sah aus als sei es ihr peinlich als schwaches Glied der Gruppe gehandelt zu werden.
„Hab‘ mir das Knie an einem Fels aufgerieben als ich dich an Land gebracht hab‘. Es tut nur ziemlich weh wenn ich das Bein beugen muss, aber das wird schon wieder.“
Sam besah sich nun alle nacheinander gründlich. Sie sahen müde und traurig aus.
„ Lasst uns die Diskussion für heute beenden. Ihr seht erschöpft aus. Ich jedenfalls fühle mich als hätte mich ein Bus überfahren. Wir sollten Emma helfen unser Schlafgemach zu Ende zu bauen. Okay?“
„Okay“ stimmten sie im Chor. Sie stapften durch den Sand hin zu ihrer fleißigen Freundin, die ihnen ein Lächeln schenkte, das tief aus ihrem Inneren zu kommen schien.
 



 
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