Die Bauernstube

Raniero

Textablader
Die Bauernstube

Rene hatte es kommen sehen. Hätte sie doch bloß nicht diese verfluchte SMS losgeschickt.

Seit einigen Tagen befanden sich Diana und Rene auf einem Kurzurlaub in einem kleinen Ort an der Nordseeküste, genauer gesagt, am ostfriesischen Meer.
Obwohl man an einigen Tagen praktisch kein Meer mehr sah, war ihre Stimmung mehr als ausgezeichnet, bei diesem herrlichen Herbstwetter; ein Zimmer mit Frühstück in unmittelbarer Nähe zum Strand, Herz, was willst du mehr?
Diana und Rene waren mit dem Auto angereist, und sie hatten die Absicht, einige Touren mit dem Wagen in die nähere Umgebung zu unternehmen, doch nur bei schlechtem Wetter; bei dieser Herbstsonne jedoch, fanden sie, wäre das schlichtweg eine Sünde gewesen.
Darüber hinaus hatten sie sich noch etwas anderes vorgenommen: Fisch, Fisch und nochmals Fisch.
Genauso wie vor einigen Jahren, als sie einen kleinen Urlaub zur gleichen Jahreszeit in diesem Ort in derselben Pension verbracht hatten, beabsichtigten sie jetzt ebenfalls, sich soviel wie möglich an den herrlichen Fischgerichten der Gegend zu laben, denn wo sonst sollte man das denn tun, wenn nicht hier…
Im Vergleich zu damals war das Angebot an Speisen und Trank noch gestiegen; zwischenzeitlich gab es in dem kleinen Ort fast mehr Restaurants als Ferienhäuser, und alle überboten sich gerade zu mit kulinarischen Genüssen.
Aus diesem Grund sahen die Kurzurlauber absolut keine Notwendigkeit, sich bei diesem Überangebot abends in’s Auto zu setzen um anderweitig, wo selbstredend ebenfalls zahlreiche Gasthäuser zum herrlichen Schmaus einluden, ihr Glück zu versuchen.
So hatten sie es sich gedacht, in aller Unschuld; die Ärmsten, wenn sie jedoch geahnt hätten…

Vor längerer Zeit hatten Diana und Rene bereits mit einem befreundeten Ehepaar namens Erika und Harald in derselben Gegend einige Wochenenden verbracht. Diese beiden, die sich schon sehr früh als ausgesprochene Gegner der heimischen Küche im Sinne von daheim essen outeten, galten im gesamten Freundeskreis als hypermodern, hatten sie doch schon zu ihrer Hochzeit, als sie ihr schnuckeliges Heim bezogen, auf den Einbau einer Küche verzichtet, da sie grundsätzlich nur auswärts zu speisen pflegten.
„Eine Kaffeemaschine reicht uns, nicht wahr, Schatz?“
Mit diesem Paar hatten Diana und Rene seinerzeit regelrechte Streifzüge durch die Restaurants der näheren und auch weiteren Umgebung gemacht.
Auch hierbei erwiesen sich die Freunde als nichtheimische Esser, denn an keinem Abend blieb der Wagen stehen, um einmal zu Fuß im Örtchen das Abendmahl zu genießen, nein, es schmeckte nur, wenn zuvor der Wagen angelassen wurde.

Diana und Rene bereiteten sich für den Abend vor; wiederum stand Fisch auf dem Plan, und für diesen letzten Abend war ein besonders attraktives Lokal vorgemerkt, dessen Speisekarte sie bei der Rückkehr vom Strandgang zuvor ausgiebig studiert hatten.
„Ich setze nur noch kurz eine SMS an Erika und Harald ab, bevor wir gehen“, flötete Diana.
Rene schwante nichts Gutes.
„Kannst du das nicht nachher machen?“ stöhnte er.
Zu spät!
Kaum hatte Diana die SMS losgeschickt, als auch schon das Handy klingelte.
„Oh, nein“ bat Rene verzweifelt, „geh nicht dran, Schatz!“
„Was hast du denn nur?“
Am anderen Ende der Leitung war bereits die gute Erika und wartete sofort mit einer Frage auf, die wie eine Drohung klang:
„Na, ihr Lieben, wart ihr schon in der Bauernstube? Ich sage euch, das beste Lokal der gesamten Region!“
„Nein, leider noch nicht“ gab Erika zurück, „wo ist die denn, diese Bauernstube?“
Rene steckte verzweifelt den Kopf unter die Dusche. „Oh, nein!“
Während er mit leiser Stimme verzweifelte Flüche ausstieß, musste sich Diana nun von Erikas Gemahl Harald, dem Mann, der für einen guten Kaffee über zwanzig Kilometer nicht scheut, die Wegstrecke erklären lassen, zu der sagenumwobenen Bauernstube. Zum Ende des Gespräches wurde Diana von Elke, die mittlerweile wieder das Ruder übernommen hatte, in ernstem Tonfall verabschiedet:
„Fahrt da unbedingt hin, es lohnt sich. Wir sehen uns bald. Küsschen.“
Entnervt kroch Rene unter der Dusche hervor.
„Wie weit ist die Bauernstube weg?“ fragte er tonlos.
„Na, ja, Schatz, entgegnete Diana schuldbewusst, „ein kleines Stück ist es schon. Wir können aber die Autobahn nehmen, hat Harald gesagt.“
„Die Autobahn? Zum Abendessen über die Autobahn?“
Diana sah ein, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
„Wäre ich doch bloß nicht ans Handy gegangen.“
Ihr war auch nicht wohl bei dem Gedanken, über vierzig Kilometer weit zu fahren, um in irgendeiner ihnen nicht bekannten Bauernstube zu Abend zu essen, vor allem, weil sie ein bedrohliches Magenknurren verspürte und ihr gleichzeitig das Wasser im Munde zusammenlief, beim Gedanken an die schönen Gerichte auf der Speisekarte des örtlichen, nur fünf Minuten Fußweg entfernten Lokals.
„Was machen wir bloß, Rene? Ich möchte auch nicht dahin fahren, und dann auch noch über die Autobahn. Aber du weißt ja, Harald und Erika sind hartnäckig, sie werden Beschreibungen von uns verlangen, vom Ambiente, Details. Und ausgerechnet am nächsten Wochenende haben wir schon eine Verabredung mit ihnen.“
„Auch das noch. Nun ja, was soll’s, dann werden wir ihnen eben etwas vorphantasieren. Schließlich waren sie ja auch längere Zeit nicht mehr hier in der Gegend.“
Mit gemischten Gefühlen machten sich Diana und Rene auf, zum großen Fischessen, im Restaurant um die Ecke.
Es sollte ein schöner Abend werden, der krönende Abschluss der Ferien, doch die Stimmung wollte sich nicht so recht einstellen.
Das Damoklesschwert künftiger bohrender Fragen schwebte tief über ihnen.
In der Nacht konnten beide nicht so recht schlafen und wurden von bösen Träumen gequält.


Am nächsten Morgen, einem strahlendem Herbsttag, fuhren sie heimwärts, ein wenig bedrückt, wie es schien.
Während der knapp vierstündigen Fahrt sprachen sie kaum miteinander.
Zuhause packten sie schweigend den Kofferraum leer und begaben sich in die Wohnung.
In der heimischen Umgebung fühlten sie sich sofort wohler, und beim Durchsehen der Post schien das Problem fast vergessen.
Bevor sie sich am Abend zu Bett begaben, fragte Diana:
„Denkst du auch immer noch daran, Schatz?“
„Woran?“
„Was wir den beiden am Samstagabend sagen. Sie werden Fragen stellen.“
„Ach so. Na, ja, wir werden uns schon was einfallen lassen, wir sind doch erfinderisch. Doch jetzt denk ich an ganz was anderes.“
„So. Woran denn, Rene?“
Einen Moment später dachten beide in der Tat an ganz etwas anderes, und glückselig schliefen sie nach vollbrachter Aktion ein.
Doch auch dieser Schlaf war nur von kurzer Dauer.
Mitten in der Nacht fanden sie sich beide vor dem Kühlschrank wieder.
„Ich habe Durst.“
„Ich auch.“
„Schatz?“
„Ja, Diana.“
„Ich kann nicht schlafen. Ich weiß nicht, was wir Erika und Harald am kommenden Samstag sagen sollen. Ich kann doch so schlecht lügen.“
„Deswegen habe ich dich ja geheiratet, eben, weil du so schlecht lügen kannst, Diana.“
„Nein, mal im Ernst. Was machen wir bloß am Samstagabend?“
Rene kratzte sich am Kopf und schwieg.
„Sollen wir nicht lieber schnell noch einmal hinfahre, zu dieser Bauernstube? Ich halt das nicht mehr aus.“
„Schnell mal hinfahren? Bist du verrückt? Das sind über dreihundert Kilometer!“
„Rene, bitte! Du liebst mich doch.“

Am folgenden Tag fuhren sie los, in aller Frühe, zurück zum ostfriesischen Meer. Wenn schon, dann wollte man zumindest den Tag ausnutzen.
Um die Mittagszeit trafen sie in dem besagten Ort ein und fragten trotz der Wegbeschreibung von Harald an einer Tankstelle noch einmal nach dem Weg zu der Bauernstube, zur Sicherheit.
„Bauernstube?“ der Tankwart kratzte sich am Kopf, „Sie meinen das schicke Speiselokal?“
„Genau das.“
„Tja, meine Herrschaften, das gab’s hier wirklich mal, bis vor einem Jahr. Dann haben die dichtgemacht, hat sich wohl nicht mehr gelohnt.“

Wie von einer Tarantel gestochen, startete Rene durch und drückte auf’s Gaspedal wie bei einem Autorennen.
Auf dem gesamten Nachhauseweg sprachen sie kein einziges Wort mehr miteinander.
Daheim stürzte sich Diana schluchzend aufs Bett, während Rene unverzüglich seine Stammkneipe aufsuchte.
Der Ehekrach dauerte drei Tage und es stand lange in Frage, ob Rene gewillt war, am gemeinsamen Restaurantbesuch mit Erika und Harald teilzunehmen.
Erst im letzten Moment ließ er sich umstimmen.


Bei Tisch sagte Harald beiläufig.
„Na, das war wohl nichts, mit der Bauernstube. Wir haben es erst vorgestern erfahren, von Bekannten, dass die Bude schon längere Zeit dicht ist, sonst hätten wir euch doch nicht dahingeschickt.“
 



 
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