Die Beerdigung

Intonia

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Die Beerdigung

Regina fühlte einen sanften Zug an ihrem Arm und erwachte aus ihren Gedanken.
"Komm, Mutter, du machst den Anfang," sagte Joachim, ihr Ältester. Er führte sie an die offene Grube, in der gerade der hellbraune, schwere Eichensarg den Blicken entschwunden war. Ihr Gesicht war ausdruckslos, in sich gekehrt, und sie konnte weder klar sehen, noch klar denken. Die letzte halbe Stunde hatte sie wie in Trance verbracht und konnte sich nur bruchstückhaft an Einzelheiten der Trauerfeier erinnern. Als in der kleinen Kapelle die Orgel mit dem Ave Maria einsetzte, waren ihre Gedanken in eine andere Welt davon geschwebt. Nun stand sie am Grab und fühlte sich seltsam leicht und erlöst. Es war fast ein Gefühl von Euphorie, eine Helligkeit und angenehme Wärme, die sich in ihrer Brust ausbreitete. Und die einsetzenden Tränen waren wie eine Erlösung. Sie war verwirrt. Waren das Gefühle der Trauer? Gefühle von Schmerz und Verzweiflung? Sie wusste es nicht. Sie warf die rote Rose, die Joachim ihr reichte, in die Gruft und nahm eine Handvoll Erde aus der aufgestellten Schale und liess sie auf den Sarg rieseln.
Die Pfarrerin bedeutete ihr mit einer knappen Handbewegung, sich neben sie zu stellen. Als nächster nahm Joachim rechts von ihr Aufstellung. Es folgten Karla, Joachims Frau mit dem kleinen Kai, ihrem dreijährigen Enkel. Als nächster reihte sich Jürgen, ihr jüngster Sohn mit seiner Verlobten Beatrice ein und schliesslich Reinhard, der Bruder von Karl-Heinz, ihr Schwager. Es waren ausser den engsten Angehörigen ca. 30 Personen anwesend, die nun an ihnen vorbei zogen und ihr Mitgefühl in tröstende Worte kleideten.

Regina war froh, als endlich der letzte Trauergast sein Beileid ausgesprochen hatte. Eigentlich wollte sie jetzt lieber allein sein und Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle bringen, aber das ging erst nach dem gemeinsamen Essen, das im Anschluss an die Beerdigung vorgesehen war. Doch ganz allein konnte sie sowieso nicht sein, denn sie musste einen Gast beherbergen. Reinhard war heute vormittag aus Düsseldorf eingetroffen, um seinem Bruder die letzte Ehre zu erweisen. Sie seufzte! Reinhard - sie kannte ihn aus ihrer Kindheit, genauso wie Karl-Heinz. Sie waren Nachbarskinder gewesen und es gab bestimmt viel, worüber sie mit Reinhard Erinnerungen austauschen konnte. Jetzt freute sie sich doch auf ihn. Für ihre eigenen Gedanken und Gefühle blieb später noch genug Zeit.

Nach dem Essen verabschiedete sich Regina von ihren Kindern und den letzten Trauergästen und stieg zu Reinhard ins Auto. Zuerst saßen sie schweigend nebeneinander. Er betrachtete sie aus den Augenwinkeln und stellte fest, dass sie immer noch eine schöne Frau war. Sie hatte kastanienbraunes Haar, das in weichen Wellen auf den Kragen ihres schwarzen Kostüms fiel. Pastellgrün oder flachsgelb würde ihr gut stehen, stellte er in Gedanken fest. Ihre Nase war, von der Seite betrachtet, dominierend. Sie war lang und schmal, von klassischer Schönheit. Die Lippen waren voll, besonders, die Unterlippe. Das Kinn war unauffällig, weder energisch vorstrebend, noch weichlich zurückfallend. Das Markante daran war das reizende Grübchen. Regina fühlte sich beobachtet und wandte ihm ihr schmales Gesicht zu. Ihre Augen waren von seltener Klarheit, fast so grün wie Smaragde. Jetzt waren sie verweint und ihr Blick etwas getrübt. Aber er hatte sie schon feurig blitzen sehen. Er lächelte und suchte ihre Hand. Sie liess es geschehen.
"Regina, wenn Du Hilfe brauchst, ich bin für Dich da. Das bin ich Dir und meinem Bruder schuldig."
"Ich danke Dir, Reinhard, wir sind doch alte Freunde. Mach Dir keine Sorgen, meine Söhne sind ja erwachsen und wohnen nicht weit entfernt. Sie geben mir Trost und Beistand. Joachim ist angehender Jurist und Jürgen ist mehr für das Praktische zuständig. Und eine gute Freundin habe ich auch, die mich in die Arme nimmt. Mir wird es an nichts fehlen."
Sie sprach nicht weiter, aber ihre Gedanken endeten damit nicht. Sie dachte, dass das Schlimmste ja vorbei war und - dass ihr schon lange etwas gefehlt hat. Das eine erleichterte sie, das andere bedrückte sie. Eine schwere Zeit lag hinter ihr. Während der letzten zwei Jahre hatte Karl-Heinz mehrere Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen müssen, insgesamt war er mehr als ein halbes Jahr von zuhause fort. Der ersten stationären Behandlung folgte eine Rehabilitation. Leider war sie erfolglos, wie sich später herausstellte. Diese zwei Jahre waren nicht nur für Karl-Heinz eine Tortur, sondern auch für sie. Sie fühlte sich oft nahe dem Zusammenbruch und wurde bis an ihre Belastungsgrenze gefordert. Hoffen und Bangen, Optimismus und Verzweiflung wechselten sich ab. Sie war tag und nacht für ihn da - und er klammerte sich an sie, liess ihr keine Ruhe, war ein unerträglicher Patient. Karl-Heinz kämpfte wie ein Löwe gegen seine Krankheit, mal tobte er, mal klagte er an, mal war er depressiv, mal zweifelte er an Gott und Gerechtigkeit. Er wollte es nicht wahrhaben, dass es ihn getroffen hatte. Bis er schliesslich resignierte, und von da an ging es schnell mit ihm bergab. Es wurde leichter, mit ihm umzugehen. Er hatte eingesehen, dass er den Kampf nicht gewinnen konnte.

Regina erwachte aus ihren Gedanken, als Reinhard ihre Hand los liess, um in die kleine Nebenstrasse einzubiegen, die zu ihrem schmucken Einfamilienhaus führte. Sie stiegen aus und Reinhard reichte ihr den Arm und führte sie die wenigen Stufen zur Eingangstür. Es wurde ein schöner Abend, denn sie hatten sich viel zu sagen. Die Kindheit passierte Revue. Sie waren in der selben Klasse der Grundschule und hatten den selben Schulweg. Ihre Gärten grenzten aneinander und sie waren damals unzertrennlich. Ihre Erinnerungen wurden bei einer Flasche Rotwein in einer angenehmen Atmosphäre lebendig. Ja, sie lachten sogar und waren so fröhlich wie damals. Reinhard nahm ihre Hand und sagte:
"Weisst Du noch, Regina, wie wir hinter euren Johannisbeersträuchern die Unterschiede von Jungen und Mädchen bestaunten?" Regina wurde rot. Sie wusste es nur zu genau. Sie hatte sich als Kind in Reinhard verliebt, unsterblich wie sie glaubte. Warum hatte sie dann aber Karl-Heinz, seinen Bruder, geheiratet? Karl-Heinz war drei Jahre älter als Reinhard und als sie ins Teenageralter kam, wurde Karl-Heinz auf eine ganz andere Art auf sie aufmerksam, anders als Reinhard! Karl-Heinz sah gut aus, war selbstsicher und obendrein noch intelligent. Die Mädchen begehrten ihn, aber er wollte nur sie. Das schmeichelte ihr und sie gab sich den Gefühlen hin, die er ihr entgegen brachte. Sie lernte sogar, ihn zu lieben. Reinhard blieb ein guter Freund. Ihr Gefühl sagte ihr aber, dass er gern an die Stelle seines Bruders getreten wäre.

Am Morgen musste Reinhard früh die Heimreise antreten. Als er fort war, räumte Regina das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine und ging anschliessend hinauf ins Gästezimmer. Sie warf sich auf das unbenutzte Bett und versuchte Ordnung in ihre Gedanken und Gefühle zu bringen. Es waren ganz andere Gedanken und Gefühle als noch vor 24 Stunden.
 
Hallo Intonia,
gut geschrieben. Vor allem das offene Ende gefällt mir. Ich hatte schon befürchtet, dass aus der Kindheitsliebe ausgerechnet am Tag der Beerdigung ein Stelldichein werden würde. Eine unnötige Sorge, denn Du hast zwar den nötigen Humor, menschlich/allzumenschliches zu beschreiben, aber auch den Takt, das nicht unbedingt an dem Zeitpunkt geschehen zu lassen.
Ein kleiner Hinweis, wenn Du gestattest. In der Passage im Auto häufen sich „war“ und „waren“. Ist Dir vielleicht nicht aufgefallen.
Herzliche Grüße
Willi
 

Intonia

Mitglied
Hallo Willi,

Du hast recht, ich habe mir die fertige Geschichte nicht sorgfältig genug durchgelesen. Danke für Deinen Hinweis; ich werde es bei der Überarbeitung ändern.

Liebe Grüsse
Intonia
 



 
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