Die Beichte

kevin3

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DIE BEICHTE

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Die Luft war stickig und schwül. Es roch nach Urin und Schweiß. Schechter kannte diesen Geruch besser als ihm lieb war. Anfangs hatte er geglaubt, er würde sich an den beißenden Gestank gewöhnen, aber nach vier Monaten schien er ihn nur noch stärker wahrzunehmen. Man gewöhnte sich eben nicht an den Geruch des Todes.
Die Gefangenen wurden durch das Geräusch der von Schechter geöffneten Tür geweckt. Sechsundzwanzig Köpfe kamen unter ihren Decken zum Vorschein. Sechsundzwanzig Augenpaare schauten ihn aus der Dunkelheit an. Nur Gott hätte gewusst, wie viele Ängste sie in diesem Moment ausstanden. Schechter wollte es nicht wissen. Die Dunkelheit war ein Segen.
Sie wurde in dieser Nacht nur durch die riesigen Strahler, die hinter der Baracke platziert waren, und die einen Teil ihrer grellen Lichter durch die beiden Fenster des Raumes warfen, gemildert.
Schechter sah seinen Schatten vor sich. Er sah aus wie ein schwarzer Riese. Schechter sagte kein Wort. Er wartete bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Immer noch starrten ihn die Männer aus ihren Betten an. Keiner von ihnen sagte etwas, und Schechter wusste warum. Wäre er in ihrer Situation gewesen, hätte er genauso gehandelt. Das hieß, wenn er noch am Leben gewesen wäre! Der Raum bestand aus Pritschen, die man in zwei Reihen unterteilt hatte. Eine Reihe rechts an der Wand, die andere gegenüber. Auf der rechten Seite schliefen vierzehn Männer, auf der anderen waren es nur zwölf. Zwei weniger also. Vielleicht waren sie bei ihrer Arbeit umgekommen, vielleicht hatte man sie auch aussortiert. Es war einerlei. So schrecklich es sich auch anhörte, der Tod der zwei Männer war eine Wohltat für die restlichen Inhaftierten. Es bedeutete mehr Platz für sie.
Schechter ging den schmalen Gang, der durch die Reihen mit Pritschen abgegrenzt war, ab, bis er ans Ende gelangt war.
Die Sohlen seiner schweren Stiefel gaben dabei Geräusche von sich, die jedem der Männer, die hier lagen, das Blut in den Adern gefrieren lassen mussten. Das Geräusch solcher Stiefel war für sie gleichbedeutend mit Tod und Schmerz. Schechter drehte sich wieder zur Tür. Ein großes Eisending, das durch das Licht der Scheinwerfer wie ein Monster aus Stahl aussah.
Er konnte spüren, wie die Männer dachten. Sie wunderten sich darüber, dass ein SS-Offizier, wie Schechter einer war, mitten in der Nacht zu ihnen kam.
Doch was Schechter als Nächstes tat, war für sie noch viel verwunderlicher: Aus der Innentasche seines schwarzen Mantels holte er eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer. Er setzte sich auf den Boden und stellte die Kerze vor sich. Er verbrauchte drei Streichhölzer, bis er sie anbekam. Bis die Flamme groß genug war und Schechter sich sicher sein konnte, dass sie nicht mehr ausgehen würde, hielt er seine Hand schützend davor. Als er sie wegnahm, sah er sechsundzwanzig Köpfe. Alles unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichem Charakter und unterschiedlichen Berufen (von Arbeitslosen bis Ärzten war in dieser Baracke alles vertreten), und trotzdem waren sie in diesem Moment alle gleich. Das Lager, in das man sie gesteckt hatte, hatte ihnen alle Persönlichkeit und Eigenständigkeit genommen und sie zu den Menschen gemacht, die ihn jetzt ängstlich anstarrten.
Zu minderwertigen Objekten, die es galt so schnell wie möglich zu vertreiben, oder noch besser, sie zu vernichten.
Egal welche Stellung sie vorher in der Gesellschaft innegehabt hatten, jetzt waren sie nur noch Juden oder Verbrecher (was in den Augen der Leute, die dieses Lager errichtet hatten, aber ohnehin dasselbe war).
\"Ihr braucht keine Angst zu haben!\", das waren Schechters erste Worte.
\"Ich werde Euch nichts tun! Ich werde Euch auch nicht mitten in der Nacht arbeiten lassen. Ich will nur, dass Ihr für einen Moment Euren Schlaf unterbrecht und Euch mit mir unterhaltet.\"
Natürlich wussten die armen Geschöpfe, die dicht aneinander gedrängt in ihren Kojen lagen, nicht, was sie mit solchen Worten anfangen sollten.
\"Ich möchte Euch bitten, dass Ihr Euch zu mir setzt, oder nur ein Teil von Euch. Ich will, dass sich welche von Euch mit mir um diese Kerze setzen und dass wir reden!\"
Keiner rührte sich. Aber doch wusste Schechter, dass sie zu ihm kommen würden, wenn er nur noch ein paar Sekunden lang schweigend auf dem Boden sitzen würde. Weil sie Angst hatten, weil sie befürchteten den nächsten Tag nicht mehr zu erleben, wenn sie nicht taten, was der Mann in der schwarzen Uniform von ihnen verlangte.
\"Ich werde niemanden bestrafen, der sich nicht zu mir setzt. Also macht Euch deswegen keine Gedanken\", sagte er, als ihm dies bewusst wurde. \"Ich weiß, dass Ihr schrecklich müde seid, und ich weiß auch, dass die Arbeit die Ihr verrichten müsst, unmenschlich ist und Euch eure Kräfte raubt, aber ich will mit einem von Euch sprechen.\"
Er sagte es in einem Tonfall der Vertrauen erweckte. Als Offizier der SS musste man Vertrauen auf die Leute ausstrahlen können. Er musste seinen Soldaten jeden Tag aufs Neue Lügen erzählen und nur mit einer solchen Stimme glaubten sie ihm. Oder versuchten zumindest zu glauben!
Schechter schaute in die Runde und sah zwei Männer, die aus ihren Pritschen stiegen und auf ihn zu kamen. Sie setzten sich tatsächlich neben ihn auf den Boden. Allerdings in gebührendem Abstand. Beide trugen die selben Lumpen am Körper, und an ihren Unterarmen sah der SS Offizier die Nummern, die jeder Häftling bei seiner Ankunft eingebrannt bekam. Beiden Männern hatte man die Haare abgeschoren, so dass nur schwarze Stummeln aus ihrer Kopfhaut hervor ragten. Auch das war im Lager so üblich.
Man machte es, um zu verhindern, dass die Gefangenen Läuse bekamen, und somit eine Epidemie auslösten. Diese Männer sollten sterben, aber natürlich erst nachdem sie ihre Pflicht dem deutschen Volke gegenüber getan und gearbeitet hatten. Sie arbeiteten für einen großen Teufel, der sich Krieg nannte und der über den ganzen Kontinent gegriffen hatte.
Es war das fünfte Jahr, in dem der Krieg über Europa tobte, und Schechter hatte das Gefühl, dass er sich dem Ende zuneigte. Es würde kein gutes Ende für seinen Führer und für das Land, das er ins Verderben gestürzt hatte, geben.
Und somit auch nicht für Schechter.
\"Wie heißt Ihr?\", fragte er und schaute sie beide abwechselnd an.
Sie zögerten.
\"Jakob\", brachte der eine schließlich hervor.
\"Und du? Wie ist dein Name?\"
Der Mann zu Schechters Linker sah ihm in die Augen.
\"Michael\", sagte er schließlich und Schechter konnte die Verachtung in seiner Stimme deutlich raushören.
\"Michael Mündel.\"
Schechter zog aus der Brusttasche seiner Uniform ein kleines Etui. Er öffnete es und hielt es dem Mann hin, der sich ihm als Jakob vorgestellt hatte.
\"Willst du eine Zigarette, Jakob?\", fragte er. Jakob nickte und nahm sich eine aus dem silbernen Etui, auf dessen Deckel der Reichsadler mit dem Hakenkreuz eingearbeitet war.
\"Danke\", sagte er. Nachdem ihm klar geworden war, was er gerade gesagt hatte, versuchte er auf der Stelle seinen Fehler wieder gut zu machen.
\"Danke Herr Offizier.\"
In Schechters Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. \"Vergessen wir für wenige Momente dieses förmliche Getue und nennen uns beim Vornamen. Ich heiße übrigens Thomas.\"
Er hielt dem anderen Häftling das Etui hin. Hätte ein Soldat diese Szenerie beobachtet, so wäre Schechters letzter Gang der Gang zum Strick gewesen. Das war ihm durchaus bewusst, aber er tat es trotzdem. Einmal wollte er Mut beweisen, wenigstens ein einziges Mal!
\"Und du?\", fragte Schechter.
\"Nein, ich habe das Rauchen schon vor einer ganzen Weile aufgegeben und habe nicht das Bedürfnis, wieder damit anzufangen. Wissen Sie, wie auch nur eine einzige Zigarette Ihrer Lunge schadet?\"
Schechter war verblüfft. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer solchen Antwort. Er überlegte, ob dies ein Witz gewesen sein sollte, und brachte ein Lächeln zustande.
Er nahm sich selbst eine Zigarette (die Vorstellung, dass sie seiner Lunge schaden würde, kam ihm an einem Platz, an dem Tag für Tag Hunderte von Menschen ihr Leben lassen mussten, lächerlich vor) wobei er den Mann, der sich als Mündel vorgestellt hatte, aus den Augenwinkeln beobachtete. Dieser Mann brachte es fertig, Schechter zu faszinieren. Seine Art war abweisend und vertrauensvoll zugleich.
Als er aufsah, blickte Schechter in die Augen von Mündel. Sie sahen aus wie kleine weiße tote Dinger, die in riesigen schwarzen Löchern steckten.
Dann sah er zu dem anderen Mann rüber, ebenfalls nur noch Haut und Knochen, der die Zigarette mit freudiger Erregung auf den seltenen Genuss mit den Lippen hoch und runter bewegte. In seinen Augen war ein Strahlen.
Das selbe Strahlen, das Schechter von seinem Sohn kannte, wenn es auf Weihnachten zu ging. Bevor der Krieg ausgebrochen war, natürlich. Und natürlich auch, bevor man Schechter hierher versetzt hatte. Hierher nach Buchenau.
Das Mitleid, das er in diesem Moment empfand, als er bemerkte, wie dieser Mann sich nur wegen einer einzigen Zigarette so freute, trieb ihm Tränen in die Augen. In diesem Moment war er froh, dass es dunkel war. Er wollte nicht, dass sie sahen, wie er weinte. Er, ein SS Offizier, dem seine Soldaten manchmal den Spitznamen Schlächter gaben, weil er ihnen das Morden befahl. Wobei er selbst natürlich auch nur die Befehle seiner Vorgesetzten befolgte.
Aber sein Verstand machte ihm klar, dass er doch für den Tod zahlreicher Menschen verantwortlich war. Auch, wenn er es nicht gewollt hatte, er hatte es doch getan. Ein anderer Teil von ihm versuchte ihm gut zuzureden, dass es gefährlich für ihn gewesen wäre, hätte er sich diesen Befehlen widersetzt, aber diese billige Entschuldigung half den Familien, die durch seine Hand den Tod gefunden hatten, auch nicht mehr.
Schechter holte das Etui wieder aus seiner Tasche und gab es Michael.
\"Ich will, dass du sie behältst\", sagte er in flüsterndem Tonfall. \"Ich will, dass du jedem in diesem Raum eine Zigarette davon gibst, wenn er sie haben will, egal wem!\"
Michael nickte. Schechter klopfte ihm auf den Rücken. Dann holte er ein Päckchen Streichhölzer. Er machte sich seine Zigarette an und gab dann Jakob mit dem selben Streichholz Feuer. Jakob nahm die brennende Zigarette in seine Hand und betrachtete die rote Glut. Es musste für ihn so etwas wie ein Wunder sein, dachte Schechter.
Der Gefangene nahm seinen ersten Zug. Er saugte den Rauch tief ein und stieß sofort ein lautes Husten aus.
\"Ist schon \'ne Zeit lang her, als ich das letzte Mal geraucht habe\", sagte er und es klang wie eine Entschuldigung.
Auch Schechter nahm nun seinen ersten Zug. Er brachte es fertig, nicht zu husten, was für einen Kettenraucher aber keine große Leistung war.
Schechter sah Mündel an. Er saß still da und seine Augen fixierten ihn.
\"Darf ich Sie etwas fragen\", sagte Mündel.
Schechter fiel ihm ins Wort. \"Vergiss das Sie. Sag du zu mir.\"
Mündel schüttelte leicht den Kopf. \"Entschuldigen Sie, aber das kann ich nicht. Wir sind uns noch nicht häufig begegnet und ich würde mich unwohl dabei fühlen, wenn ich einen Nazi-Offizier mit du anreden würde.\"
Schechter sah vor Schrecken erstarrte Gesichter in den Kojen.
Auch Jakob schien erschreckt zu sein. Er hatte gerade einen Zug von der Zigarette nehmen wollen, senkte nun aber wieder den Arm. Er schaute zunächst seinen Mitgefangenen an und dann Schechter.
Alle im Raum schienen erstarrt zu sein, außer Mündel und Schechter. Jeder wartete gespannt darauf, was nun passieren würde. Schechter war sich später sicher, dass viele in diesem Moment um ihr Leben gefürchtet hatten.
Aber Schechter hegte nicht die geringste Wut gegen Mündel. Er fing an, ihn zu bewundern.
Er hat Mut, das muss man ihm lassen, dachte Schechter. Selbst in dieser für ihn undurchschaubaren Situation hat er Mut.
\"Wenn Ihnen lieber ist, dass Sie mich mit Sie anreden, ist es mir recht\", sagte er. Gleichzeitig glaubte er zu spüren wie sich die Anspannung im Raum löste.
\"Tun Sie, was Sie für Richtig halten.\"
Jakob gönnte sich einen weiteren Zug an der Zigarette.
\"Was wollten Sie mich fragen, Michael?\", fragte Schechter.
\"Wenn Sie gestatten, wüsste ich gerne, warum Sie hier sind!\"
Schechter musste eine Weile darüber nachdenken, bis ihm eine Antwort einfiel.
\"Reden\", sagte er.
\"Reden?\", fragte Mündel und sein Gesichtsausdruck verriet Schechter, dass ihm diese Antwort nicht genügte.
\"Ja, ich will reden.\"
\"Worüber?\"
Wieder eine dieser kurzen und einfachen Fragen die für Schechter alles andere als leicht zu beantworten waren.
Er selber wusste auch nicht so genau was ihn dazu veranlasst hatte, entgegen aller Vorschriften, mitten in der Nacht in eine Baracke mit Gefangenen zu stolzieren und Zigaretten zu verteilen.
Diesmal dauerte es länger, bis er in seinem Kopf die Sätze gebildet hatte, um passend zu antworten.
\"Über uns\", sagte er,\"Über Sie, über mich, über die Soldaten draußen in den Wachtürmen, über alle hier in diesem Raum. Und über diese ganze verdammte Scheiße um uns herum!\"
Er hatte den Blick auf den Boden gerichtet, während er gesprochen hatte, jetzt hob er ihn wieder.
Wie er erwartet hatte, sagte Mündel darauf hin nichts. Schechter sah ihm an, dass ihm die ganze Situation unangenehm war, und es ihm lieber gewesen wäre, Schechter wäre nicht mitten in der Nacht in ihre Baracke gestürzt, aber er sah auch, dass Mündel etwas los werden wollte. Er hatte etwas auf dem Herzen und wollte es Schechter vermutlich ins Gesicht schreien. Mündel wirkte inzwischen alles andere als gelassen. Er war erregt und Schechter spürte, dass nur noch ein kleiner Funke fehlte, um die Worte aus ihm raus sprudeln zu lassen.
Diesen Funken wollte er ihm geben.
\"Was bedrückt Sie, Michael?\", fragte er und es hörte sich an, als ob ein Vater zu seinem Sohn sprechen würde.
Aber der Gefangene antwortete nicht. Er überraschte Schechter erneut und stellte eine Gegenfrage.
\"Was bedrückt Sie, Herr Offizier?\" Er sagte es in einem verächtlichen Ton, der allen anderen in diesem Raum erneut die Gänsehaut auf die Arme trieb.
Damit hatte er Schechter überrumpelt. Wie es aussah, hatte er nicht nur einen äußerst mutigen Mann vor sich sitzen, sondern auch einen ebenso intelligenten.
Schechter versuchte, die Frage elegant zu verdrängen. Darauf würde er später noch zurück kommen.
\"Bevor ich antworte, müssen Sie mir gestatten, noch eine Frage zu stellen!\"
Mündel nickte, ohne dabei Schechter aus den Augen zu lassen.
\"Welchen Beruf übten sie aus, bevor der Krieg ausbrach? Ich meine waren sie Arzt, Rechtsanwalt, oder so?\"
Auf Mündels Lippen war der Anflug eines Lächelns zu erkennen.
\"So eine hohe Stellung trauen Sie mir zu?\"
\"Warum nicht\", sagte Schechter, \"Ich habe viele Juden gekannt, die solch angesehene Berufe hatten. Und Sie machen auf mich einen intelligenten Eindruck, wenn ich das sagen darf.\"
Mündels Lächeln wurde breiter, es war fast schon ein Grinsen.
\"Ich bin kein Jude\", sagte er. Neben ihm nahm Jakob einen der letzten Züge an der Zigarette.
\"Was waren Sie dann?\"
\"Priester.\"
\"Priester?!\"
\"Ja\", sagte Mündel. \"So gesehen bin ich einer von Ihnen.\"
\"Warum sind Sie dann hier?\", fragte Schechter.
\"Glauben Sie etwa, sie würden nur Juden in ihre Lager stecken?\"
Natürlich glaubte er das nicht. Es war ihm bekannt, dass sich unter den Gefangenen auch Sträflinge befanden.
Verbrecher, Mörder, Vergewaltiger ... aber ein Priester?
Schechter sagte nichts. Was zum Henker hätte er auch sagen sollen?
Eine Zeit lang wurde es wieder still.
\"Ich wollte nicht mitmachen\", sagte Mündel schließlich.
\"Wobei?\"
\"An dem Mord. Ich wollte meine Hände nicht mit dem Blut Unschuldiger beschmutzen.\"
Schechter konnte deutlich seine Verachtung für ihn aus seinen Worten heraushören.
Für sein Gegenüber war Schechter nicht mehr als ein feiger Mörder.
\"Ich habe mich geweigert, ihre Worte zu predigen! Ich war ihren Leuten zu unbequem. Ich bin kein Aufständischer, kein Revolutioner, nein, ich habe einfach nicht das gemacht, was sie sagten! Bis sie eines Tages vor meinem Haus standen.\"

Mündels Blick fiel zu Boden. Schechter fühlte, dass dieser Teil seiner Geschichte ihn immer noch berührte.
\"Ein grauer Pritschenwagen. Polizisten saßen auf der Ladefläche. Vier Mann, alle mit Gewehren bewaffnet.
Ich wusste, nicht was sie wollten. Die jüdische Familie, die einen Stock über meiner Wohnung gelebt hatte, war schon längst abtransportiert worden. Vielleicht ein Fehler, dachte ich. Vielleicht wissen sie noch nichts davon. Aber dann klopften sie an meine Tür.\"
Er schaute zu Schechter auf. Dieser sah Tränen in seinen Augen glänzen.
\"Können sie sich vorstellen wie das ist?\", fragte er.
\"Meine Beine waren weich wie Watte. Ich brachte es nicht einmal fertig, die paar Schritte zur Tür gerade zu gehen. Ich muss wohl ausgesehen haben wie ein Betrunkener, aber das war in diesem Moment wirklich meine geringste Sorge. Aber das Klopfen war das Schlimmste!\"
\"Ich verstehe nicht?\", fragte Schechter.
\"Das Klopfen an meine Tür. Als ich die dumpfen Schläge gegen das Holz hörte, wusste ich, dass sie sich nicht irren, sondern dass sie wegen mir gekommen sind.\"
Er hielt sich die Hände vors Gesicht und schluchzte. Diesen Moment nutzte Schechter, um sich nochmals im Raum umzusehen.
Alle Gesichter waren auf Mündel gerichtet. Er erzählte nicht nur seine Geschichte. Er erzählte die Geschichte von Hunderttausenden, die man in Lager gesteckt hatte, wo sie sich entweder zu Tode arbeiten durften oder einfach so hingerichtet wurden. Es war die Geschichte aller Menschen, die unter einer Diktatur zu leiden hatten.
\"Entschuldigung\", sagte Mündel und wischte sich mit dem Zeigefinger die Tränen aus den Augen.
\"Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen\", entgegnete ihm Schechter und schämte sich zugleich für seine Worte.
Vor ihm saß ein Mann, der sich für seine Tränen entschuldigte, die Schechters Leute zu verantworten hatten.
Dann fuhr Mündel mit seiner kleinen persönlichen Geschichte fort.
\"Ein Offizier trat zu mir ins Zimmer, und in seinen Augen konnte ich lesen, dass er bedauerte, was er tat. Aber das änderte nichts. Denn er tat es trotzdem. Genau wie sie!\" Er blickte zu Schechter auf. Dieser sah beschämt zu Boden und erwiderte nichts.
\"Dann ließen sie mich meinen Mantel und meinen Hut holen und begleiteten mich nach draußen. Einer der Polizisten sagte, ich solle mich hinten auf die Ladefläche des Wagens setzen. So wurde ich abtransportiert.
Niemand sagte mir, wo sie mich hinbringen würden, aber das war unnötig. Ich wusste es bereits, auch wenn ich damals noch die Hoffnung hatte, es würde sich alles klären und ich müsste nicht an einen hässlichen Ort wie diesen, aber genau genommen hab ich es seit dem Klopfen an meine Türe gewusst.\"
\"Wer hat sie verraten?\", fragte Schechter.
\"Ich habe viele in Verdacht, aber genau weiß ich es nicht. Aber Gott weiß es, und wenn er will, werden sie im Fegefeuer landen.\"
\"Glauben sie das wirklich?\", fragte Schechter.
\"Was?\"
\"Die Stelle mit dem Fegefeuer!\"
\"Ich bin Priester\", sagte Mündel, \"natürlich glaube ich an die Bibel und somit selbstverständlich auch an den Teufel, die Hölle und das Fegefeuer. Sie nicht?\"
Das Thema Religion war Schechter äußert unangenehm. Er war zwar Christ, aber was sagte das schon über einen Menschen aus? Seine Mutter war katholisch gewesen, ebenso wie sein Vater, was war ihm also anderes übrig geblieben, als auch ein Christ zu werden.
Als er noch ein Kind war, hatten seine Eltern ihn mehr oder weniger dazu gezwungen, täglich die Kirche aufzusuchen.
Jetzt waren seine Eltern tot und Schechter war, seitdem sie gestorben waren, nur noch Sonntags (in einer der hinteren Bänke) dort anzutreffen. Mehr aus gesellschaftlichem Zwang als aus Gläubigkeit. Es gehörte einfach zum guten Ton, eine ungeschriebene Regel, der man auch in den verdammten Tagen des Krieges Folge zu leisten hatte.
\"Ehrlich gesagt ... ehrlich gesagt weiß ich es nicht\", brachte er hervor.
\"Das ist nicht gut\", sagte Mündel.
\"Glauben sie, ich werde ebenfalls im Fegefeuer oder der Hölle landen, Pater?\" Schechter bemerkte nicht, dass er Mündel zum ersten Mal mit Pater angesprochen hatte. Aber auch Mündel schien es überhört zu haben, oder es war ihm egal. Auf jeden Fall beachtete er es nicht, sondern dachte eine zeitlang angestrengt über eine mögliche Antwort nach.
\"Was meinen sie?\" Schechter, der eine Antwort erwartet hatte, fühlte sich mit einem Mal noch ein Stück unruhiger. Wieso hatte der Mann seine Frage nicht einfach mit einem verdammten \"Nein\" beantworten können?
Das hätte sein Gewissen beruhigt auch wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, ob Mündel ihn nicht aus Gründen, die jeder verstehen konnte, anlog.
\"Ich weiß es nicht\", sagte Schechter, \"sie sind der Priester\". Die Gelassenheit, die er nach außen vermittelte, war gespielt. Innerlich zitterte er vor Anspannung.
Er wusste nicht, mit welchem Ziel er die Baracke betreten hatte, aber sicher nicht, um sie mit der Angst vor dem Jüngsten Gericht wieder zu verlassen.
Aber war das die Wahrheit? Wollte er nicht eigentlich genau dies hören?
Es war ein absurder Gedanke (fast schon der eines Verrückten), aber er war näher an der Wahrheit als der vorherige.
Mündel sagte nichts, beobachtete Schechter aber genau und schien aus seinem Gesicht lesen zu können, dass er sich seine Frage mittlerweile selbst beantworten konnte.
Die Situation in der kleinen stinkenden Baracke, vollgestopft mit schwitzenden abgemargerten Männern, war absurd. Zwei dieser schwitzenden Männer saßen zusammen mit einem ihrer Aufpasser (einfacher ausgedrückt: dem Feind) zusammen im Kreis und man redete über theologische Fragen, die an diesem Ort des Grauens so unangebracht waren wie Schnee im Juli.
Der Rest der Bewohner beobachtete ihre zwei Leidensgenossen und den Eindringling gespannt von ihren Schlafplätzen aus. Obwohl sie müde von der schweren, unmenschlichen Arbeit waren, die sie Tag für Tag zu verrichten hatten, war ihre Neugier größer als ihre Erschöpfung.
Jeder im Raum fragte sich, was der Nazi-Offizier bei ihnen, der niederen Rasse, zu suchen hatte. Jeder, einschließlich Schechter selbst, dem sein Verhalten fremd vorkam. Er konnte sich nicht erinnern jemals etwas so Dummes getan zu haben. Auch als Kind nicht. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, was er alles riskierte, nur weil er mit zwei Menschen sprach. Auch diese Tatsache war verrückt und absurd, aber das änderte nichts daran, dass es eine Tatsache war.
Was würde man mit ihm machen, wenn man es herausfand, dass er mitten in der Nacht mit Gefangenen gesprochen und ihnen sogar Zigaretten geschenkt hatte? Zigaretten waren ein Gut, das sich in diesen schwierigen Zeiten noch nicht einmal die meisten Arier leisten konnten. Sie würden ihn dafür an einem Ast aufknüpfen!
Er war schon bei unzähligen Exekutionen dabei gewesen, manche waren sogar unter seiner Führung vollzogen worden, aber er hatte sich trotzdem nie wirklich an sie gewöhnt. Und schon gar nicht hatte er sie als etwas Normales empfunden, das in dieser Zeit einfach dazu gehörte wie das Fahnenschwenken oder der Hitler-Gruß.
Aber sich daran gewöhnen? Niemals!
Oft hatte er sich gefragt, wie es wohl sein würde, auf so elende und unehrenhafte Weise sterben zu müssen, eine Antwort darauf hatte er nie gefunden. Zumindest keine befriedigende. Er hatte darüber nachgedacht, was man wohl fühlte, wenn man den Strick um den Hals gelegt bekam oder den Gewehrlauf eines Soldaten vor sich sah.
Schechter war sich ziemlich sicher, dass er vorher an einem verdammten Herzinfarkt sterben würde. Er war sich sicher, dass er einer solchen Situation nicht gewachsen war. Aber war dies überhaupt jemand? Vermutlich nicht.
Und fühlte man überhaupt den Schmerz, wenn man in der Luft baumelte oder die Kugel das Fleisch durchstieß?
Vermutlich ja! Obwohl Schechter gelesen hatte, dass der Körper in außergewöhnlichen Situationen (und eine Exekution war ohne Zweifel eine solche) ein Hormon in Übermenge ausstieß, welches dafür sorgte, dass man den Schmerz nicht mehr wahrnahm. Diese Erfahrung hatte Schechter bei so mancher Schlägerei selbst gemacht.
Aber vermutlich war Gott nicht so gnädig, es einen nicht spüren zu lassen, wenn man den Löffel auf gewaltsame Weise abgeben musste.
Schechter war sich sicher, dass er der Antwort auf diese Fragen näher war als jemals zuvor in seinem langen Leben.
Seine Scham verstärkte sich nochmals, als ihm bewusst wurde, dass er sich Sorgen über den Tod machte, während die Menschen, mit denen er im Raum saß, jeden Abend damit rechnen mussten, die nächste Mahlzeit nicht mehr zu erleben. Ein anderer, auf seltsame Art noch schlimmerer Gedanke drängte sich in seinen Verstand auf:
Wäre es für diese Menschen nicht geradezu eine Erlösung, wenn sie sterben würden?
Nein, so durfte er nicht denken, das brachte ihn der Hölle nur noch ein Stückchen näher, in dieser Hinsicht war er sich sicher. Wenigstens war er sich überhaupt bei einer Sache sicher.
Aber der Gedanke setzte sich in ihm fest wie ein bösartiges Krebsgeschwür.
\"Ich glaube ...\", Schechter zögerte. \"Ich glaube, wenn es eine Hölle gibt, werde ich in ihr landen.\"
\"Ist das ihre ehrliche Meinung?\", fragte Mündel.
\"Ja, ich glaube schon.\"
\"Dann sollten sie dringend etwas in ihrem Leben verändern.\"
\"Was soll ich tun?\", fragte Schechter den Priester. \"Was kann ich jetzt schon noch tun.\"
\"Was haben sie bisher in ihrem Leben getan, Herr Schechter?\" Das erste Mal sprach Mündel ihn mit Namen an.
\"Ich habe ein gottloses Leben geführt.\"
\"Was heißt das?\", hakte Mündel nach.
\"Ich meine ... ich zweifle an seiner Existenz. Wenn man es genau nimmt, könnte man mich einen Ungläubigen nennen.\"
\"So wie diese Juden hier?\", fragte Mündel und machte eine ausschweifende Handbewegung.
\"Ist das ihre Meinung?\"
\"Nein\", sagte Mündel, \"das ist die Meinung ihrer Vorgesetzten und einem Großteil ihres Volkes.\"
Schechter nickte nur kurz mit dem Kopf. Er wusste nicht, ob alle seine Vorgesetzten so dachten, aber einige mit Sicherheit. Und auch wenn es nur ein kleiner Teil war (was Schechter sich einzureden versuchte, ihm aber nicht sonderlich gut gelang), hatte dieser es doch geschafft, ein ganzes Land mit diesem Denken zu infizieren. Ein Virus war aus einigen führenden Köpfen Deutschlands entwichen und hatte für viele Todesopfer gesorgt.
Schechter konnte sich auch von dieser Sünde nicht ganz freisprechen. Auch er hatte an diese Ideologie geglaubt, anfangs zumindest. Und auch er hatte nach ihr gehandelt und sogar seine Familie mitinfiziert. Seine Frau hatte er oft geschlagen, weil sie kommunistische Ansichten vertreten hatte. Er bereute die Schläge und das, was sie bewirkt hatten. Sie hatten seiner Frau das Recht genommen, sagen zu dürfen, was sie für richtig hielt.
Wenn man es schon nicht in der Öffentlichkeit tun durfte, sollte man es wenigstens im Kreise seiner Familie tun können. So dachte er heute darüber. Er wünschte, er könnte sich bei seiner Frau dafür entschuldigen und ihr klarmachen, dass er es bereute. Ihm wurde wehmütig, wenn er daran dachte, dass er seine Frau wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Sie lebte in Frankfurt und aus sicheren Quellen wusste er, dass die Briten und die Amerikaner die Stadt mehrmals bombardiert hatten. Die Luftangriffe hatten starke Verluste in der Bevölkerung hervorgerufen.
Er wusste, dass seine Frau, seitdem er von Zuhause weg war, in einer Munitionsfabrik in einem Außenbezirk arbeitete und er wusste auch, dass Munitionsfabriken die bevorzugten Ziele von Angriffen waren. Er wusste nicht, ob seine Frau noch lebte und ob ihr Haus noch stand. Vielleicht hatte sie sich aber auch einen Geliebten genommen.
Wie gern würde er die Zeit noch einmal zurückdrehen, in eine Zeit, in der man keine Angst vor Bomben haben musste.
Hinter sich hörte Schechter ein trockenes Husten, das sich mehr nach Tod anhörte als alles, was er bisher gehört hatte, und er wurde aus seinen Gedanken gerissen.
\"Nicht alle Ungläubigen müssen automatisch in der Hölle landen\", sagte Mündel, \"es kommt darauf an, wie man sein Leben führt und welche Taten man verübt. Es hängt nicht allein davon ab, an welchen Gott man glaubt oder ob man überhaupt an ihn glaubt.\"
Die Worte des Prieters konnten Schechters Ängste nicht verringern. Er hatte den Tod vieler Menschen befohlen, die wenigsten von ihnen waren Verbrecher im eigentlichen Sinn des Wortes gewesen. Das schlimmste Verbrechen, das die meisten von ihnen verübt hatten, war, dass sie einer anderen Rasse angehörten als die Männer, die die Macht im Reich hatten. Dieses Argument hatte ihm gereicht, sie durch die Hand anderer umbringen zu lassen.
In welcher Zeit war er hier gelandet? Was war aus der Welt geworden? Die Antwort schwebte wie dichter grauer Nebel über ihm. Es war eine Zeit der Zerstörung, der Apokalypse, in der jeder froh sein konnte, noch am Leben zu sein, weil es jeden zu jeder Zeit und an egal welchem Ort der Welt treffen konnte.
Die Menschen, die um ihn herum in ihren Kojen lagen, hatte es besonders schlimm getroffen, aber Schechter wusste, dass sich das Blatt jederzeit wenden konnte und dann würden aus Gejagten Jäger werden und umgekehrt.
Die meisten seiner Kameraden wussten das, auch wenn sie es nicht zugaben. Jeder von ihnen wusste, dass die Berichte im Fernsehen und im Radio falsch waren. Sie spiegelten nicht das wahre Bild des Krieges wieder, sondern nur das, was die Obrigkeit der Bevölkerung weismachen wollte.
Offiziell war es natürlich ein Verbrechen, ausländische Sender zu hören, aber technisch gesehen war es kein Problem, und so bedienten sich viele der Offiziere dieser einzigen Möglichkeit, sich ein objektives Bild über die Geschehnisse dieses Krieges zu machen.
Auch Schechter hatte es getan, aber nicht mehr als zwei Mal, weil ihn das, was er dort gehört hatte, geängstigt hatte.
Es war nicht immer gut, die Wahrheit zu wissen, so konnte er sich wenigstens noch die kleine Illusion bewahren, er würde nicht in Gefangenschaft geraten oder gefoltert und hingerichtet werden.
Es war einfacher für ihn, eine Lüge zu akzeptieren als eine Wahrheit, die ihm Armut und Schmerzen versprach.
Ohne diese Lüge wäre es ihm wohl auch nicht mehr möglich gewesen, seine Arbeit hier zu verrichten.
Mit einer Wahrheit, die ein elendes Ende für ihn voraussagte, hätte er nicht die Kraft aufbringen können, zum Richter zwischen Leben und Tod zu werden. Diese Wahrheit hätte seine Arbeit, die er grundsätzlich als falsch und sinnlos empfand, nur noch ein Stück falscher und sinnloser gemacht.
\"Pater\", sagte er, \"ich habe eine Bitte an euch\".
\"Sprecht!\"
\"Ich möchte, dass ihr mir die Beichte abnehmt.\" Schechter war sich im Klaren, dass ihn die Menschen um ihn herum für verrückt halten mussten, aber es erleichterte ihn, als er in Mündels Blick Verständnis anstatt Spott und Verärgerung sah.
\"Wenn sie es wirklich wollen, werde ich ihnen das Sakrament der Beichte abnehmen. Es ist schließlich meine Pflicht, als ein Priester Gottes.\"
\"Was soll ich tun?\", fragte Schechter, der sich vorkam wie ein Schulkind, das das erste Mal einem Fremden (auch wenn dieser Fremde ein Priester war, blieb es doch ein Fremder) seine Sünden erzählen sollte.
\"Knien sie sich hin!\"
Schechter tat es und registrierte nur am Rande, wie hart der Boden unter ihm war.
Nachdem auch Mündel sich niedergekniet hatte, schloss er die Augen und faltete die Hände vor seinem Gesicht.
Schechter schaute sich kurz um und tat es ihm dann gleich. Er war überrascht, dass Mündel kein Wort herausbrachte, sondern anscheinend stumm betete.
Auch Schechter versuchte es, stellte aber weniger überrascht fest, dass es ihm nicht gelang. Er hatte schon seit etlichen Jahren nicht mehr richtig gebetet, und so hatte er verlernt, sich auf das, was er Gott vortragen wollte, zu konzentrieren und ließ stattdessen seine Gedanken kreisen.
Er sah das Bild seiner Frau vor sich, die eine schwere Arbeit verrichtete. Welche, konnte er nicht erkennen, aber er sah Erschöpfung und Wut in ihrem von Ruß verdreckten Gesicht. Unter einem blauen Kittel, der ebenfalls mit schwarzen Rußflecken beschmutzt war, sah er ihre Oberarmmuskeln deutlich hervortreten.
In Gedanken versuchte er sie zu rufen, wollte er ihr noch einmal sagen, wie leid ihm alles tat und dass er sie über Alles liebe, aber sie hörte in nicht und ging weiter ihrer Tätigkeit nach.
Das Bild seiner hart arbeitenden Frau verschwand aus seinem Kopf und machte einem anderen, keineswegs weniger erschreckenderen Platz.
Er schien wie ein Vogel durch die Lüfte zu fliegen. Aber die Luft war nicht sauber und der Himmel nicht blau. Um ihn herum verdeckte dichter schwarzer Nebel (oder war es Rauch?) die Sonne und machte die Wolken dunkel. Es war, als würde in wenigen Augenblicken ein riesiges Gewitter durch das Netz dieser grauen, fast schwarzen Wolken brechen und das Land unter ihm mit Blitzen bombardieren.
Als er tiefer flog, erkannte er das Land unter ihm als eine Großstadt. Ein gigantisches Meer an Häusern, von Menschenhand in einem Anflug von Größenwahn erbaut.
Doch etwas an dem Bild, das sich ihm bot, stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht!
Und dann erkannte er, was es mit dem schwarzen Himmel und dem Nebel um ihn herum auf sich hatte. Die Stadt unter ihm brannte.
Fast aus jedem Haus fackelte Feuer durch die Fenster oder die Türen. Dichte Rauchschwaden stiegen dem Himmel empor.
Er flog noch weiter runter, so, dass er die Straßen besser sehen konnte und die Menschen, die von ihm aus wie Ameisen aussahen und die verwirrt durch die Gegend liefen, ohne ein festes Ziel vor Augen zu haben.
Als er die Strecke zwischen sich und der brennenden Stadt unter ihm noch weiter verkürzte, erkannte er endlich Einzelheiten.
Er sah Frauen, er sah Männer, und er sah ... brennende Kinder! Ihre Münder waren weit aufgerissen, um Schreie aus ihnen zu pressen. Er war froh, dass er diese Schreie von seinem Standpunkt aus nicht hören musste.
Es waren keine Blitze, die auf diese Stadt heruntergeregnet waren und sie würden es auch nicht tun, zumindest in den nächsten Stunden nicht.
Es waren Bomben gewesen, die Häuser zum Einsturz gebracht hatten und Menschen wie lebendige Fackeln verzweifelt durch die mit Trümmern bedeckten Straßen irren ließen.
Schechter öffnete seine Augen und bemerkte, dass Mündel ihn schon einige Zeit angesehen haben musste.
\"Woran hast du gedacht?\", wollte er wissen.
\"An meine Frau und an eine zerbombte Stadt.\"
Mündel nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
\"Ich möchte, dass Sie noch einmal ihre Augen schließen und an das denken, was Sie Gott, unserem allmächtigen Vater, beichten wollen.\"
Jetzt war es Schechter, der zustimmend nickte. Dieses Mal fiel es ihm deutlich leichter, seine Augenlider zu schließen und das zu befolgen, was Mündel ihm aufgetragen hatte. An seine Sünden zu denken war für ihn weitaus weniger schwierig, als in Gedanken zu beten. Wenn man bedachte, dass er kein praktizierender Christ, und im Konzentrationslager für den Tod von mehreren hundert Menschen verantwortlich war, wirkte es weniger erstaunlich.
Zu seiner eigenen Überraschung sah er nicht die Bilder der letzten Jahre in seinen Gedanken, sondern er erinnerte sich zurück an seine Kindheit. Besser gesagt an die Sünden seiner Kindheit.
Er erinnerte sich an Gottfried, der mit ihm die Schule besucht hatte. Seit Jahrzehnten hatte er sich nicht mehr an den dicklichen, ungepflegten Jungen erinnert, den er und seine Klassenkameraden, die er zu jener Zeit noch als seine Freunde bezeichnet hatte, oft gehänselt und malträtiert hatten. Der arme Kerl hatte oft unter ihnen gelitten.
Sie hatten ihn gedemütigt und ihn meist vor den Mädchen schikaniert, um Eindruck zu schinden.
Schechter war sich bewusst darüber, dass er nie über das nachgedacht hatte, was sie Gottfried angetan hatten.
Er war fetter, hässlicher und vor allem ärmer gewesen als sie, das war damals die einzige Rechtfertigung für sein Handeln gewesen. Schechter hatte sich nie dafür geschämt, wenn der Junge (der zudem noch einer der schwächsten gewesen war) heulend aus dem Schulgebäude gerannt war und von einem Lehrer aufgehalten wurde, der ihm erklärt hatte, dass er den Untericht nicht verlassen durfte, nur um zu seiner Mutter zu rennen.
Schechter erinnerte sich an weitere Details aus seiner Jugend, z.B. wie er seinen Vater belogen hatte, weil er die Konsequenzen gefürchtet hatte, nachdem er sich eine Zigarette von ihm genommen hatte. Er war damals elf gewesen, als ihn sein Vater fragte, ob er die Zigarette genommen hatte und er es auf seinen älteren Bruder geschoben hatte.
Oder wie er die Fensterscheibe seines Nachbarn in der Nacht mit einem Stein zerbrochen hatte, weil er wütend über ihn gewesen war.
Dies alles waren Dinge die sein Verstand schon längst vergessen oder verdrängt hatte. Sie waren über viele Jahre in seinem Unterbewusstsein gefangen gewesen und kamen erst wieder in diesem Moment zurück an die Oberfläche.
Er wusste nicht, wie lange er mit geschlossenen Augen da saß und über seine Sünden nachsann, aber als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass Mündel die Augen immer noch geschlossen hatte und keine Miene verzog.
Schechter traute sich nicht, nochmals seinen Blick über die übrigen Gefangenen schweifen zu lassen. Er kam sich wie der letzte Idiot vor und so senkte er seinen Blick wieder zu Boden.
\"Gott vergibt dir deine Schuld\", hörte er Mündels Stimme. Er schaute auf, aber die Augen des Priesters waren immer noch zugekniffen und seine Mimik verriet Schechter, dass er mit seinen Gedanken weit abgedriftet und an einem anderen Ort war.
\"Gott vergibt dir deine Schuld. Er ist nicht nachtragend.\"
Schechter war glücklich über diese Worte und er bemerkte jetzt, dass er sich auf eigenartige Weise anders fühlte.
Nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte, war ihm, als sei er frei! Sein mit Schuld beladenes Herz war gefüllt mit wohlwollender Wärme und er spürte zum ersten Mal seit langem wieder so etwas wie Erleichterung.
\"Danke\", sagte er fast im Flüsterton (trotzdem würde er schwören, dass es jeder im Raum gehört hatte) und mit Demut.
\"Du brauchst mir nicht zu danken\", sagte der Priester, der weiterhin unverändert vor ihm saß, \"es ist Gott, dem du danken musst. Er hat deine Schuld von dir genommen. Ich habe das nicht. Ich kann dir deine Taten nicht verzeihen, dafür habe ich zuviel gelitten und zuviel Hass hat meine Seele vergiftet. Aber Gott kann vergeben.
Ich hoffe, dass ich es eines Tages auch schaffe, das alles zu vergessen und dir zu vergeben, wenn ich überlebe.\"

2

Das hat er nicht! Der Priester hat nicht überlebt, er hat nie wieder einen Tag in Freiheit und ohne körperliche Qualen verbracht. Mündel ist drei Tage nach ihrem Zusammentreffen gestorben. Es ist für die damalige Zeit eher ein unspektakulärer Tod gewesen: Keine Hinrichtung.
Er ist bei der Arbeit an einem Schützengraben einfach zusammengebrochen. Er hat nicht geschrien und keiner hat über den Verlust geweint. Er ist zu einem der vielen namenlosen Toten des Zweiten Weltkriegs geworden.
Nicht mehr, nicht weniger.
Schechter bemüht sich, von seinem Stuhl aufzustehen. Es ist fast sechzig Jahre her, dass er in Buchenau als Offizier tätig war und er hat die neunzig schon lange überschritten (manchmal denkt er insgeheim, dass er sich einfach weigert zu sterben, weil er weiß, dass nach seinem Tod der Teufel auf ihn wartet). Seine Gelenke brennen bei jeder noch so kleinen Bewegung wie Feuer und er ist froh, dass er es diesmal ohne die Hilfe seines Sohnes schafft, auf die Beine zu kommen.
Sein Sohn ist sechsundvierzig Jahre alt, und Schechter ist stolz auf ihn.
Er ist Schriftsteller (sogar ein ziemlich erfolgreicher) und kann zu Hause arbeiten, sodass er seinen Vater den ganzen Tag pflegen kann. Sein Vater schämt sich dafür, aber er weiß, dass sein Sohn ihn liebt und es ihm deshalb nicht viel ausmacht.
Wenn sein Sohn (Joachim mit Namen) nicht damit beschäftigt ist, seinem alten Herrn zu helfen, sitzt er den ganzen Tag vor dem Computer und schreibt.
Auch jetzt kann Schechter deutlich die Schläge auf die Tasten hören, die aus dem ersten Stock zu ihm durchdringen.
In seinem Testament hat Schechter seinen Sohn gebeten, nach seinem Tod ein Buch über die Erlebnisse seines Vaters während der Nazizeit zu schreiben. Er hat selbst alles aufgeschrieben (alle Einzelheiten, an die er sich mit seinem verwirrten Verstand noch erinnern kann), aber natürlich hat er nicht das Können seines Sohnes aufzuweisen.
Joachim weiß nichts über die Vergangenheit seines Vaters. Schechter hat ihm nie erzählt, dass er bei der SS war und erst recht nicht, dass er in einem KZ gearbeitet hat. Für seinen Sohn war Schechter nur ein einfacher Soldat gewesen wie Millionen anderer Männer auch.
Es wird ein Schock für den Jungen, wenn er erfährt was ich damals wirklich getan habe, denkt Schechter oft und er hat Angst davor, dass sein Sohn ihn nicht mehr lieben könnte, wenn er die Wahrheit erfahren würde.
Schechter legt behäbig den kurzen Weg von seinem Stuhl bis zur Verandertür zurück.
Als er sie aufstößt, empfängt ihn die warme Luft des August und Sonnenstrahlen blenden seine Augen.
Langsam und vorsichtig steigt er die vier Treppenstufen herab (er will auf keinen Fall hinfallen; vor einem halben Jahr war ihm genau das passiert und er kann sich noch gut an die Schmerzen und die Scham erinnern, als er nach seinem Sohn geschrien hat), wobei er beinahe einen seiner Hausschuhe verliert.
Als er endlich Gras unter sich spürt, dankt er Gott dafür.
Der Garten hinter ihrem Haus ist riesig und es wird dem alten Mann sehr viel Anstrengung und Mühe abverlangen, an den Ort zu gelangen, den er jedes Jahr im Sommer aufsucht. Um ihn herum ist die Welt heil.
Die Bäume tragen Früchte, alle Blumen blühen in den verschiendensten Farben.
Er braucht sehr lange bis er die erste Reihe Apfelbäume hinter sich gelassen hat und noch länger, um auch die Kirschenbäume zurückzulassen.
Seine Knochen schmerzen bei jedem Schritt und er ist nur in der Lage, kleine Schritte zu machen. Aber er ist froh, dass er es überhaupt schafft, zu laufen. An manchen Tagen ist er nicht einmal in der Lage zu sitzen und muss sich seine Zeit im Bett mit Fernsehen oder Radiohören vertreiben.
Endlich hat er es geschafft! Er ist an seinem Ziel, einer kleinen Hecke, angelangt. Verdeckt von Zweigen steht dort so etwas wie eine Gedenktafel.
Es ist nichts Bedonderes, nichts, das einem Besucher sofort ins Auge fallen würde, nur eine Steinplatte, die auf einem flachen Hügel Erde liegt.

\"IN GEDENKEN AN DEN BEMERKENSWERTESTEN MANN DEN ICH JE KENNENLERNEN DURFTE, UND DER MIR AUS AUSWEGLOSER SITUATION MEINEN LEBENSMUT UND MEINEN GLAUBEN AN DEN HERRN ZURÜCKGEGEBEN HAT\",

ist auf der Steintafel zu lesen. Ein Bildhauer hat es eingraviert, kurz nach dem Ende des Krieges. Neben dem Stein steht ein Strauß verwelkter Blumen. Sie stehen schon seit einem Jahr dort, aber Schechter hat nicht die Kraft sie auszuwechseln (er weiß, dass er bald seinen Sohn darum bitten muss).
Und auf der Tafel befinden sich zwei Kerzen.
Schechter kniet sich nieder, mit dem Bewusstsein, dass es ihn unglaubliche Schmerzen bereiten wird, wieder hoch zu kommen, aber das ist es ihm wert. Das ist er dem BEMERKENSWERTESTEN MANN einfach schuldig.
Aus der Tasche seiner Jogginghose holt er ein Feuerzeug heraus (er raucht immer noch, obwohl ihm sein Arzt gesagt hat, dass seine Lunge bereits stark angeschlagen ist und obwohl sein Sohn es nicht gerne sieht, wenn er sich eine Zigarette ansteckt und sie bis zum Filter leer raucht, weil Schechter nicht in der Lage ist sie vorher wegzuwerfen) und zündet sie an.
Er faltet die Hände und spricht leise ein Gebet. Er bittet Gott darum, sich der Seele des in Buchenau verstorbenen Priesters anzunehmen.

ENDE

by Timo Mengel
 



 
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