Die Büchernärrin

Raniero

Textablader
Die Büchernärrin

„Das hätte ich nicht für möglich gehalten“, ereiferte sich Rebecca Gnim, die umtriebige Vorsitzende eines in der Region weithin bekannten Literaturzirkels.
„so eine Blamage.“

Soeben hatte sie eine von ihr selbst ins Leben gerufene Veranstaltung in einem aufstrebenden Kulturcafe verlassen und stand noch ganz unter dem Schock dessen, was sie an Unglaublichem vernommen hatte.
Diese Veranstaltung trug den Titel:
Ich lese was, was du – vielleicht - noch nicht liest
und sollte durch die Vorstellung verschiedener Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt einen Anreiz für Literaturinteressenten jeglicher Couleur bieten.
Als Schriftstellerin von Rang und Namen schätzte Rebecca selbstredend nicht nur das von ihr selbst verfasste Wort, sondern liebte es darüber hinaus sehr, in Werken anderer Verfasser herumzustöbern.
Aus diesem Grund hatte sie die ehemalige Leiterin einer städtischen Bibliothek als Referentin eingeladen, um aus berufenem Munde verlauten zu lassen, was zur Zeit als Geschriebenes zu empfehlen sei.
Diese Dame, eine charmante Endfünfzigerin, meisterte denn diese Aufgabe mit Bravour, zu Anfang, und stellte, eins nach dem anderen, einige aus ihrer Sicht lesenswerte Bücher vor.
Hierbei gab sie in erläuternden Worten kurze Kommentare zu den einzelnen Autoren wie zu den Buchinhalten, stellte Vergleiche zu anderen Werken der Weltliteratur her und ließ die Bücher anschließend von Hand zu Hand gehen.
Natürlich versäumte sie es auch nicht, ihre persönliche – keineswegs immer objektive, wie sie meinte - Einschätzung preiszugeben.
Auf diese Art einer nichtsterilen Präsentation - anders als man sie von den Telemedien her kennt - entwickelte sich schnell eine gelöste Stimmung, die mit einer ziemlich lebhaften Diskussion einherging, und hierbei jedoch ereignete sich das Unfassbare, so unfassbar, dass Rebecca, als sie mit ihrem Lebensgefährten draußen ins Auto stieg, nicht anders konnte, als laut auszurufen:
Si tacuisses, phiolosophem mansisses!
Ja, wenn sie doch bloß geschwiegen hätte, die gute Bibliothekarin, dann wäre sie vielleicht nicht Philosophin geblieben, aber immerhin.

Und dabei hatte sich das Unfassbare vorher mit keiner Silbe angekündigt, war stattdessen eingetreten wie das Grauen auf leisen Sohlen, wie man es von den Hitchcockklassikern her kennt, um dann mit Urgewalt über die entsetzten Teilnehmer der Kulturveranstaltung hereinzubrechen.

Eine durch und durch harmlosen Frage war es, fast mehr eine Feststellung, die alles ins Rollen brachte, und danach sah die Welt nicht mehr so aus wie vorher, in dem kleinen Cafe am Rande der großen Stadt, zumindest, was die Literatur betraf.
„Donnerwetter“, hatte ein Teilnehmer der Buchvorstellung, beeindruckt durch die eloquente, raumgreifende Darstellung der Bibliothekarin, sein Erstaunen bekundet, „da müssen Sie aber über einen enormen Bücherbestand verfügen, daheim, nachdem, was wir so alles in dieser kurzen Zeit von Ihnen erfahren konnten. Haben Sie denn da überhaupt noch Platz für weitere Bücher, in Ihren Regalen?“
„Aber nein“, lächelte die Dame listig, „Sie werden es vielleicht nicht für möglich halten, aber zu hause, da habe ich nur ein Buch, und das ist die Bibel.“

Diese Antwort schlug ein wie eine Bombe, bei den Anwesenden. Keiner wagte es zu atmen, nicht einmal die beiden Inhaberinnen des Cafes.
Eine Bibliothekarin, die ein ganzes Berufsleben, wenn nicht gar mehr, mit Büchern verbracht hatte, besaß nur ein einziges Buch, und tat das in einer nicht zu überbietenden Offenheit öffentlich kund! Sie besaß nur dieses eine Buch; ein Buch, das bei nicht wenige Zeitgenossen nie und nimmer den Weg ins Regal fände, zumindest würden sie dies behaupten.
Die meisten Teilnehmer der Buchpräsentation waren derart erschüttert, von diesem unerwarteten Geständnis der Bibliothekarin, dass sie, nachdem sie ihre Atmung wiederaufgenommen hatten, überstürzt das Lokal verließen und nach hause eilten. Manche von ihnen, so hieß es später, weinten die halbe Nacht.

Die halbe Nacht hatte auch der Lebensgefährte von Rebecca Gnim zu tun, diese zu beruhigen, doch sie weinte nicht, sondern war einfach nur wütend.
„Heißt es nicht, ein gutes Buch soll man besitzen“, zitierte sie aufgebracht, „und diese Dame, die uns Bücher nahebringen will, besitzt nicht mal eines.“
„Doch, eines besitzt sie ja, sei nicht ungerecht, Rebecca.“
„Das ist für mich kein Buch!“

In der zweiten Nachthälfte aber ließ Rebeccas Wut nach und mutierte zu Mitleid.
„Eigentlich kann die Frau einem ja Leid tun, meinst du nicht auch. Eine Frau, zeit ihres Berufslebens umgeben von Büchern, findet nicht den Weg, sich privat welche zuzulegen, das ist irgendwie tragisch.“
„Da magst du Recht haben, Rebecca. Vielleicht hat sie einfach noch nicht das richtige Buch gefunden, eines, das sie sich als erstes respektive als zweites, nach der Bibel, ins Regal stellen mag, vielleicht hat sie schlicht und einfach noch nicht den richtigen Anfang gefunden.“
Rebeccas Augen nahmen plötzlich einen merkwürdigen Glanz an.
„Dann sollten wir ihr helfen, bei diesem Anfang, meinst du nicht auch? Wäre das nicht ein gutes Werk?“
„In der Tat, Schatz, das wäre es. Komm, lass uns schlafen.“
Rebecca aber lag noch eine Weile wach.
Nach und nach ergriff eine Idee von ihr Besitz, und zuerst aus weiter Ferne, dann immer näher kommend, gewahrte sie eine Möglichkeit, aus einer beruflichen Bücherverwalterin eine private Büchernärrin zu machen; dafür war es noch nicht zu spät.
Sehr früh am nächsten Morgen weckte sie ihren Lebensgefährten.
„Ich habe da ‚nen Einfall.“
Ausführlich erläuterte sie ihm den Plan.
Seine Augen nahmen einen merkwürdigen Glanz an, den gleichen merkwürdigen Glanz wie in Rebeccas Augen, in der Nacht zuvor.
„Bist du sicher, dass das klappen wird?“
„Absolut.“


Noch am gleichen Tage rief Rebecca die Bibliothekarin an und bedankte sich überschwänglich für die gelungene Buchpräsentation.
Die Dame zeigte sich mehr als verwundert.
„Da bin ich aber sehr überrascht, muss ich Ihnen sagen, allerdings auch erfreut. Das hätte ich nicht mehr erwartet, nachdem gestern alle auf einmal so schnell abgehauen sind, Sie übrigens auch, meine Liebe.“
„Das war die Freude über die unglaublich schöne Art und Weise Ihrer Präsentation“, log Rebecca, „ich konnte nicht mehr an mich halten, diese Freude musste raus, und ich auch, alles musste raus, sich Luft verschaffen. Den anderen Teilnehmern erging es bestimmt ebenso. Ach, wie gerne wären wir noch geblieben, auf ein Stündchen, zum Plaudern. Aber was gestern nicht war, kann morgen ja nachgeholt werden. Wir sollten uns unbedingt noch einmal treffen. Wie wär’s bei Ihnen, bei mir geht’s zur Zeit leider nicht, ich habe die Handwerker im Haus.“

Die vollkommen überraschte Bibliothekarin lud nicht nur Rebecca mit ihrem Lebensgefährten, sondern gleich sechs weitere Mitglieder aus Rebeccas Lesezirkel, die am Vortage an der Präsentation teilgenommen hatten, zu sich nach hause ein. Hierbei wollte sie sich noch einmal ausführlich bedanken, für die einmalige Gelegenheit, die man ihr alten Bücherschachtel, wie sie sich ausdrückte, in dem Kulturcafe gegeben hatte.

Drei Wochen später an einem Samstag zur Kaffeezeit, fand sich Rebecca Gniem mit weiteren sieben Geladenen bei der Bibliothekarin ein, ein jeder bewaffnet mit einem mittelgroßen Karton voller Bücher, als Gastgeschenke.
„Auf dass die Regale der armen Frau gefüllt werden“, flüsterte Rebecca mit verschwörerischer Miene.
„Auf geht’s!“


Maßlos erstaunt aber zeigten sich die Besucher, als sie einige Minuten später vor prall gefüllten Bücherregalen standen, in der Wohnung der Bibliothekarin.
„Sagten Sie nicht“, zeigte Rebecca sich irritiert, „Sie hätten keine Bücher zuhause, nur die Bibel?“

Ein wenig verschämt antwortete die Gastgeberin.
„Na, ja, das stimmte ja auch, aber ich habe mir das durch den Kopf gehen lassen, direkt nach der Bücherpräsentation, und da kam mir ein Gedanke. Ich muss schon zugeben, für eine Bibliothekarin, die ein halbes Leben mit Büchern verbracht hat, mutet es schon ein wenig merkwürdig an, so viele Regale in der Wohnung, und nur ein Buch darin, finden Sie nicht auch?“
Das fanden die Besucher in der Tat, enthielten sich aber jeglichen Kommentars.


„Dürfen wir mal einen Blick in Ihre Bibliothek werfen?“ fragten die Gäste. „So viele neue Bücher.“
„Aber natürlich.“
Mit ungezügelter Neugierde traten die Besucher an die Bücherregale.
„Da ist sie ja, die geschätzte Bibel“, rief Rebecca Gnim.
„Ich habe hier auch eine“, zeigte sich Rebeccas Lebensgefährte überrascht.
„Ich auch.“

Wie groß die Freude war, als alle acht Besucher plötzlich jeweils eine Bibel in der Hand hielten, lässt sich kaum zu schildern.
„Aber das sind ja alles Bibeln“, flüsterte Rebecca mit matter Stimme, „entschuldigen Sie, ich muss mich setzen, haben Sie vielleicht einen Cognac für mich.“

Die Gastgeberin strahlte vor Glück.
„In der Tat, das sind alles Bibeln, in allen Sprachen der Erde, es sind sogar zahlreiche Dialekte dabei. Ich kann mich gar nicht satt sehen, daran…“
 



 
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