Die Befreiung

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Es gibt gute und plausible Gründe dafür, einen Krieg anzuzetteln, zum Beispiel den, eine Region damit befrieden zu wollen. Andere Kriege wurden und werden geführt, um eines geliebten oder gehassten Menschen habhaft zu werden.
So erkämpften sich im Altertum griechische Helden ihre literarische Unsterblichkeit, in dem sie die mächtige Stadt Troja in Schutt und Asche legten, nur weil der verliebte trojanische Prinz Paris die "Schöne Helena" aus Griechenland, welche allerdings schon gut verheiratet war, in seine Stadt entführt hatte. Dies war ein klassisches Bubenstück, für das er und sein Volk bitter büßen mussten.
Nicht um eine schöne Maid zu umgarnen oder heimzuholen, sondern um einen hässlichen Terroristen zu fangen, ließ ein, nun auch als Feldherr bekannter, mächtiger Staatsmann die Hauptstadt eines fernen Landes, sowie unzählige Höhlen und Häuser in dessen Bergregionen zusammenbomben. Seine fast allwissenden Geheimdienstler hatten dem Präsidenten offensichtlich weisgemacht, der Gesuchte würde nach dem Bombardement auf den Trümmern seiner Unterkunft herumkriechen, um dort seine Brille, oder seine dritten Zähne zu suchen, von wo man ihn dann nur noch zusammenlesen müsste.
Allgemein übliche Kriegsabläufe kann man so beschreiben: Die Soldaten zweier Staaten müssen sich Feinde nennen und sich gegenseitig begeistert beschießen. Die schwächere Armee pflegt früher oder später zu kapitulieren, wonach die Regierung mit den stärkeren Streitkräften ungestraft erklären kann, einen gerechten Krieg geführt zu haben.
Die höchstens siegestrunkenen Soldaten benehmen sich dem unterlegenen Volk gegenüber höchst mildtätig, beschützen alle Frauen ritterlich, und das befreite Volk jubelt den Befreiern begeistert zu und bedankt sich bei deren Regierung ewig für die gewährte Hilfe.
"Das Volk ist frei, seht an, wie wohl´s ihm geht!" So etwa hätte der gute alte Goethe die Verhältnisse in einer jüngst von den alliierten Truppen befreiten Stadt beschrieben.
Der Verfasser dieses Artikels erlebte die Befreiung zum Glück bereits im zarten Knabenalter von sechs Jahren.
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, jener 20. April 1945, die Sonne strahlte aus einem wolkenlosen Himmel herunter. Es war ungewöhnlich ruhig, in den Obstgärten brummten lediglich Bienen und Hummeln um die Zweige der blühenden Obstbäume herum, und der Vormittag verging, ohne dass sich am Himmel ein einziger "Jabo" hätte sehen lassen. Die von Hermann Göhring befehligten deutschen Jagdflugzeuge ließen sich selbst an Führers Geburtstag nicht mehr blicken, die wurden geschont für den "Endsieg", wie Oberlehrer Karl Kraus, gleichzeitig Ortsgruppenleiter der NSDAP in unserem kleinen Dörfchen, das irgendwo hinter den sieben Bergen liegt, immer noch tapfer verkündete.
Neben dem blauäugigen Ortsgruppenleiter gab es da noch einen Bauernführer, und natürlich auch einen Bürgermeister. Die drei trugen, wenn sie ihre vaterländischen Pflichten versahen, eine braune Hose, ein nicht ganz so braunes Hemd, Koppel sowie schwarz gewichste und auf Hochglanz polierte Stiefel, oder ebensolche Schuhe mit Gamaschen.
Auf dem Höhepunkt der nationalen "Bewegung" verwirklichten sich die örtlichen Leiter und Mini-Führer mit ihren mehr oder weniger strammen PG´s einen grandiosen Traum: Sie planzten auf dem Platz vor dem Pfarrhaus eine "Hitlerlinde".
Unter deren Wurzeln verbuddelten sie eine Flaschenpost mit einer Liste, auf der sie sich mit ihren Namen, Titeln und Parteiämtern für die kommenden großen Jahrhunderte verewigten.
Ich ging gerade einmal einige Wochen in die erste Klasse unserer Dorfschule, später nannte man so etwas verächtlich "Zwergschule", da wurde das Schulportal geschlossen, es war zu gefährlich, dort weiter Unterricht abzuhalten. Die Jabo´s (Jagdbomber) zogen täglich ungehindert im Tiefflug ihre Schleifen über unser Tal, sie verschwanden so schnell, wie sie kamen, wieder über den nahen Rhein. Das Ausweichquartier, eine unauffällige Holzbaracke, konnte nur wenige Tage als Unterrichtsraum genutzt werden, dann wurden darin Soldaten der "Wlassow-Armee" einquartiert. Das waren so genannte "freiwillig" auf deutscher Seite kämpfende junge Männer, eine Art Fremdenlegion, die man unter russischen Kriegsgefangenen rekrutiert hatte.
Ihre Pferde und Wagen wurden zur Tarnung im Dorf bei den Bauern eingestellt. Auch unser Stall war mehrere Monate lang mit Pferden voll gestopft, die dazu gehörenden Weißrussen, wie man sie nannte, schliefen, in Wolldecken gehüllt, auf dem Heuschober; unten in der Scheune und im angrenzenden Schuppen standen ihre Fuhrwerke, mit denen sie bei Nacht oft militärische Güter transportieren mussten.
Selbst ein gepanzertes Fahrzeug wurde einmal zwei Tage lang bei uns untergebracht. Mein Vater lief von "Pontius bis Pilatus", um das Ding wieder vom Hof zu bringen; hätten die Jabo-Piloten das mit Tarnstoff umhüllte Geschützrohr gesehen, wäre es uns und unserem Haus übel ergangen.
Er, der zwei Jahre zuvor schwer verwundet aus Russland zurückgekommen war, hatte im häuslichen Kreis öfters vorausgesagt, dass der Krieg längst verloren sei. Da ich schon in diesem Alter sehr mitteilungsfreudig war, verbreitete ich die Neuigkeit bereitwillig im Dorf herum. Danach machte ich meine ersten Erfahrungen mit einem väterlichen "Maulkorb-Erlass".
Einige Tage, bevor bei uns das kürzeste aller tausendjährigen Reiche sang- und klanglos aufhörte, zu existieren, hatten die Soldaten das Dorf eiligst verlassen.
Der "Volkssturm", bestehend aus eben konfirmierten Jungen, aus Rentnern und Kriegsinvaliden, sollte nun die Heimatfront verteidigen.
Wir, Mutter, Großmutter und ich, hatten an diesem 20. April schon vor Mittag den Luftschutz-Stollen aufgesucht, den eine Gruppe des "Arbeitsdienstes" Jahre vorher durch den Löshügel, auf dem das Pfarrhaus und die Kirche stehen, getrieben hatte. Von mir aus hätte der Krieg noch länger dauern können! Fast alle Kinder, die ich kannte, versammelten sich täglich vor dem Stolleneingang, wir konnten hier viel interessanter spielen, als daheim! Und das Schlafen im Stollen drinn, wenn für die Nacht Luftalarm angekündigt war, fand ich eigentlich romantisch.
Meine Eltern fanden jedenfalls, das Kriegsende stünde unmittelbar bevor. Der Vater hatte das obligatorische Hitler-Portrait im Ofenwinkel, auf dem der "Führer" irgendwie aussah, wie das spätere TV-Ekel Alfred, bereits Tage zuvor aus dem vergoldeten Holzrahmen entfernt und durch ein schrecklich kitschiges Landschaftsbild ersetzt.
Niemand wollte mehr wissen, was im fernen Berlin passierte, jeder hatte seine eigenen Sorgen, vorab die Mitglieder der Partei!
Einige dieser, nun doch unsicher gewordenen Partei-Genossen, knüpften wieder leise Kontakte an zu jener Macht, die nicht von dieser Welt sein soll: Der "Schreiner-Schorsch", Kämpfer der ersten Stunde, schickte seine Tochter, die örtliche BDM-Führerin, mit einem selbstgebauten Kleinmöbel und einigen Hühnereiern hinauf ins Pfarrhaus. Sie war dort nicht die Einzige, auch die sonst wortgewaltige Alma, die Frau des bis ind die Seele braunen Huf- und Wagenschmiedes Hugo Krösel, die bis vor kurzem noch streitbare Vertreterin der nationalistisch gesinnten "Deutschen Christen", saß bereits kleinlaut im Studierzimmer beim Herrn Pfarrer, beide wollten nun ihr persönliches Verhältnis zur Kirche wieder in Ordnung bringen. Pfarrer Lose zeigte sich großmütig, er schien sich nicht mehr an die Steine zu erinnern, welche die beiden teutschen Walküren einst von der Straße aufhoben und ihm nachwarfen, als er scheinbar achtlos und ohne Hitlergruß an der braunen Festgemeinde vorbei gehen wollte, die gerade mit großem Pathos die junge Hitlerlinde auf dem Platz vor dem Pfarrhaus eingepflanzt hatte.
Doch auch er fühlte sich nicht ganz wohl in diesen letzten Tagen des "dritten Reiches": Er, der sich lange und energisch gegen die braune Flut gestemmt hatte, war irgendwann doch, der ewigen Schikanen müde, in die Partei eingetreten und hatte von da an brav für Führer, Volk und
Vaterland gebetet. Nun musste er erkennen, dass auch ein Geistlicher es letztlich nie allen recht machen kann.
Der Machtwechsel vollzog sich völlig unspektakulär: Dutzende Volkssturmmänner rannten, so schnell sie konnten, an unserem Stolleneingang vorbei, sie warfen ihre Karabiner und ihre Uniformjacken ins junge Gras und flüchteten über die nahen Baumwiesen möglichst unauffällig ihren Heimatorten zu.
Nur der Ortsgruppenleiter, Herr Oberlehrer Kraus, machte an seines Führers 56. Geburtstag noch einen letzten Gang über die holperige Ortsstraße und meinte allen Ernstes: "Der letzte Schuss ist noch nicht gefallen!"
Irgendjemand sagte uns, wir könnten nach Hause gehen, der Krieg sei vorbei. Wir trauten uns noch nicht recht und schauten vorsichtig über eine Böschung zur Straße hoch, da fuhr doch tatsächlich ein Jeep mit drei weißen und einem dunkelhäutigen Franzosen, die ihre Trikolore gehisst hatten, unbehelligt an uns vorbei.
In der ersten Nacht nach der Befreiung herrschte noch einmal reges Leben um die inzwischen ansehnlich gewachsene Hitlerlinde herum: Der Baum, so schön er war, musste unauffällig ausgegraben und die verräterische Flaschenpost vernichtet werden. Leer und baumlos präsentierte sich am anderen Morgen der Platz, der einmal "Unter der deutschen Linde" hätte heißen sollen.
Der äußerst sparsame Bürgermeister ließ sein braunes Hemd umfärben und bestimmte einige Wochen später, als nun kommisarisch eingesetzter Bürgermeister, wer im Dorf entnazifiziert wurde, und wer nicht.
Der Ortsgruppenleiter und einige untergeordnete "Nazis" wurden eine Zeit lang interniert und mehr oder weniger umerzogen. Der Pfarrer bekam zur Strafe eine weitab gelegene Pfarrei zugeteilt, die er nun täglich mit seinem Vollgummi-bereiften alten Fahrrad aufsuchen musste. Der altgediente Bürgermeister konnte Monate später nur mit Mühe davon überzeugt werden, dass er bis zu seiner baldigen Pensionierung höchstens noch auf dem Stuhl des Ratschreibers Platz zu nehmen habe.
Als die Schultür wieder geöffnet wurde, war ich bereits in der zweiten Klasse; alles was mir von der ersten Klasse noch in Erinnerung blieb, war das Morgenlied: "Wir haben einen Führer."
 

LuMen

Mitglied
Hallo Bernhard,

fast idyllisches Kriegsende auf dem Lande, witzig und auch mit leichter Wehmut dargestellt! Ich habe das Kriegsende auch in einer Kleinstadt (in Pommern), umgeben von ganz ähnlichen Nazi-Restbeständen wie Du, erlebt. Das Idyllische fehlte allerdings gänzlich, denn die Eroberer - Russen und Polen - hatten bereits grausame Spuren hinterlassen. Trotzdem gäbe es aus dem Abstand von heute auch einige Dinge zu berichten, die sich zumindest für eine satirische Verpackung eignen würden. Vielleicht mache ich demnächst auch mal einen Prosa-Versuch in dieser Richtung.

Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag mit der angekündigten Sonne in Deinem Garten!
LuMen
 



 
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