Die Brücke, über die man alleine gehen muss

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erbsenrot

Mitglied
Alte Frau
ach, liebe alte Frau
Ich sitze hier
an deinem Sterbebett
und halte deine Hand

Weit aufgerissen
deine blauen Augen
sie blicken weit
unendlich weit
in eine andere Dimension

Du atmest heftig
kurz
mit weit geöffnetem Mund
und deine Nägel
werden schon blau

Manchmal spürst du
dass ich deine Hand streichle
Du suchst mich
mit den Augen

Die Brücke
zwischen
dort
und hier
ist lang

so lang…

Nun ist es halb drei in der Nacht
die Nachtwache war da
erzählte – mit Begeisterung –
von ihrem Enkelkind
Wir lachten leise…

Dein Puls wird immer schwächer
Die Atmung kürzer
Deine Augen schauen
nur noch zur Decke hin
weit geöffnet – ohne zu blinzeln
schon seit Stunden
Wohin schaust du nur?
Was siehst du?

Der Motor deiner Matratze brummt
pumpt Luft hinein
gegen Dekubitus
Dein Atmen wird sehr flach
Ich singe leise:
„Bewahre uns Gott - behüte uns Gott“
Das liebst du doch so
Ich singe es gern für dich

Mir scheint
als gehen wir jetzt
zusammen
über die Brücke
Du hältst meine Hand fest
und ich
bin ein kleines Schrittchen
hinter dir

Wir gehen zusammen
aber DU
gibst das Tempo an
und dann…

lässt du meine Hand los
und gehst alleine weiter
auf deine
letzte Reise

und ich -
ich gehe wieder zurück
zurück
ins Leben









©Hilda Röder
 
B

bonanza

Gast
das gedicht

... ich sehe es so gut vor mir.

mache mich bitte nicht verlegen.

bon.
 

Aceta

Mitglied
Den Angehörigen eines gestorbenen Menschen,
die ganz spezielle Leiden durchleben
ein Mitgefühl auszudrücken, eine "Teilnahme"
wie es in manchen Beileidskarten genannt,

trifft trotzdem nie den Kern des Schmerzes !!
- der ist noch heftiger als alles Mitgefühl.

- Tröstet es mich, wenn meine beste Freundin
mir die Hand drückt - als meine Mutter starb?

___

Es ist sehr einfühlsam,
Betroffenheit zu bekunden.

Es ist ein Akt der Höflichkeit.

Aber generieren wir mit der Bekundung auch nur annähernd den Grad der persönlichen Betroffenheit ?

Wäre eine jedwede Beileidsbekundung nicht eigentlich eine Beleidigung der trauernden Menschen - von ganz intimen Ausnahmen abgesehen?

____

Ein guter Text ...
ich sehe und verstehe ...
und ich bin schmerzhaft berührt ...

____

Resume - ich kritisiere den Beitrag nicht etwa - dies füge ich bei, nicht mißverstanden zu werden: Ich finde den Beitrag großartig.
Ich überlege und sinniere und stelle zur Diskussion, wie er verstanden wird!

Liebe und einfühlende Gedanken und Grüße

Aceta
 
B

bonanza

Gast
ich denke, bei dem text/gedicht gehr es einfach ums loslassen ...
können - müssen. und um sterbebegleitung.

bon.
 

Llanlli

Mitglied
Hallo erbsenrot,

ich musste mir am Ende deines Gedichtes eine verstohlene Träne aus dem Augenwinkel wischen. Du hast mit deinen Worten auf wunderbare und einfühlsame Weise treffend zum Ausdruck gebracht, wie wichtig es ist, auf unserem letzten Gang nicht allein zu sein.

Danke.

Llanlli
 

erbsenrot

Mitglied
Liebe Aceta,

Trost und Mitgefühl für Hinterbliebenen sind ein Thema für sich. Deine Fragen dazu sind sehr interessant, aber ich möchte doch gerne erst die eventuelle Beiträge von den anderen abwarten, bevor ich was dazu sage.

Mein Text/Gedicht entstand unmittelbar am Sterbebett und ich habe einfach meine Gefühle und Gedanken aufgeschrieben.

Ich danke dir sehr für deinen liebevollen Kommentar.

Alles Liebe
erbsenrot
 

petrasmiles

Mitglied
Prinzip Hoffnung

Liebe Erbsenrot,

wundervoll - und lässt in mir die Hoffnung reifen, dass auch Menschen, die keinen Menschen mehr zu haben scheinen - ob real oder nur aus 'anderen' Gründen -, einen besonderen Mitmenschen finden, dem es eine - ja, Selbstverständlichkeit? -, ist, einen bei seinem letzten Gang zu begleiten.
Ich habe mich mit der Sterbenden identifiziert und fühlte mich ... wohl aufgehoben, behütet ... alles war richtig.

Danke für diesen auch in der Form absolut adäquaten Text.

Liebe Grüße
Petra
 
M

Melusine

Gast
Liebe erbsenrot,
was für ein wunderschöner, stiller Text. Er lässt mich mitleben und innerlich ganz ruhig werden. So gehen können ... wie wunderbar.
Danke für dieses Gedicht.

Mel
 

erbsenrot

Mitglied
Prinzip Hoffnung

Liebe Petra,

ich danke dir für dein wunderbares Begreifen und Kommentieren meines Textes und freue mich, dass er Hoffnung in dir bewirkt hat. Das kann trösten und auch eine Hilfe sein, sich mit der Angst vorm Sterben auseinander zu setzen...

Alles Liebe
erbsenrot
 
L

Law

Gast
@ erbesenrot

Tja ein sehr schönes garnicht trauriges Gedicht, weil es sehr einfühlsam das Ende eines Menschen hier in diesem Leben beschreibt. Mich würde auch interessieren was die Sterbenden in der Sterbephase sehen, wenn sie gehen oder gleiten, auch wenn natürlich jeder "Schiss" davor hat.

Ich denke einen menschen beim Sterben zu begleiten ist ein genauso wichtiges Erlebnis wie bei einer Geburt des eigenen Kindes dabei zus ein. Unbeschreiblich, tief existenziell und man wächst an diesen Erfahrungen und reift dadurch in Quantensprüngen.

Wirklich ein wichtiger sehr sehr guter Text.
Kompliment von
Law
 

erbsenrot

Mitglied
Lieber Law,

ich danke dir sehr für deinen einfühlsamen Beitrag und bin froh, dass du den Text als "nichttraurig" siehst. So war es auch gemeint.

Du hast recht, einen Menschen im Sterben zu begleiten ist mehr als ein Geschenk, weil sterbende Menschen unsere Lehrmeister sind. Sie gehen den Weg, den wir auch beschreiten werden... sie machen es uns vor...
Deshalb ist mir, während der Sterbebegleitung, das Bild mit der Brücke auch so gegenwärtig und wichtig, denn es tröstet mich in der Unbegreiflichkeit des Geschehens.

Nochmals vielen Dank an alle... auch für die gute Noten... freue mich sehr darüber!

Liebe Grüße
erbsenrot
 
K

Kultakivi

Gast
Hallo Erbsenrot,

Diese Arbeit bedarf keiner Interpretation.
Das ist bei deinem Werk a) nicht nötig und b) würde es angesichts der Thematik beschämend wirken.
Eindeutige Aussage und dabei mehr tröstend als erschreckend.
Literarisch klasse umgesetzt.

LG

Kultakivi
 



 
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