Die Armprothese

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bosbach46

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Niersexpress (Die Armprothese)

Der Zug Richtung Kleve hielt in Kempen. Der Hüne öffnete die Abteiltür und trampelte polternd ein. Ob hier noch ein Platz frei sei, dröhnte er und ohne meine Antwort abzuwarten fuhr er fort, Scheiße heiß, die Suppe läuft, fluchte er mit einer Stimme, die wie ein ungestimmter Kontrabaß klang.

Ich nickte, es war wirklich unerträglich. Im Radio hatte der Sprecher vom heißesten Tag am Niederrhein geredet.

Der holzfällerartige Koloß fiel in den Sitz und legte seine Beine auf die gegenüberliegende Sitzfläche.

Warum ist das Fenster geschlossen, fragte er gereizt.
Es klemmt, gab ich an.
Scheiß Eisenbahn, meinte er und stand auf.

Erst jetzt sah ich, daß der vielleicht vierzigjährige, vitale Mann seinen rechten Unterarm verloren hatte. Seine hellblauen Augen stachen blitzend aus seinem unrassiertem Gesicht hervor. Er schien zu irgendetwas entschlossen zu sein. Mit seiner Pranke versuchte er das Fenster zu öffnen.

Scheiße, rief er, zwischen Rahmen und Fenster klebt das verdammte Nikotin von zweiundzwanzigtausend Zigaretten und die Bundesbahn spart, spart am Reinigungskräften, bedienungsfreundlichen Fahrkartenautomaten, hübscher Dienstkleidung für die Zubegleiterinnen und an Fenstern die funktionieren könnten.

Aus seinem Plastikbeutel nestelte er einen achthundertgramm schweren Hammer hervor. Du glaubst gar nicht, fuhr er mich an, wie oft ich auf meinen Mottek angewiesen bin. Überall gibt es defekte Türschlösser, betrügerische Zigarettenautomaten und unfreundliche Beamte. Peng, mit dem Hammer dagegen und die Sache ist geritzt, schrie er, während er bereits mit dem Hammer von oben kräftig gegen die Griffe des Fensters schlug.

Du hast verspielt, uns hier schwitzen zu lassen, Du Fensterbiest, zischte er. Nach einigen wenigen gezielten Schlägen gab das Fenster nach. Er schob es hinunter und prustete ein dröhnendes Lachen heraus.

Jetzt hast Du hoffentlich kapiert, dass es keine Situation gibt, die nicht zu meistern wäre.
Wortlos pflichtete ich ihm durch meine sparsame Kopfbewegung bei.

Kannst Du nicht sprechen, raunzte er mich an.

Doch, doch.




Ah, ich vernehme eine menschliche Stimme. Und nun sag, warum hast Du keinen Hammer dabei ?

Ich war perplex. Mit fiel partout keine Antwort ein. Der Riese sah mich unverwandt an.

Na, sagte er zu mir gebeugt, keine Antwort ?

Ich nickte, keine Antwort !

Du hast keinen Hammer dabei, weil Du keine Zivilcourage hast ! Wo wohnst Du, fragte er fordernd.

Ich steige in Goch aus.

Bist Du hörgeschädigt ? Ich fragte wo Du wohnst ?

In einem der schönsten Dörfer, die der Niederrhein zu bieten hat.

Und wie heißt der wunderbare Ort ?

Asperden !

Du hast die Welt nicht gesehen, tobte er, Asperden ein schönes Dorf, unglaublich !
Ich mach Dir mal klar, in welchem Scheiß Kaff Du dahin vegetierst. Asperden ist eine Ansammlung von langweiligen Einfamilienhäusern in die sich die Bewohner verkrochen haben. Alles was es dort gibt sind gepflegte Vorgärten und hinter den Häusern grauenhafte Zierrasenanlagen ! Die Asperdener sind derart besessen von ihren Rasen, daß ich mich wundere, warum sie noch keine Schilder aufgestellt haben: Betreten des Rasens verboten !

Immerhin, wandte ich ein, gibt es in der Andoverstraße eine herrliche Naturwiese, auf der bereits im März üppig die Krokusse blühen.

Quatsch, Du erzählt Stumpfsinn. Eine hübsche Wiese, na und ! Treffen sich die Asperdener etwa auf ihren Wiesen ? Gibt es freundliche Nachbarschaften ? Werden gemeinsame Feste gefeiert ?

Doch, sagte ich, das gibt es schon noch.

Blödsinn, die Asperdener pflegen ihre verdammten Zierrasen und leben ansonsten zurückgezogen vor sich hin. Freiwillig würde ich in diesem Nest nicht leben wollen. Außerdem hasse ich den Zierrasenkult !

Warum ?




Weil ich deshalb meinen Arm verloren habe, brüllte er. Gut, gut, ich werde ruhig, keuchte er und Du hörst dir meine Geschichte an.


Bitte, meinte ich, erzähl .

Der Kerl sah mich prüfend an, als würde er sich fragen, ob ich für ihn vertrauenswürdig sei. Durch das geöffnete Fenster drang kühlender Fahrtwind in das überhitzte Abteil. Während der Zug auf Rheinberg zufuhr, wurde ich von dem Mann begutachtet, der mir nicht geheuer war. Wie er da saß und mich ins Visier nahm, bemerkte ich eine allmähliche Verwandlung. Seine Gesichtszüge, in denen bis gerade eben alle Wut dieser Welt sich ausdrückte, glätteten sich und seine Augen blickten mich warmherzig an.

Sie sind der erste Mensch seit Tagen, der ruhig geblieben ist, es tut mir leid, wenn ich sie erschreckt habe., sagte er bedächtig und überraschenderweise so leise, dass ich genau hin hören mußte.

Ist schon gut, meinte ich.

Ich bin einfach aus den Fugen geraten, erklärte er, und ......er stockte.

Und..., was möchten sie sagen, fragte ich nach.




Sehen Sie, ich hatte ein Häuschen, einen Sohn, eine Frau, achthundert Quadratmeter feinsten englischen Zierrasen, leitete eine Filiale einer hier in der Gegend ansässigen Bank und war geachtet. Jetzt bin ich fertig und würde am liebsten Einsiedler werden.


Fahren Sie fort, ermunterte ich ihn. Der Fremde saß nun zusammengesunken vor mir.

Der Rasen mußte ja ständig gemäht werden. Jeden Samstag um 10 Uhr morgens schoben die Weezer Männer ihre Benziner in den Garten und legten loß. Kneifen war nicht erlaubt.
Wessen Rasen die Vierzentimeterhöhe überschritt, der wurde geächtet. Also machte ich mit. Fünfzig Zentimeter Schnittbreite, automatischer Vorschub, Schnellgang, ein kraftvolles Gerät nannte ich mein Eigen. Und dann eines morgens, sprang die Mühle nicht an. Alle Nachbarn hatten das Rennen um den gepflegtesten Rasen bereits begonnen und ich verzweifelte an meiner streikenden Maschine.

Was dann ?

Ich versuchte wie früher bei den Flugzeugen, den Propeller zu drehen.



Ich verstehe, der Motor sprang an.

Umgehend, mein Arm war direkt abgetrennt. Er zeigte mir den Stumpf.



Ich spürte keinen Schmerz, wohl wurde mir schwarz vor Augen und als ich wieder erwachte lag ich auf der chirugischen Abteilung.

Meine Frau saß an meinem Bett und weinte. Ich ließ sie weinen, wie hätte ich auch trösten können, schließlich fehlte mir ein Arm und in dem vorhandenen steckte eine Infusionskanüle. Besser keine Streicheleinheiten, überlegte ich.

Wenige Tage nach dem Unfall besuchte mich ein junger Mann. Er legte mir eine Visitenkarte vor und erklärte er sei Mitarbeiter des Institutes für intelligente Prothetik.
Es wäre kein Problem, versprach er, mir eine mechanische Armprothese zu verschaffen, die ich durch nervale Verbindungen willentlich steuern können würde. Er zeigte mir großformatige Prospekte, auf denen die Wunderwerke der Technik eindrucksvoll abgebildet waren. Das Unternehmen suche Versuchspersonen, deshalb könne er mir die Installation der Prothese kostenneutral anbieten.

Plötzlich wirkte mein Gegenüber wie entrückt. Er schwieg einige Zeit und sah nach draußen. Der Zug fuhr an Maisfeldern vorbei und manchmal war ein einzelner Bauernhof zu sehen. Längs der Bahnstrecke stand ein baufälliges, angerostetes Schild. Die schwarzen Buchstaben waren verblaßt und nur Ortskundige konnten vermuten, dass früher mal "Geldern" auf dem Schild gestanden hatte.

Ich war neugierig geworden und hüstelte. Der Unbekannte sah mich an.

Was kam dann, fragte ich.


Dann, erlebte ich eine Serie von Einschränkungen. Natürlich erst nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Ich war Naßrasierer, verstehen Sie. Jeden Morgen schäumte ich mich ein, straffte mit der linken Hand die Wangen und strich mit der rechten Hand die Klinge über meinen Bart. Wie sollte ich mich einhändig rasieren können. Ich tobte vor Wut. Wenige Tage nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus rief Gerd Janssen mich an, er war Vorsitzender unseres Schützenvereines. Sie hätten für mich eine Vorrichtung konstruiert, mit der ich den Vogel abschießen könnte. Ich stellte mir die Presse vor, wie sie schreiben würde "Einarmiger wird Schützenkönig" und lehnte dankend ab.

Für einen kurzen Moment schwieg er. Plötzlich sah er mich eindringlich an. Auffällig leise meinte er, mir vertrauen zu können und fuhr fort.




Meine Frau, wie sollte ich sie in meinen Armen halten können ? Vor dem Unfall waren wir regelmäßig gierig aufeinander. Die Lust war prompt nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus wieder aufgeflackert, brannte lodernd und meine Frau hauchte, komm Junge es wird Zeit. Sie verstehen. Explosion im Bauch, erhöhter Blutdruck und dann die peinliche Panne. Nach einer Minute hatte ich die Schnauze voll ! Verstehen Sie ?

Nicht ganz, deutete ich an.

Okay, stehen Sie mal auf, befahl er.

Warum ?

Ein Experiment, kommen Sie, stehen Sie auf, es wird nichts Schlimmes passieren.

Ich tat ihm den Gefallen.

So, nun nehmen wir mal an, Sie lieben ihre Frau. Voller Leidenschaft begegnen sie ihr. Sie sind scharf aufeinander und möchten wild übereinander herfallen, aber der Reisverschluß ihrer Hose klemmt. Und jetzt öffnen Sie bitte einhändig ihren Reisverschluß.

Das ist peinlich, wandte ich ein.

Probieren geht über studieren, keine Hemmungen.

Der Knopf paßte nicht durch das Knopfloch und ich zerrte vergeblich an ihm.

Genau so war es Junge, schrie der Kerl. Genau so ! Mein zweibeiniges Paradies blickte mich entsetzt an und wandte sich wortlos ab. Ich wußte Bescheid. Sie hatte mir unmißverständlich verdeutlicht, mit keinem Krüppel dieser Welt ins Bett zu gehen. Was konnte ich da noch tun ? Sag schon, was sollte ich tun ?

Mir war danach das Gespräch zu beenden. Raus aus dem Abteil bevor der Einarmige zum Hammer greifen würde und mich fragen würde, ob ich seine Frau kenne. Seine Augen
stierten ins Leere, in einen unbegreiflichen häßlichen Kosmos der seinen persönlichen Schmerz immer wieder neu gebar.

Ich kann Dir sagen was ich getan habe; telefoniert habe ich. Mit diesem Lüderscheidt vom Institut für intelligente Prothetik. Bauen Sie die Prothese für mich, heulte ich ins Telefon !

Der Zug erreichte den Weezer Bahnsteig. Mein Gesprächspartner erhob sich, nahm die Plastiktüte mit dem Hammer und stand unschlüssig vor mir.

Ich muß hier aussteigen, sagte er fast weinerlich. Das bedeutet, Sie verpassen den besten Teil meiner Geschichte.



Schade, befand ich.

Wo wohnen sie in Asperden ?

Im Puttenbruch.

Am Samstag komme ich mit dem Fahrrad und erzähle den Rest.

Entsetzt fragte ich nach, ob er das wirklich wolle.

Energisch bejahte er seine Absicht und stieg aus. Ich sah ihm nach, wie er mit hängender Schulter zum Ausgang schlenderte. Noch einmal drehte er sich zu mir, bis Samstag, rief er.

Vorsichtig winkte ich ihm zu. Ich wollte keinesfalls unhöflich wirken.


Voll Freude bewunderte ich den von mir gedeckten Frühstückstisch. Exakt wie ein Familienidyll aus der Butterwerbung befand ich. Die Sonne schien auf die Terrasse und meine kleine Familie nahm Platz. Oh, Wonne welch friedliches Leben, wäre da nicht plötzlich der Einarmige mit seinem klapprigen Fahrrad durch den Garten auf uns zu gefahren.

Wünsche einen Guten Morgen, krakeelte er. Herausfordernd grinste er uns an. Meine Frau schien statt der Pupillen Fragezeichen in ihren Augen zu haben, weshalb ich leise zischte, er hat sich mir im Zug aufgedrängt. Da er unvermeidlicherweise in unser Leben getreten war, bot ich ihm eine Tasse Kaffee an.

Ich nehme an, Ihre Frau ist informiert und kennt den ersten Teil meiner Geschichte.

Rita stand auf. Leider nur ungefähr, sagte sie knapp, ich würde wirklich gerne den weiteren Verlauf hören. Nur schließen die Geschäfte bald und ich muß einkaufen.


Sie verließ mich, während ich mit dem Eindringling wie gefangen auf meiner Terrasse sitzen mußte. Meine Stimmung war mit einem Schlag unter dem Wetter, wie Engländer es ausdrücken würden. Schlechter konnte sie nicht sein.

Der unsensible Mensch schlürfte seinen Kaffee, stellte die Tasse fahrig ab und fixierte mich.

Ich halte meine Versprechen, betonte er. Er legte einige zerknitterte Fotos auf den Tisch. Da, gucken Sie, das bin ich mit meiner Prothese. Das Bild zeigte einen durchtrainierten, muskulösen Mann, der rechts eine futuristische Konstruktion trug, die wie ein Roboterarm aussah. Klickt es bei Ihnen, fragte er.

Ich gab zu, wie meistens nichts zu verstehen.

Dieses Ding da hat mein Leben zerstört !

Vom Nachbargrundstück dröhnte ein Rasenmäher zu uns herüber. Außer sich vor Wut sprang mein ungebetener Gast auf und rief meinem Nachbarn zu, er solle die Kiste ausstellen, sonst würde er das tun.

Bitte, fuhr ich dazwischen, das geht zu weit.

Zu weit ? Die Folgen gehen zu weit, tobte er.

Bitte, kommen Sie, Sie erschrecken meinen Nachbarn.

Wie ein Donnerschlag lachte er schallend und meinte, heute keinen Hammer dabei zu haben. Er sei wirklich harmlos.

Verdammt harmlos, befand ich bissig.

Brav wie ein Lamm kehrte er zum Tisch zurück. Einarmiger wieder lieb, rief er dem verschreckten Nachbar zu.

Immer wieder gehen die Gäule mit mir durch, sagte er zu seiner Entschuldigung. Aber kommen wir zur Sache. Er setzte sich umständlich auf seinen Stuhl und nippte verlegen an seinem inzwischen abgekühlten Kaffee.

Die Prothese paßte, wie angegossen, begann er. Die Verbindung zu den vorhandenen Nervenendungen wurde unter lokaler Betäubung hergestellt und nach einem Tag durfte ich das neue Wunderwerk bewegen. Mehr als hundert kleinste Hydraulikzylinder bewegten ein mechanisches Meisterwerk, mit dem ich filigranste Bewegungsabläufe ausführen konnte. Meine Kunsthand wies den Vorteil auf, keine einzige zittrige Bewegung auszuführen. Ich konnte mit ihr feinste Arbeiten ausführen. Der Clou war ein Latexüberzug in Hautfarbe, der auf Körpertemperatur aufgeheizt wurde. Ich konnte mit diesem Instrument wesentlich zärtlicher streicheln, als es meine frühere fleischliche Hand
vermocht hätte. Nach und nach wuchs die Freude über mein neues Körperteil. Ich war begeistert. Deshalb bemerkte ich die ersten Anzeichen nicht.

Welche Anzeichen ?

Na ja, irgendwann ertappte ich meinen Kunstarm, wie er mit dem Zeigefinger in meiner Nase bohrte.

Das ist nichts Schlimmes, meinte ich.

Sicher, nur machte es mich stutzig, weil die Prothese nur beweglich sein sollte, wenn ich willentlich eine Bewegungsfolge ausführen wollte. Jede Bewegung setzte eine

Handlungsabsicht voraus. Mein neue Arm fand allein den Weg zur Nase, ohne Aufforderung.

Vielleicht juckte Ihre Nase ?

Sehen Sie, selbst wenn meine Nase triefte oder juckte oder ein fetter Popel mich störte, meine Prothese war ungehorsam. Zufällig befand ich mich an diesem Tag in ihrem Dorf.
Ich hatte Hunger und wollte mir eine Kleinigkeit kaufen. Ein belegtes Brötchen. In der Nähe der Kirche, in diesem merkwürdigen Lebensmittelgeschäft.

Ja, und ?

Der Verkäufer schlich wie eine Schnecke hinter die Brottheke, griff als sei er zur Zeitlupenbewegung verzaubert worden ein Brötchen und schnitt es ohne eine Spur von Eifer zu zeigen auf. Ich kam mir vor, als würde ich diesen Menschen bestrafen, weil ich ein belegtes Brötchen wollte. Dann mußte ich mit der Brötchentüte zu der unbesetzten Kasse gehen. In der Nähe saß eine voluminöse Verkäuferin, die damit beschäftigt war Kunststoffblumen zu verkleben. Vorwurfsvoll traf mich ihr Blick. Zögernd erhob sie ihren massigen Hintern und näherte sich ächzend der Kasse. Mir war, als würde sie denken, Du Arschloch willst ein Brötchen bezahlen und wagst es mich in meiner Trägheit zu stören, Du bist des Todes Einarmiger ! In dem Moment zuckte meine Prothese und warf ihr die Brötchentüte vor die Füße. Dann schnellte mein Körperersatzstück in die Höhe und zeigte ihr den Vogel.

Sie waren einfach sauer, warf ich ein.

Natürlich ärgerte mich die Schlafwandler in dem Geschäft, aber habe ich deswegen meinem Arm befohlen, so kraß meinen Unmut zu äußern ?

Keine Ahnung.

Eben, mein Arm verselbstständigte sich. Er begann mehr und mehr meine Gefühlswelt auszudrücken. Der kurz und knapp an die Stirn getippte Zeigefinger wurde zur Regel. Eines Tages flatterten die ersten Strafanzeigen ins Haus. Der Klever Staatsanwalt der meine Anklageschriften bearbeitete drohte mir Beugehaft an, da er meine schriftlichen Erläuterungen als Verspottung empfand.

Konnten Sie die Prothese nicht neu einstellen lassen ?

Was glauben Sie denn ? Mehrfach wählte ich das Institut für "Intelligente Prothetik" an.
Bereits während des Wählens legte mein Kunstarm wieder auf. Ich wurde verrückt, der eine Arm gehorchte und der andere verhinderte meine Handlung.

Schließlich kam der Tag an dem etwas geschehen mußte.



Mein Besucher schüttete sich noch einen Kaffee ein. Ich sah ihm schweigend zu und überlegte, ob ich meine Zeit mit einem Wahnsinnigen verbrachte. Im Garten schlich unserer Kater umher. Eine fette Drossel fesselte seine Aufmerksamkeit. Sie hüpfte auf dem Wäscheständer umher und schimpfte erregt über unseren vierbeinigen Vogelmörder.

Eine hübsche Katze ist das, sagte der Fremde besonnen.

Ich stimmte ihm zu. Er rieb an seinem Stumpf. Sein Gesicht drückte einen heftigen, stechenden Schmerz aus. Die Katze verlor ihre Jagdlust und stolzierte auf die Terrasse zu. Mit einem eleganten Sprung landete sie auf den Schoß meines Gastes und schnurrte prompt, laut vor sich hin, kurz nachdem sie sich bequem auf der Hose des Einarmigen zusammengerollt hatte.

Tiere mögen mich. Außerdem ist mir aufgefallen, wie unhöflich ich zu Ihnen war.
Ich bin quasi inkognito hier, habe meinen Namen unterschlagen.

Na ja, ein Meister des "Guten Benehmens " scheinen sie ohnehin nicht zu sein. Aber tierlieb, lachte ich versöhnlich.

Also, ich bin Andreas Ströttker, Bankkaufmann ade, ehemaliger aktiver Vereinsschütze,
früher verheiratet und Hausmitbesitzer, einstmals umgänglicher, menschenfreundlicher Zeitgenosse, durch das Leben belehrt und nunmehr ein kritischer Geist, der Dummheit und Gemeinheit nicht mehr verzeiht. Und Sie, fügte er hin zu, sind Herr Georg Franz Janssen, Konto-Nummer: 331 280 512, Inhaber eines altmodischen Goldkontos, etwas verschwenderisch gestrickt, unkonventionell und familienbezogen.

Verdutzt nickte ich.

Woher kennen Sie meine Konto-Nummer?

Keine Bange, lachte er, ich sah vorhin den Überweisungsträger, den Ihre Frau vom Tisch nahm. Mein Nummerngedächtnis ist trainiert.

Er kraulte die Katze und sah mich belustigt an.

Dieses Tier hier, erklärte er, hat mich von meinem verfluchten Phantomschmerz abgelenkt. Aus heiterem Himmel schmerzt manchmal meine nicht mehr vorhandene Hand.

Das ist bitter, bemerkte ich.

Es geht, der Schmerz vergeht meist nach wenigen Minuten. Überwiegend meldet er sich vor Wetterumschwüngen. Bevor es regnet zum Beispiel.

Und, wird es regnen.

Ja, ab Mittag etwa, meinte Andreas, ich werde auch jetzt los fahren, sonst würde ich nachher geduscht zu Hause ankommen. Können wir uns duzen ?

Klar, Andreas.

Er prostete mir mit seiner Kaffeetasse zu, schubste die Katze vorsichtig wach und erhob sich.

Ich muß zurück, Georg, vielen Dank für den Kaffee.

Fast eilig stieg er auf das veraltete Fahrrad. Ich sah ihm nach. Er hatte keine Ankündigung gemacht, noch mal kommen zu wollen, um seine Geschichte weiter zu erzählen. Ich war beunruhigt. Abgebrochene Geschichten wirkten ungünstig in mir nach. Die Geschichte
mußte ein Ende haben beschloß ich. In unsrer Garage verstaubte eine Vespa. Vielleicht würde der Roller störungsfrei anspringen und ich könnte ihm nachfahren. Es klappte. Ohne an meinen Helm zu denken brauste ich ihm hinterher. Glücklicherweise sah ich ihn wie er die Triftstraße überquerte um zur Hommersumerstraße gelangen zu können. Seine Kondition war herausragend. Auf dem alten Drahtesel hielt er eine Geschwindigkeit von annähernd 30 Stundenkilometern. Er radelte weiter Richtung Hassumerstraße und bog dort links ein. Überquerte die Autobahnbrücke und hielt auf die Gaesdonk zu. Ich achtete auf einen genügend großen Abstand. Unentwegt hielt Andreas sein professionelles Tempo. Am Internat fuhr er vorbei, dann an dem Reitstall und schließlich erreichte er die Hülmerheide. Noch erkannte ich sein Ziel nicht, bis er unerwartet vor Weeze rechts in einen landwirtschaftlichen Nutzungsweg einbog und schnurstracks auf das Petrusheim zufuhr. Vor einer kleinen Baumgruppe, die das rückwärtige Gelände des Obdachlosenheimes begrenzte, hielt er an. Aus den Büschen trat ein Mann hervor, der ein mindestens eben so altes Fahrad schob.

Der Hinzugekommene hielt einen Plastikbeutel in der Hand. Beide legten die Räder ab und Andreas zog einen kastenartigen, schwärzlichen Gegenstand aus der Tüte. Beide betrachteten eine Weile den Inhalt, bevor sie einträchtig ihre Fahrt fortsetzten. Über den Feldweg bogen sie in die landwirtschaftliche Anlage des Nichtseßhaften-Heimes ein. Langsam tuckerte ich ihnen nach. Irgendwo vermutete ich, würden sie hier wohnen. Ich fand jedoch weder eines der alten Fahrräder, das angelehnt an einer Hauswand hätte stehen können, noch eine andere Spur. Mein Handy spielte den Tango, den ich statt des schrillen Ruftones einprogrammiert hatte. Ich hörte gleich an der Stimme meiner Frau wie aufgeregt sie war. Ihre schwarze Schatulle war von jetzt auf gleich unauffindbar. Ihr Schmuck war weg.

Hast Du vielleicht dein Schmuckkästchen verlegt ?

Nein, bevor ich zum Einkauf fuhr öffnete ich es und nahm die Korallenkette heraus.

Beruhige Dich, dein Schmuck kommt zurück, versprochen !

Was meinst Du, schrie sie ins Telefon.

Die Verbindung ist schlecht, gab ich zurück und legte auf. Es dämmerte in meinem Hirn. Jetzt war schnelles Handeln angesagt. Ich gab Vollgas und fuhr mit dem altertümlichen Roller in den Haupthof des Wohnheimes ein. Möglicherweise war die resolute Chefin der Einrichtung im Hause. Schon häufiger war mir erzählt worden, dass sie ähnlich wie die amerikanische Außenministerin die Dinge ungeschminkt ansprach und zielstrebig Lösungen vorgab. Selbst die alten Landwirte aus der Umgebung zollten der Heimchefin Respekt.

Frau Domener residierte hinter ihrem ausladenden Schreibtisch. Ich stellte mich kurz vor und beschrieb mein Anliegen. Über die Lesebrille blitzte sie belustigt hinweg.

Er legt immer noch Leute rein, äußerte sie sichtlich amüsiert. Kommen Sie mit zu den Wohnhäusern, wenn er und sein Kumpel in ihrem Haus waren, erhalten Sie ihr Hab und Gut umgehend zurück. Wahrscheinlich hat er Ihnen die Geschichte von der verselbst-ständigten Prothese aufgetischt.

Hat er !

Die schlanke, Sechzigjährige lachte laut aus sich heraus. Ein Schlitzohr sei er immer gewesen, der Andreas. Aber die Bankerstory sei neu. Alles habe er schon gemacht. Zuletzt habe er ein Sonnenstudio betrieben und dann ereilte ihn sein Unfall mit dem Rasenmäher. Er wurde aus dem Gleis geworfen.

Wir betraten ein freundlich wirkendes Einfamilienhaus. Die selbstständigeren Heimbewohner würden alle in solchen Häusern in Wohngruppen auf ihre Entlassung vorbereitet, erklärte die Chefin. Im Flur rief sie mit der Stimme eines hartgesottenen Feldwebels die beiden Männer. Verschüchtert betraten sie den Flur. Sie deutete auf mich.
Der Herr bekommt etwas von Euch, verlangte sie.

Wenig später startete ich meinen Roller, beladen mit einem luftgetrocktnetem Schinken aus eigener Herstellung, der Schatulle und der Erkenntnis ganz ohne Hammer den weiteren Nachmittag verbringen zu wollen.

Im Rückspiegel sah ich den Einarmigen, wie er das Auto seiner Chefin putzte. Die Zeiten ändern die Menschen nicht wirklich, dachte ich und Strafe muß sein. Dann erkannte ich, wie die Chefin prüfend hinter ihren Schützling ging und ihm einen freundlichen Klaps auf den Po gab. Noch lange hallte ihr Gelächter nach.
 

herb

Mitglied
beeindruckt

Hallo Bosbach,

Toll, was soll ich weiter sagen, vielleicht: wie interessant es auf einem scheinbar langweiligen Dorf zugehen kann, smile
 

Inu

Mitglied
An 'Bosbach'

Eine interessante Geschichte, extrem spannend erzählt. Ich habe jede Zeile genossen. Toll und überraschend war auch das Ende, das ich soo nicht erwartet hätte.

Nur eine kleine Frage: Kann ein Einarmiger ( mit oder ohne Prothese ]wirklich so gut Radfahren? Habe mir noch nie darüber Gedanken gemacht, aber ich könnte mir vorstellen, dass man sich sowas antrainiert?

viele Grüße
Inu
 

Zefira

Mitglied
Verrückte Geschichte, das Lesen hat großen Spaß gemacht.
Kleine Kritik nur:
Die Schauplatzwechsel gefallen mir nicht so recht, der erste - vom Zug an den Frühstückstisch - ist mir allzu schnell; der zweite - als der Erzähler den Einarmigen verfolgt - nicht so recht motiviert. Wenn er nur hinterherfährt, um die Geschichte zu Ende zu hören, warum achtet er dann auf "genügend großen Abstand", statt den Mann einzuholen? Ich hätte es einleuchtender gefunden, wenn ihn die Sache mit der Kontonummer so beunruhigen würde, daß er einfach erfahren möchte, wo der Kerl wohnt.
Es gibt übrigens ausgezeichnete einarmige Radfahrer, Inu; in meiner Teja-Zeit :D hatten wir einen in der Nachbarschaft.
Grüßle,
Zefira
 

herb

Mitglied
Rad fahren

lach, mir fällt der witz ein von dem kind, dass an der mutter mit dem fahrrad vorbeifährt: "mama, mama; guck mal
ohne arme!" also freihändig.
die nächste runde: "mama, mama, guck mal, nun ohne zähne."
entschuldigung
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

eine atemberaubende geschichte. da ist wirklich alles dran. volle punktzahl und aufnahme ins "Lupengold". ganz lieb grüßt
 



 
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