Die Darwins im Himmel

Rainer Lieser

Mitglied
Die Darwins im Himmel

Charles und Emma Darwin wohnten seit ihrem Tod in dem kleinen Häuschen abseits des Stadtzentrums. Der Verfasser der Evolutionstheorie genoss unter den Engeln kein allzu hohes Ansehen, immer noch trugen ihm viele seine ablehnende Haltung gegenüber dem Schöpfer nach, die Darwin zu Lebzeiten vertreten hatte. Wäre es nach diesen Engeln gegangen, hätten Darwin und seine Frau keinen Zugang nach Himmelsstadt erhalten. Der Schöpfer jedoch hatte diesbezüglich eine andere Meinung vertreten, so wie er das in vielerlei Hinsicht tat. Auf ihn war es denn auch zurück zu führen, dass es nur einen Supermarkt in Himmelsstadt gab. Einen Supermarkt der nur einmal in der Woche geöffnet hatte.

»Schatz, du wirst heute wohl allein einkaufen gehen müssen. Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen.« Sagte Charles mit betont wehleidiger Stimme.
Für Emma war das nichts Neues. Charles versuchte sich stets vor dem Einkauf zu drücken. Ihr Mitleid für seine angeblichen Schmerzen hielt sich deshalb in Grenzen. »Sie zeigen dort das neue Rasterelektronenmikroskop. Wolltest du dir das nicht unbedingt ansehen?«
»Was – das wird heute schon vorgestellt?« Fragte Charles überrascht.
»In dem Werbeblatt von heute morgen stand, dass sie den Termin vorverlegt haben. Hast du das nicht gelesen?«
Seit Monaten verschlang Charles Darwin alle Informationen über das neue Rasterelektronenmikroskop. Damit wäre es ihm erstmals seit langer Zeit wieder vergönnt die Erde sehen und beobachten zu können. Ein verlockender Gedanke. Schließlich gab es hier in Himmelsstadt nichts für sein Forscherherz zu erkunden. In letzter Konsequenz stand hinter allem IMMER der Schöpfer. Mit dem Blick zurück auf die Erde aber würde womöglich die Sehnsucht von Charles nach der eigenen Unwissenheit zumindest ein klein wenig gestillt werden können. Deshalb war sein Interesse an dem Rasterelektronenmikroskop so groß. Konnte er also tatsächlich die Terminänderung übersehen haben. Eigentlich undenkbar. Andererseits hatte er sich bei der Evolutionstheorie ebenfalls geirrt, wie er heute wusste.

Die Warteschlange vor der einzigen geöffneten Kasse war unermesslich lang. Irgendwo im letzten Drittel befanden sich die Darwins.
Eine Vorführung des neuen Rasterelektronenmikroskops hatte es nicht gegeben. Schuld an dem Missverständnis sei bestimmt ein Druckfehler gewesen, hatte Emma daraufhin beteuert. Charles zog allerdings auch in Betracht, dass er womöglich wieder einmal von seiner Frau an der Nase herumgeführt worden war. Denn niemand in der Technikabteilung hatte etwas von einem vorverlegten Termin gewusst.

Eine junge Engelsdame drehte sich nach Charles um.
»Ich muss Pipi. Könnten sie bitte meinen Platz freihalten? Hey, Moment mal. Sind sie nicht dieser Darwin, der die Existenz unseres Schöpfers angezweifelt hat?«
Exakt um sich derartige Szenen zu ersparen, überliess Charles den Einkauf vorzugsweise Emma allein. Während er seine Frau vorwurfsvoll ansah, entschwand die Engelsdame ohne ein weiteres Wort.
»Wenn du nicht dabei bist, trifft mich der Spott allein. DIE wissen das ich deine Frau bin.« Hielt ihm Emma entgegen.
Für diese Haltung konnte Charles nur wenig Verständnis aufbringen. Er wollte gerade etwas sagen, als ihm ein elektrisierender Schmerz in die Hacken fuhr.
»Aufschließen. Los!« Raunzte ihn eine Stimme an. »Wird es bald!«
Charles wendete den Kopf und sah wie ihn eine kleine dickliche ältere Engelsdame mit ihrem Einkaufswagen erneut zu rammen versuchte. Offensichtlich erwartete die Dame von ihm, dass er die gerade entstandene Lücke rasch auffüllte. Ein Vorhaben welches Darwin mit seinem Verständnis für Ordnung und Anstand nicht in Einklang zu bringen vermochte. Stoisch blieb er stehen. Unmittelbar vor dem Zusammenstoss machte die Engelsdame eine schnelle Drehung mit dem Handgelenk und setzte damit zu einem überraschenden Überholmanöver an. »Hey, Moment mal. Sind sie nicht dieser Darwin, der die Existenz unseres Schöpfers angezweifelt hat?« Sie hielt kurz inne.
Augenblicklich schnellte der Arm von Emma Darwin vor und packte den Einkaufswagen der fremden Engelsdame.
»Sie bleiben schön hinter meinem Mann stehen – und ja, das ist Charles Darwin und ich bin seine Frau Emma!«
»Wusste ich es doch! Na an ihrer Stelle, würde ich mich hier ja nicht so aufspielen. Sie sollten froh sein, dass man Schöpferleugner hier überhaupt rein lässt.«
»Wie erlauben sie sich mit uns zu reden!«
»Mein Name ist Eva Plombip und ich erlaube mir mit ihnen zu reden, wie ich es für angemessen halte!« Sprach Frau Plombip, griff zu der Tüte frisch gebackener Vollkornbrötchen in ihrem Wagen und schlug damit auf den Arm von Emma Darwin ein. Wieder und immer wieder.
Emma legte ihre zweite Hand an den Einkaufswagen von Frau Plombip.
Rasend vor Wut fielen der älteren Engelsdame erst ein paar Federn aus den Flügeln, danach erhöhte sie trotzig die Taktzahl und Härte ihrer Schläge. Abwechselnd drosch Frau Plombip nun auf den einen, dann auf den anderen Arm von Emma ein. Parallel dazu schob die Engelsdame mit ihrer zweiten Hand den Einkaufswagen unablässig vor und zurück und malträtierte dadurch weiterhin die Waden von Charles.
»Ich werde es ihnen beiden schon zeigen. Sie haben ja wohl vor nichts und niemandem mehr Respekt. Unserem Schöpfer ist das vielleicht gleichgültig. Mir aber nicht!«
Nun riss Charles der Geduldsfaden. Er drehte sich um und stellte seinen linken Fuß auf den unteren Metallrahmen des Einkaufswagens von Frau Plombip, so das der Wagen nicht mehr bewegt werden konnte. Danach ergriff er die Hand mit der Tüte Vollkornbrötchen, um den Schlägen auf seine Frau Einhalt zu gebieten.
Auf der Stirn von Frau Plombip traten die Adern hervor. Sie nahm die Hand vom Schiebegriff und packte eine große Tube Tomatenketchup aus ihrem Einkaufswagen, biss von der Tube den Schraubverschluss ab und spritzte den Darwins den Tubeninhalt ins Gesicht. Sofort liessen die beiden von Frau Plombip und ihrem Einkaufswagen ab.
Lediglich der Fuß von Charles hinderte Eva Plombip nun noch daran, ihr Überholmanöver fortzusetzen. Sie nahm alle Kraft zusammen, zog den Schiebegriff an sich, machte mit dem Handgelenk abermals eine schnelle Drehung und schoss nach vorne weg. Der Fuß von Charles glitt vom Metallrahmen ab. Frau Plombip hatte freie Bahn. Emma Darwins Lippen formten ein stummes Schimpfwort.

Kaum hatte Frau Plombip ihren neuen Platz eingenommen, bewegte sie sich innerhalb der Wartereihe in kleinen Schritten rückwärts. Charles sah seine Frau verständnislos an. Emma gab ihrem Mann durch eine entsprechende Geste zu verstehen, dass er des lieben Frieden willens eine neuerliche Auseinandersetzung mit der zänkischen Engelsdame unter allen Umständen vermeiden sollte. Also liess sich Charles zurückdrängen, bis die hinter ihm entstandene Lücke geschlossen war. »Weiter geht es nicht. Der nächste Einkaufswagen, bohrt sich mir schon in den Rücken.« Rief er Frau Plombip entgegen.
»So …« kam es Charles mit einem leicht süffisanten Hüsteln entgegen »… dann hat ja jetzt alles wieder seine Ordnung.«

Wenig später kam die junge Engelsdame zurück, deren Platz Charles vergeblich versucht hatte frei zu halten. Er wollte sich gerade bei ihr für sein Versagen entschuldigen, als er hörte, wie sie Frau Plombip ansprach. »Nanu Tante, was ist denn hier geschehen … vorhin hast du doch noch hinter diesem Paar gestanden?«
»Mach dir keine Gedanken mein Kind, das hat schon alles seine Richtigkeit. Du kannst dich vor mir einordnen.« Antwortete Frau Plombip in unüberhörbarer Lautstärke, ihren Triumph sichtlich auskostend.

»Entschuldigen sie bitte.« Trat eine leise Stimme an die Darwins heran. »Ich kam nicht umhin, die unschöne Auseinandersetzung zwischen ihnen und der Dame dort vorne mit an zu hören.«
Emma und Charles drehten sich um. Dort stand ein riesiger Engel in weissem Gewand.
»Guten Tag, mein Name ist Jonas Grünlaub. Zu Lebzeiten war ich Realschullehrer. Wenn ich recht gehört habe, sind sie die Darwins? DIE Darwins?«
Emma und Charles nickten.
»Es ist mir eine große Ehre sie hier kennen zu lernen.« Fuhr Herr Grünlaub fort. Dann flüsterte er der Frau neben sich zu »Du Hildegard, sieh nur. Vor uns stehen DIE Darwins.« Anschließend richtete der brave Mann das Wort wieder an Emma und Charles. »Darf ich ihnen meine Frau Hildegard Grünlaub vorstellen?«
»Sehr erfreut.« Erwiderten die beiden.
»Ich bin ein großer Verehrer von Ihnen.« Sagte Jonas und erhob seine Stimme ein wenig. »Es betrübt mich sehr, dass Freidenkern wie ihnen hier oftmals nicht der gebührende Respekt gezollt wird.«
»Ja, ich musste Szenen wie die gerade eben vorgefallene bereits sehr oft erleben – und wenn mein Mann mich beim Einkauf begleitet, was zwar nicht häufig, aber wenigstens ab und zu vorkommt, dann versuchen wir uns so gut es eben geht beizustehen.« Diesen kleinen Seitenhieb auf Charles konnte sich Emma an dieser Stelle einfach nicht verkneifen. »Umso mehr erfreut es mich und ihn, Engel wie sie kennen zu lernen.«
»Nun da wir uns einander gegenseitige Wertschätzung ausgesprochen haben« sagte Jonas Grünlaub in donnerndem Ton »sehe ich es als meine oberste Pflicht an, für ihr Ansehen zu streiten.«
»Was meint er denn damit?« wandte sich Emma an Hildegard.
»Ich ahne schlimmes.« Antwortete Hildegard besorgt.

Herr Grünlaub baute sich in voller Größe vor der kleinen Frau Plombip auf.
»Gnädige Frau, ich bitte sie umgehend sich bei Herrn Charles Darwin und dessen Frau Emma zu entschuldigen. Das Verhalten welches sie gegenüber den beiden gezeigt haben, war eines Engels mehr als unwürdig.«
Eva Plombip sah Herrn Grünlaub mit starrer Miene an. Dann erwiderte sie kalt »Niemals!«
»Ist das ihr letztes Wort?«
Frau Plombip würdigte ihn keines weiteren Blicks.
»Nun gut.«
Jonas Grünlaub drehte sich um, entblösste sein Hinterteil und streckte es der älteren Engelsdame demonstrativ entgegen. Frau Plombips Nichte schrie »Tante guck!«, woraufhin Frau Plombip nun doch einen weiteren Blick auf Herrn Grünlaub warf. Anschließend verdeckte sie blitzschnell die Augen ihrer Nichte und gab Jonas Grünlaub einen gehörigen Tritt in dessen Allerwertesten. Das konnte Hildegard Grünlaub natürlich unmöglich einfach so hinnehmen. Sie sprang vor und versetzte Frau Plombig mehrere schallende Ohrfeigen. Was wiederum einen anderen Engel dazu veranlasste einzuschreiten. Er packte Hildegard und zerrte sie weg von der älteren Engelsdame. Zwischenzeitlich hatte sich Jonas Grünlaub wieder erhoben und eilte jetzt seiner Frau zu Hilfe. Frau Plombig nahm die Hand aus dem Gesicht ihrer Nichte. Herr Grünlaub ergriff die Flügel des fremden Engels der immer noch Hildegard festhielt. Zwischen den beiden Engelsmännern kam es zu einem Handgemenge. Frau Plombig und ihre Nichte griffen nun ebenfalls ein und schlugen sich auf die Seite des Fremden. Da konnten auch Emma und Charles nicht länger beiseite stehen. Weitere Engel folgten. Binnen kürzester Zeit tobte eine wüste Schlägerei, in die alle im Supermarkt anwesenden Engel einbezogen waren – selbst der Engel von der Kasse. Verpackungen flogen durch den Raum, Regale wurden umgestossen. Der Lärm und das Geschrei war ohrenbetäubend.

Das blieb dem Schöpfer nicht verborgen. Er sah sich gezwungen einzugreifen. Gewaltige Wassermassen stürzten auf die Streithähne hinab – und langsam kühlten sich die erhitzten Gemüter wieder ab. Dann erschien der Schöpfer höchstpersönlich und gebot allen noch anhaltenden Unruhen durch seinen wütenden Blick Einhalt. Er erhob die Stimme.
»Ein Ort des immer währenden Friedens und der Eintracht sollte Himmelsstadt sein, so war es dereinst von mir erdacht. Auf die Toleranz und den gegenseitigen Respekt unter euch Engeln hatte ich dabei vertraut. Tugenden die ihr durch eure Zeit auf Erden erlernen solltet, auf das ihr sie in Himmelsstadt zum Wohle der Gemeinschaft einbringt. Doch wie ich hier und heute erfahren muss, haben nicht alle von euch diese Lehre in ausreichendem Masse erfahren. Jene Unbelehrten sende ich nun sogleich erneut auf Erden, auf das sie versäumtes nachholen mögen. Zu lange schon habe ich dies aufgeschoben – zu lange schon wurde mein Vertrauen in euch mit Füssen getreten. Hinfort mit euch!«

Im gleichen Augenblick gab es auf Erden eine regelrechte Geburten Schwemme. Selbst den Frauen die gar nicht schwanger gewesen waren, fielen nicht selten Zwillinge aus dem Schoß.

Und hoch oben in Himmelsstadt hielten jetzt wieder Glück und Zufriedenheit Einzug. So gab es für die Darwins keinen Grund mehr sich von den anderen Engeln fern zu halten. Sie verliessen ihr altes Häuschen und nahmen sich ein Neues nahe dem Stadtzentrum. Auch musste Emma nie wieder alleine einkaufen, sondern wurde stets von Charles begleitet.

Zuletzt sei noch folgendes erwähnt: Das Forscherherz von Charles fand große Freude daran zusammen mit Emma die anderen Engel von Himmelsstadt kennen zu lernen. Als das Rasterelektronenmikroskop dann tatsächlich irgendwann doch noch auf den Markt kam, hatte Charles keinen Bedarf mehr daran.
 



 
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