Die Dachshöhle III

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HFleiss

Gast
Die Dachshöhle III


Es war Anfang Juli, die Tage waren schwül, es war Hochsommerwetter, in Berlin zogen die Leute in grotesken Verkleidungen und Bemalungen in Schwarz-Rot-Geil, wie die Boulevardpresse die Nationalfarben neuerdings bezeichneten, zur Fanmeile auf der Straße des 17. Juni, die deutsche Mannschaft hatte das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft erkämpft.

Die Zeitung vor mir auf dem Tisch bejubelte den angeblichen Patriotismus der Deutschen, kam aber nicht umhin, sich auf den letzten zwei Seiten um den Rest der Welt zu kümmern. Ich schlug das Blatt zu. In diesem Moment fiel mein Blick auf eine kleine Meldung. Ein Mann, der dreiundfünfzigjährige Holger R. aus B., habe wegen Schulden, die Bank drohte das neuerbaute Haus zu versteigern, erst seiner Frau und dann sich selbst das Leben genommen.
Holger R.? Aus B.? Holger Reinhardt aus B., mein früherer Kollege, damals, in der DDR?

Ich hängte mich ans Telefon und rief Annika an, meine gute Freundin. Sie kannte Holger, wir hatten gemeinsam in der Redaktion gearbeitet. Ob sie schon die Zeitung gelesen habe? Ja, habe sie, na und ob. Ob ich das mit Holger meine? Sei das nicht tragisch? Erst seine Frau, die Erika, so eine liebe Frau, und dann sich selbst, ungeheuerlich, nicht vorstellbar. Ob ich mir das damals, in der DDR, habe vorstellen können? So ein gestandener Mann, und dann sowas.

Nein, sich damals in der Redaktion vorzustellen, dass Holger einmal auf diese Weise gehen würde, nein, undenkbar. Holger war einer von den Redakteuren gewesen, die ich gemocht hatte. Holger hatte bei mir, ich war Redaktionssekretärin, immer Vorrang, wenn er mit einem Manuskript kam, zur Reinschrift, und die anderen Redaktionsmitarbeiter akzeptierten das. Nur der Chef rangierte noch vor ihm. Weshalb ich Holger so mochte, hätte ich nicht genau sagen können, vielleicht waren wir uns schlicht sympathisch. Er war einer von denen, die sich durchaus die Köpfe heiß reden konnten, und wenn die Diskussion kurz vor der Explosion stand und ins Persönliche umzuschlagen drohte, war er mit einem Mal ganz beherrscht und konnte mit wenigen Sätzen nicht nur die Gemüter beruhigen, sondern uns das Problem, um das wir stritten, sezieren und uns so auf den Vernunftweg zurückführen. Und meist präsentierte er uns dann mit seiner Logik die Lösung. Er war ein Kopf, eine richtige Denkmaschine, ein Aas, sagte Annika, schade um ihn, und es schwang etwas mit, das ich an Annika schon kannte, ein bisschen Heldenverehrung. „Du hast dich gar nicht verändert“, lästerte ich mit Herrn Keuner und legte auf.

Also doch Holger Reinhardt, mein Holger. Es hatte sich herumgesprochen. Annika wusste immer als erste alles, sogar das, was noch gar nicht geschehen war, eine Klatschtante, liebenswert, aber nichts war vor ihrer spitzen Zunge sicher. Ich hatte Holger vor ein paar Jahren auf der Straße getroffen, in der Friedrichstraße. Damals war das Haus gerade fertig gewesen. Er hatte mich eingeladen, zu sich und Erika, nach B., aufs Dorf, und ich war an einem Spätherbsttag hingefahren. Es war gut, dass ich es Annika verschwiegen hatte, sie hätte mich ausgefragt, bis sie sich sogar Erikas Besenkammer hätte vorstellen können, und dann von ihrer eigenen Arbeitslosigkeit geredet, und dass eben die einen immer Glück haben und die anderen in die Röhre gucken müssten. Ihr Geschwätz hätte mich gestört, heute, wo ich von Holgers schrecklichem Ende erfahren hatte.

Damals, bei meinem Besuch, hatte ich es bereits geahnt. Es konnte nicht gutgehen. Er hatte alle Rücklagen ins neue Haus gesteckt und jetzt nur noch das, was er in seinem Job verdiente. Damals hatte er als Fernfahrer bei einer großen bekannten Handelsfirma gearbeitet, war selten zu Hause, Erika musste er oft sich selbst überlassen. Wir hatten uns in der Redaktion immer ein bisschen darüber amüsiert, weil die beiden so unterschiedlich waren, wie wir es uns kaum vorstellen konnten. Erika war Friseuse gewesen, jetzt, bei meinem Besuch, saß sie arbeitslos zu Hause herum und kümmerte sich nur noch um Haus und Garten, ihre ganze Liebe steckte sie hinein in diese leblosen Dinge. Stolz führte sie mich an die Beete mit Holgers Rosen, achtete besorgt darauf, dass ich meinen Fuß nicht zu sehr an den Rand des Weges setzte, auf den prächtig grünen Rasen, führte mich hinters Haus, wo sie Gemüse gepflanzt hatten und am Gartenzaun Johannisbeersträucher. Sofort nach der Begrüßung hatte sie mich überredet, bei ihnen zu übernachten, sie hätten jetzt Raum genug für nicht nur einen Gast. Sie zeigte mir jedes Zimmer des Hauses, wies auf das Parkett hin, auf die blitzenden Armaturen im Bad, plapperte dies und jenes, irgendwann hörte ich schon gar nicht mehr hin. Wie immer, seit ich sie kannte, tat sie mir leid. Am meisten aber Holger. Wie konnte er mit dieser Frau glücklich sein? Bei seinem Intelligenzquotienten? Aber, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, sagte ich mir, unsere Schulweisheit und unsere eigene Lebenserfahrung reichen eben nicht aus, um die Dinge zwischen Mann und Frau erklären zu können.

Abends saßen wir dann zusammen in dem viel zu großen Wohnzimmer mit der Terrasse vor der Fensterreihe. Erika war ganz bemühte Hausfrau, sie bewirtete ihren Gast, mich, Holgers Gast aus Zeiten, als er noch etwas darstellte, sie strengte sich an zu präsentieren. Holger kniff genießerisch die Augen zu, als sie abends um zehn den Rinderbraten servierte, lobte seine Frau über den grünen Klee und griff beherzt zu, er wollte sie nicht enttäuschen. Er liebte sie, noch immer, es war nicht zu übersehen. Und doch, ich war befremdet. Das vor mir ausgebreitete Glück hatte etwas Spießiges, etwas, um das ich die beiden nicht beneidete. Der Rasen fiel mir ein, die Rosen, die Johannisbeersträucher. Ich war erstaunt, sogar ein bisschen entsetzt, damals, in der Redaktion, hätte ich mir Holgers spießige Seite kaum vorstellen können. Es war alles so normal, zu normal, es beschädigte das Bild, das ich bis dahin von Holger hatte. Nicht nur, dass er älter geworden war, vielleicht war es auch, dass er in die Breite gegangen war, er hatte etwas bekommen, was mein Sohn als prollig bezeichnet hätte, eine bestimmte, nur aufs Wesentliche beschränkte Rede, sehr am Boden haftend, ich vermisste seinen Humor, ja mir schien es, als habe sich seine Stirn verdunkelt. Lag es an mir? Hatte ich diese Seite an Holger damals nur nicht bemerkt?

Nach dem Essen tischte Erika Burgunder auf. Erika nippt nur am Glas, aber Holger wurde munterer, und ich glaubte schon, den alten Holger wieder spüren zu können. Aber dann begann er von seinen Sorgen zu reden, dem Ärger dem Grundstücksnachbarn, der jeden zweiten Abend grillte, so dass der Rauch ins Haus zog, und dass er überlegte, vor Gericht zu gehen. „Die neue Freiheit“, tadelte er streng. „Früher hätte ich ihm den ABV herumgeschickt, und dann wäre Schluss gewesen mit der Grillerei, glaub mir. Nicht mit unserer Dachshöhle, die lassen wir uns nicht beschädigen.“ Ich erschrak. „Dachshöhle? Wie meinst du das?“ Holger sah mich einen Moment an. Dann winkte er ab. „Nu eben“, sagte er, „Dachshöhle. Was ist dabei, wenn ich unserem Heim einen Spitznamen gebe?“ Und so, was mache er sonst so, fragte ich, um ihn von diesem Thema abzubringen, engagiere er sich irgendwo im Ort, sei er noch in der Partei? Doch nicht in dieser, wies er mich zurecht, mit der habe er gleich neunundachtzig Schluss gemacht, ein Häufchen Looser, zu denen gehöre er doch nicht! Ihm reiche es, dass ihn, wenn er spätabends nach Hause komme, eine liebende Frau erwarte - hier legte er den Arm um Erika und drückte sein Gesicht an ihre Wange -, und die Politik solle ihm gestohlen bleiben, fürs ganze Leben. Und das reiche ihm? Wirklich? Ihm, einen Menschen, dessen Welt einst die Politik war? Warum nicht, anderen reiche das doch auch! Ich schwieg, was konnte ich darauf auch antworten, ohne ihn zu verärgern. Und falls, was ich nicht hoffen wolle, wagte ich einzuwenden, dieses ganze Glück einmal wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würde, nämlich dann, wenn er seine Arbeit verlieren würde – wie wolle er dann leben? „Sieh doch nicht immer alles so schwarz, dreimal Holz“, sagte er und klopfte auf den Tisch, „das wird niemals passieren.“

Nun war es passiert. Ich las es schwarz auf weiß. Nein, Holgers und Erikas Tragödie hatte mich nicht wirklich überrascht. Irgendwas hatte ich damals gespürt, was mir ungesund vorgekommen war, und ich wusste plötzlich: Es war Angst gewesen, als er das sagte, das von seiner Dachshöhle. Echte, tiefgefühlte Lebensangst. Warum hatte ich das nicht gleich gespürt?

(2006)
 



 
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