Die Bahn kommt

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rasumichin

Mitglied
Der 22. April war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Ein laues Lüftchen, angenehm warme Temperaturen und vor allem ein blauer Himmel von dem die Sonne auf die Erde herab strahlte. Von wechselhaftem Aprilwetter war nichts zu merken.
Torben befand sich auf dem Weg zum Bahnhof, seine Schritte waren gleichmäßig, und unfreiwillig passte sich sein Atem diesem Rhythmus an. Eine Marotte die neuerdings aufkam, genauer gesagt war sie vor einigen Monaten aufgekommen, seitdem er regelmäßig joggte. Er war guter Dinge, pfiff eine belanglose Melodie vor sich hin und genoss die Sonnenstrahlen, die durch das frühlingshafte, saftig grüne Laub der Allee drangen.
Heute stand wieder ein relativ voller Stundenplan auf dem Programm. Vor sechs Uhr abends würde er wohl nicht zurück sein. Torben studierte BWL in Köln. Jeden Morgen nahm er den Zug vom Bonner Hauptbahnhof; innerhalb von dreißig Minuten brachte dieser Torben in die Domstadt. Zuerst hatte er darüber nachgedacht umzuziehen, aber die gemeinsame Wohnung mit seiner Freundin aufzugeben war er nicht bereit. Außerdem hätte es bedeutet, dass er wahrscheinlich trotzdem jeden Tag gependelt wäre, nur andersherum.
Die Poppelsdorfer Allee streckte sich wie immer ewig; heute war das egal, der Tag lud zum leben ein.

Auch Karl streckte seinen Kopf in die Sonne. Er stand vor dem Portal des Bonner Hauptbahnhofs. Hier war er oft. Karl liebte die Züge, diese großen, langen, vor Kraft strotzenden Ungetüme, die sich schwerfällig und elegant zugleich auf den Schienen bewegten.
Karl nippte an seinem Kaffee und atmete tief ein. Vorfreude und Aufregung waren dabei ihn zu übermannen. Seine Glatze glänzte in der Sonne wie das Dach eines frischpolierten Autos. Einen Moment lang dachte er an seine gigantische Modelleisenbahn - eine Märklin HO – die sich durch seine ganze 5 Zimmerwohnung schlängelt; sein ganzer Stolz.
Auf Bauchnabelhöhe hängen dort die Spanplatten an feingliedrigen Ketten von der Decke herab. Es ist eine Eisenbahn, die ihresgleichen sucht, mit zahllosen Miniaturautos, Miniaturmenschen und originalgetreuen Zügen, deren Fahrplan mit einem Computerprogramm exakt gesteuert wird. Im Wohnzimmer erstreckt sich die Bahn durch den halben Raum. Hier steht ein Nachbau von Lummerland inklusive Emma, Lukas und Jim. Zwei beachtliche Berge aus Pappmaché ragen aus der Mitte der Insel empor.

Jetzt hatte Karl aber keine Zeit mehr in den Gedanken über seine Eisenbahn zu schwelgen, denn gleich würde die Regionalbahn nach Köln einfahren. Vorausgesetzt, der Zug hatte nicht wieder einmal Verspätung, was durchaus nicht ungewöhnlich war. Angefüllt mit gespannter Erwartung, den Kopf würdig in die Luft gereckt, stieg Karl die Stufen zum Eingang empor - fast konnte man meinen, den „Imperial March“ spielen zu hören. Die Tür öffnete sich fast von selbst, seine Bewegungen schienen in Zeitlupe abzulaufen. Er schritt vorbei an der Bahninformation, die selten brauchbare Auskunft geben konnte, öffnete die zweite Tür und stand auf dem Bahnsteig von Gleis 1. Nach einer wie selbstverständlich erscheinenden Linksdrehung, stolzierte er den Bahnsteig entlang. Das kahlköpfige Mädchen, das ihn um Geld anbettelte, ignorierte er.

Endlich war Torben am Ende der Poppelsdorfer Allee angekommen. Strammen Schrittes bog er nach links in die schattige Quantiusstrasse ein. Hätte er die Jeansjacke mitnehmen sollen? Irgendwie hatte er das vergessen. Jeden Morgen das gleiche Theater: Fünfmal auf den Wecker hauen, bis er nicht mehr nachweckt, dann das verärgerte Gemurmel seiner Freundin, die später aufstehen muss, weil sie in Bonn studiert.
Bisher hatte er es immer geschafft relativ gemütlich anzukommen und mittlerweile war er im neunten Semester, warum also nicht auch heute?
Torben grinste zufrieden vor sich hin, passierte den Eingang zur Fixerstube und begann auf den letzten Metern zu rennen. Bald war der Zebrastreifen erreicht und dann auch der Eingang zum Bahnhof. Er rannte durch die Unterführung, bis ganz hinten durch, zur Rolltreppe die auf Gleis 1 führt. Torben merkte, dass der Zug noch nicht eingefahren war und drosselte das Tempo auf „normal“.
Die Rolltreppe funktionierte nicht, dafür aber der Lautsprecher auf dem Gleis, der die baldige Einfahrt des Zuges verkündete. Vor ihm auf der Treppe stand eine Frau im Blümchenkleid, das bis zu den Kniekehlen reichte. Sie trug einen Tanga-Slip, der hindurchschien. Ihr apfelförmiger Po war durch das weiße Kleid mit den blauen Blümchen zu erahnen. Torben wünschte sich, dass die Treppe niemals aufhören würde, doch schon war er oben angelangt.
Schnurstracks begab er sich zur weißen Linie an der Bahnsteigkante. Torben hatte die Frau wieder aus den Augen verloren, stattdessen musterte er den weißen Strich.

Langsam näherte sich auch Karl, der bis zu diesem Zeitpunkt eher im Hintergrund gewartet hatte, dem weißen Strich. Seine Nasenflügel bebten und sein Atem wurde schwerer als der Zug dem Bahnhof näher kam. Die Windschutzscheibe der Lok reflektierte die Sonnenstrahlen. Karls Gesicht verriet absolute Konzentration, während Torben wieder eine Melodie pfiff.
Endlich fuhr der Zug ein. Karl versetzte seinem Vordermann einen gut getimten Stoss. Die Melodie verstummte sofort. Stattdessen sachtes Knacken. Ein wenig Blut spritzte zur Seite.
Panik machte sich unter den Leuten breit. Wie aufgescheuchte Hühner rannten sie umher, schrieen.
Karl blieb noch einen Moment lang stehen, seine Gesichtszüge entspannten sich.
Mit einem zufriedenen, sanften Lächeln im Gesicht drehte er ab.
 
A

Arno1808

Gast
Hallo rasumichin

und herzlich willkommen bei den Lupianern!

Ich möchte Deinen Einstandstext nicht gleich mit Verbesserungsvorschlägen bombardieren, sondern Dir erst einmal meinen Gesamteindruck schildern:

Der überraschende Schluss hat in mir den Gedanken aufkommen lassen, dass mich eigentlich die (vielleicht nur andeutungsweise) beschriebenen Beweggründe für die Tat von Karl mehr interessiert hätten, als die Gedanken von Torben.

Karl handelt aus meiner Sicht vollkommen motivlos. Das aber gibt es nicht. Selbst ein wahlloser Mord hat irgendwo sein Motiv, und wenn es die Psyche des Täters ist.
Das fehlt mir hier.
Vielleicht habe ich es auch überlesen?

Lieben Gruß

Arno
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
ja, jetzt sitz ich da und wollte eigentlich etwas zur geschichte schreiben, über den stil und ein paar verbesserungsvorschläge, aber jetzt, wo ich sie fertig gelesen hab, bin ich nur noch verwirrt.
erst die langatmigen schilderungen von torben und karl, von eisenbahnen und sonnenstrahlen. und dann das unerwartete ende.
nein, es ist nicht so, dass ich ein problem habe mit unerwarteten enden, aber dieses ist eine spur zu unerwartet und vor allem zu unerklärlich. ich mag es, wenn sich mir dann am ende dinge erschließen, die ich am anfang nicht zuordnen konnte. wenn ich noch mal nachlesen muss, um zu verstehen. aber hier versteh ich gar nix. keine beziehung zwischen karl und torben wird angedeutet.das einzige, was die beiden verbindet, ist ein zug.
du lässt mich ein bisschen frustriert und ratlos zurück.

die k.
 
@ rasumichin

[Die Geschichte betreibt keine Ursachenforschung und liefert keinen Aha-Effekt. Sie lässt am Ende im Idealfall einen nachdenklichen Leser zurück.
Das Leben wird als etwas zerbrechliches und auf keinen Fall selbstverständliches beschrieben. Der Tod kann überall, in den alltäglichsten Situationen, über jeden x-beliebigen hereinbrechen und manchmal ist es nur der Zufall, der darüber entscheidet. Oder eben Karl.]

Meine Meinung:

Die Geschichte würde eigentlich erst dort beginnen, wo Du sie beendest. Das läßt nicht einen "nachdenklichen" sondern einen enttäuschten Leser zurück, denn dieser hat aber auch gar nichts Nachdenkenswertes gelesen.

"Karl" eignet sich hier nicht als Modell zur Verdeutlichung von "Zufall", weil er ein Mensch ist, und Menschen haben Motive. Was Du schilderst ist eine Beziehungstat, deren Motive weder angedeutet noch erklärt sind. Insofern ist der Text eher ein Stilleben, welches sich selbst genügt.

Solltest Du die Zufälligkeit/ Beliebigkeit des Sterbens, die Banalität des Todes schildern wollen, ist obiger Text wohl reichlich misslungen.

Es sind dennoch -in diesem Stilleben- einige Details liebevoll ausgeführt, z.B. wie sich das Licht auf der Scheibe der hereinkomenden Lok spiegelt.
Andererseits enthält der Text auch viele Klischees, z.B.: "Leute wie aufgescheuchte Hühner..."
 

rasumichin

Mitglied
An Waldemar Hammel

Ursprünglich veröffentlicht von Waldemar Hammel



"Karl" eignet sich hier nicht als Modell zur Verdeutlichung von "Zufall", weil er ein Mensch ist, und Menschen haben Motive. Was Du schilderst ist eine Beziehungstat, deren Motive weder angedeutet noch erklärt sind. Insofern ist der Text eher ein Stilleben, welches sich selbst genügt.

Bevor ich auf Deine Kritik konkret eingehe heb ich noch zwei Fragen:

Was meinst Du konkret mit Beziehungstat?

"Die Geschichte würde eigentlich erst dort beginnen, wo Du sie beendest."

Warum?

Viele Grüße,

rasumichin
 



 
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