Die Dinge

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ralfisch

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Die Dinge. Man ist oft nicht da, wenn sie beginnen, oder man ist sich des Anfangs zumindest nicht bewusst. So kann man etwa an einem Sonntag im Januar auf einer Couch sitzen, den Moment umarmen, und ahnt nicht, dass in eben diesem Moment das eigene Leben einen völlig neue Richtung einschlägt. Nicht, dass nichts mehr so sein wird, wie es vorher war. Aber viele Dinge, die waren, werden nicht mehr sein. Und viele Dinge, die vorher nicht waren, werden sich entwickeln. Die Dinge sind fähig, die Struktur der Zeit aufzulösen, die Begrenztheit von Tellerrändern zu verschieben und die Relationen neu zu sortieren. Die Dinge können ein ganzes Leben ändern, die ganze Welt, einen ganzen Menschen. Und doch ist man oft nicht da, wenn sie beginnen.

Die Dinge

Der kleine Junge war da, als die Dinge begannen. Und er fühlte, dass etwas begonnen hatte, nur wusste er nicht genau, was es war. Zwei Stunden zuvor hatte er ein Murmeltier vor dem Ertrinken gerettet, ein Vorfall, der jenem Tag bereits einen Hauch des Exzeptionellen, der Überdurchschnittlichkeit verlieh. Und selbst wenn sich nach seiner mutigen Rettungsaktion kein Staubkorn mehr bewegt hätte, so wäre der kleine Junge doch sehr zufrieden gewesen mit dem Tag, nicht zuletzt, da ihm einige Wochen Sommerferien folgten. Doch dann begannen eben die Dinge. Und wirbelten ziemlich viel Staub auf.

Es begann zu regnen, als der kleine Junge auf seinem roten Fahrrad nach Hause fuhr, nachdem er wie an jedem Sonntag seiner Grossmutter im Nachbarsdorf einen Besuch abgestattet und dabei viel zu viele Zartbitterschokoladenkekse gegessen hatte. Auch wenn er über keinerlei meteorologische Fachkenntnisse verfügte, schien der Regen dem kleinen Jungen etwas fehl am Platz, da sich am ganzen Himmel nur einige Wattewolken zeigten. Noch seltsamer war die Tatsache, dass sich der Niederschlag nur an jener Stelle offenbarte, an welcher sich der kleine Junge gerade befand; er begleitete ihn offenbar auf seinem Weg. Wenn er sein Fahrrad beschleunigte, kamen die Tropfen mit, und wenn er abrupt bremste, blieb auch der Regen stehen. Der kleine Junge holte seinen Notizblock aus dem Rucksack, zeichnete ein grosses Fragezeichen auf eine leere Seite und hielt es dem Himmel entgegen. Natürlich wusste er, dass er nicht auf eine Antwort warten musste, da die Wesen im Himmel offenbar nicht reden konnten, aber irgendwie war es ihm wichtig, seine Ratlosigkeit zu manifestieren. Selbst mit einer blumenblühenden Phantasie hätte man sich keine Erklärung für den Niederschlag zusammenbasteln können; es gab wirklich keinen ersichtlichen Grund, dass da Regen vom Himmel fiel.

«Es gibt wirklich keinen ersichtlichen Grund, dass da Regen vom Himmel fällt.» Der kleine Junge war zuerst ein wenig erschrocken, dass er seine Gedanken so klar und deutlich hören konnte. Und er war auch ziemlich verwirrt, dass seine Gedanken offenbar eine Mädchenstimme hatten.
«Damit es regnen kann, braucht es Wolken.» Dieser Satz war dem kleinen Jungen nicht in dieser Form durch den Kopf gegangen, und diese Tatsache liess ihn kurz an seiner geistigen Gesundheit zweifeln. Doch dann erblickte er es. Das Wesen, das offenbar seine Gedanken teilte. Es war ein Mädchen, ein kleines Mädchen, noch ein wenig kleiner als der kleine Junge. Und während viele Sexualforscher kleinen Jungen unterstellen, dass sie in der Kindheit die eigene Mutter als schönste Frau im Universum empfinden, so musste der kleine Junge den Herren Freud und Konsorten in diesem Moment ein grosses Nein auf die Notizblöcke schreiben. Dieses Mädchen war schöner als Morgentau, der auf Herbstlaub liegend in der Sonne glitzert, schöner als ein dick mit Nutella bestrichenes Weissbrot, schöner als die Reflektionen auf einem Libellenflügel und ganz bestimmt schöner als seine Mutter.
Und eigentlich hätte der kleine Junge dies dem kleinen Mädchen auch gern gesagt, hätte sie mit dem Geschmack seines Lieblingskaugummis verglichen oder mit dem Klang, der ertönt, wenn die Sonne in einem See versinkt, doch er wusste, dass man manche Dinge für sich behalten muss, vor allem in Kontakt mit kleinen Mädchen.
«Ich weiss.»
Etwas mehr Emotionalität hätte wohl doch nicht geschadet, dachte der kleine Junge und biss sich auf die Unterlippe. Und vielleicht würde er irgendwann noch lernen, im richtigen Moment die richtigen Worte zu finden, doch dieses Irgendwann war nicht jetzt, und er befürchtete, sich mit seiner unbedachten Äusserung bereits ins Abseits manövriert zu haben.
«Ich glaube, der Himmel hat was gegen dich», meinte das kleine Mädchen.
«Glaube ich auch», gab der kleine Junge hastig zurück und bemühte sich, möglichst schnell etwas möglichst Intelligentes zu sagen.
«Ich war wohl ein böser Junge.»
Sonderlich intelligent war das nicht, aber das kleine Mädchen fand es immerhin nicht so dumm, dass sie sich hätte abwenden müssen.
«Na, ich weiss ja nicht. Glaubst du denn, dass du ein böser Junge warst?»
«Hm. Wahrscheinlich ist auch der beste Junge manchmal ein böser Junge.»
«Hmmja», sagte das kleine Mädchen. Und sagte dann nichts mehr. Und auch dem kleinen Jungen fehlten die Worte. Er kramte in seinen Taschen, doch er fand keine weiteren Buchstaben mehr. So standen die beiden Kinder im hellen Licht eines unschuldigen Tages. Der kleine Junge im Regen, das kleine Mädchen unmittelbar daneben. In manchen Momenten kann ein Schweigen höchst unangenehm sein. Kann die grosse schöne Welt auf einen kleinen hässlichen Punkt auf den Boden verkleinern, kann die Zeit zu zähem Schleim verkommen lassen und tiefe Furchen in die Stirn treiben, die nie mehr verschwinden. Doch dies war kein solcher Moment. Es war kein solches Schweigen. Es war ein Schweigen, in dem alles gesagt wurde, was gesagt werden musste. Ein Schweigen, das die Beschränktheit der Sprache widerspiegelte. Ein Schweigen wie eine weiche Decke auf den Schultern. Einfach ein gutes Schweigen.

Die Dinge sind manchmal seltsam. Und manchmal sind sie auch schüchtern, irgendwie. Können nicht selbstbewusst auftreten, vermögen nicht mit fester Stimme zu sagen: «Hier bin ich.» Stattdessen schleichen sie sich an, zeigen sich kurz, blinzeln vielleicht um eine Ecke, und kaum hat man sie erblickt, nehmen sie die nicht vorhandenen Beine in die nicht vorhandenen Hände und verschwinden wieder in ihrem Versteck.
Das gute Schweigen etwa, jenes zwischen dem kleinen Mädchen und dem kleinen Jungen, es hätte Minuten, ja Stunden oder Jahrhunderte dauern können, und die Dinge hätten sich dabei wunderbar entfalten oder entpuppen können, Schicht um Schicht. Doch den Dingen waren nur wenige Sekunden vergönnt, bevor ein schriller Schrei das Schweigen zerstörte. Die Mutter des kleinen Jungen war wieder aufgewacht. Und zitierte ihn zu sich. Er senkte den Blick, zuckte mit den Schultern, schlackerte ein wenig mit den Knien, nickte dem kleinen Mädchen zu und ging mit seinem Regen im Schlepptau nach Hause. Es rief ihm etwas nach, aber die Worte gingen im Rauschen der Tropfen unter.

Die folgenden Tage hatten zwar allesamt verschiedene Namen, doch ansonsten glichen sie sich doch sehr. Sobald der kleine Junge das Haus verliess, setzte der Regen genau über seinem Kopf ein und begleitete ihn auf all seinen Wegen. Natürlich hätte er auch einfach zu Hause bleiben können, doch dort wurde er unaufhörlich genötigt, ein Bad zu nehmen, und da war ihm ein treuer Dauerregen irgendwie lieber.
Die Tatsache, dass sein Erscheinen stets auch Niederschlag brachte, liess die Popularität des kleinen Jungen bei anderen kleinen Jungen markant sinken. Zwar hatte er noch nie einen eminent grossen Freundeskreis, doch die Kinder, die seiner Gesellschaft bisher immerhin nicht ablehnend gegenüberstanden, mieden ihn immer mehr. Da war dieser eine Junge, Brutus mit Namen, der abgesehen von Zahlen keine wirklichen Wörter sprechen konnte und deshalb von Gleichaltrigen relativ grob verspottet wurde, was beim kleinen Jungen eine Art Beschützerinstinkt weckte und ihn ziemlich viel Zeit mit Brutus verbringen liess. Doch nun wendete sich sogar Brutus vom kleinen Jungen ab. Seine vorläufig letzten Worte waren siebzehn drei neun elf, was auch immer sie bedeuten mochten.
Fortan ging der kleine Junge in ausschliesslicher Begleitung von tausend Regentropfen durch die Welt. Zu Beginn, also etwa bis Freitag, bereiteten ihm die neuen Umstände grosse Mühe, und manchmal nahm er sogar einen Schirm mit auf seine ausgedehnter werdenden Spaziergänge. Doch schliesslich fand er sich immer besser mit seiner merkwürdigen Lage ab. Zwar freute er sich keineswegs darüber, ständig verregnet zu werden, doch ziemlich rasch stellte sich eine gewisse Gleichgültigkeit ein, die sich allmählich in ein Akzeptieren verwandelte.

Eine Woche, nachdem der Regen eingesetzt hatte, lächelte der kleine Junge zum ersten Mal wieder. Früher hatte sich sein Mund sehr oft auf diese doch sehr attraktive Art und Weise verbogen, eigentlich lächelte der kleine Junge permanent, abgesehen von Momenten, in denen er ein Bad nehmen musste. Der Regen war in dieser Hinsicht ein einschneidendes Ereignis und liess die Mundwinkel eine Zeit lang müde nach unten fallen. Doch dann kehrte das Lächeln zurück. Der kleine Junge war wieder auf dem Weg nach Hause, nachdem er seine Grossmutter im Nachbardorf besucht hatte, die ihn aber aus dem Haus gejagt hatte, da sie keine nassen Polstermöbel ertragen konnte.
Er bog auf seinem roten Fahrrad gerade in die Allee aus ganzjährigen Weihnachtsbäumen ein, an welcher er mit seinen Eltern und Haydn, dem gottlosen Kater, wohnte, als er es wieder sah. Jenes Wesen, das mit ihm eine Woche zuvor einige unbeschreibliche Sekunden des Schweigens geteilt und jenen Sonntag – trotz Beginn des Niederschlags – zu einer wunderbar schönen Zeiteinheit gemacht hatte. Zuerst wollte der kleine Junge seine ganze Schüchternheit und Angst in die Waagschale werfen und einfach weiterfahren, doch dann blockierten plötzlich die Räder seines Fahrrades, genau in jenem Augenblick, als es am kleinen Mädchen hätte vorbeifahren sollen. Nur zu gerne hätte er sich in diesem Moment in eine Plastiktüte, einen streunenden Hund oder ein Gesetzbuch verwandelt, doch er blieb einfach er selbst. Ein kleiner Junge im Regen.
Natürlich hätte er einfach wieder schweigen können. Die Erde hätte sich weitergedreht und ein Schachbrett wäre weiterhin aus zweiunddreissig weissen und zweiunddreissig schwarzen Feldern zusammengesetzt gewesen. Doch irgendwie fühlte der kleine Junge, dass gerade kein guter Moment war, um wieder zu schweigen. Dass er es bereuen würde, wenn er lediglich stumm auf seiner Unterlippe kaute. Also sprach er.
«Es regnet noch immer.»
Diese an Eloquenz und Sprachwitz kaum zu überbietende Aussage wäre vielleicht in jeder anderen Situation, etwa beim Monopolyspielen oder Salatschleudern, ohne jegliche Auswirkung in den Löchern der Zeit verschwunden. Doch in jenem Augenblick sorgte sie für das vielleicht schönste Schauspiel, das der kleine Junge gesehen hatte und noch sehen würde. Das kleine Mädchen lächelte.
«Ja, tatsächlich. Dabei ist auch heute keine Wolken zu sehen.»
Der kleine Junge schaute nach oben. Ihm fiel auf, dass er es längst nicht mehr seltsam fand, dass der Himmel blau war und er trotzdem im Regen stand. Manchmal gewöhnt man sich an Dinge, die zuvor noch vollkommen irreal und unmöglich schienen. Natürlich gewöhnt man sich nicht an alle Dinge; an manche Dinge soll man sich auch gar nicht gewöhnen, weil sie sonst jeden Zauber verlieren. An das Lächeln des kleinen Mädchens etwa wollte sich der kleine Junge nie gewöhnen. Und doch wollte er es am Liebsten immer sehen, Tag und Nacht und überall, in irgendwelchen engen Aufzügen und auf flugfeldgrossen Parkplätzen, in Spiegelkabinetten auf Jahrmärkten in kleinen Dörfern und in hektischen Küchen von Gourmetrestaurants in Paris, im Bereich Aerodynamik der wissenschaftlichen Fachbuchabteilungen von Bibliotheken und in einer Schlange vor der IKEA-Kasse. An jedem Ort dieses Lächeln.
«Ist schon seltsam.»
«Kann man denn nichts dagegen tun? Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens im Regen stehen?»
«Wenn ich dich dabei ansehen dürfte, würde es mir nichts ausmachen.»
«Das klingt unglaublich schön. Aber normale zehnjährige Jungen sagen solche Dinge nicht.»
«Normale zehnjährige Jungen stehen auch nicht permanent im Regen, obwohl es gar nicht regnen dürfte.»
«Stimmt.»
«Ich weiss.»
«Dann bist du also kein normaler zehnjähriger Junge?»
«Nein, allein schon, weil ich bereits elf Jahre alt bin.»
«Oh. Entschuldige.»
«Macht nichts.»
«Ich bin zehn.»
«Ein normales zehnjähriges Mädchen?»
«Naja. Immerhin regnet es bei mir nicht immer.»
«Magst du Regen nicht?»
«Doch, eigentlich schon. Ich liebe es, im Regen zu tanzen. Ich liebe es, die Tropfen mit meiner Zunge einzufangen. Ich liebe den Duft von frischem Regen nach einem heissen Tag. Solche Dinge halt.»
«Das sind schöne Dinge.»
«Aber jeden Tag, unaufhörlich, das wäre mir doch zu viel.»
«Kann ich gut verstehen.»
«Wann hat das denn anfangen?» fragte das kleine Mädchen und deutete mit dem Kopf auf die niederprasselnden Regentropfen.
«Kurz bevor wir uns zum ersten Mal getroffen haben.»
«Einhundertachtundsechzig.»
«Eine schöne Zahl. Was bedeutet sie?»
«Einhundertachtundsechzig Stunden. So lange stehst du nun bereits im Regen.»
«Ist gar nicht so viel. Schliesslich habe ich schon fast hunderttausend Stunden gelebt. Und wenn alles nach Plan läuft, werde ich noch etwa sechshunderttausend Stunden leben. Einhundertachtundsechzig sind da wirklich nur ein Staubkorn auf dem Wohnzimmertisch.»
«Stimmt schon. Aber manchmal können schon Sekunden entscheiden. Über Leben oder Tod, über Liebe oder Hass, über Freude oder Trauer.»
Der kleine Junge fixierte einen Punkt auf dem Boden. Noch nie hatte jemand so mit ihm geredet. Noch nie hatte jemand für ihn ausgerechnet, wie lange er schon im Regen stand, und das lag wohl nicht nur daran, dass er bisher nur selten über längere Zeit hinweg einem pausenlosen Niederschlag ausgesetzt war. Noch nie hatte er sich auf dem Kissen, das eine gute Unterhaltung über den harten Untergrund der Welt legt, so wohl gefühlt.
«Du bist seltsam», flüsterte der kleine Junge, und er schlug sich innerlich heftig auf den Hinterkopf für diesen Satz, den er eigentlich so liebenswert gemeint hatte und der mit an Scheinwahrheit grenzender Sicherlichkeit falsch ankommen würde.
«Hm.»
«Das war ein Kompliment.»
«Ach so. Wusste ich eigentlich. Danke.»
«Ich danke.»
«Wofür denn? Für den Regen?»
«Nein. Obwohl, eigentlich schon. Ohne den Regen würden wir uns wohl nicht kennen.»
«Wir kennen uns gar nicht. Du weisst nicht einmal meinen Namen.»
«Namen werden überschätzt.»
«Naja, ich weiss nicht. Vielleicht. Allerdings würde ein Leben mit einem Namen wie Philomena Bärbel Karolina wohl schlimmer sein als ein Leben im Dauerregen.»
«Du heisst Philomena Bärbel Karolina?»
«Nein, natürlich nicht.»
«Dann ist ja gut.»
Irgendwie war es wie die Rückkehr eines guten Freundes, der einige Monate lang mit dem Fahrrad durch die Andenstaaten gereist war, als wieder dieses Schweigen eintrat, das der kleine Junge schon am Sonntag zuvor als alles andere als unangenehm empfunden hatte. Nur das Prasseln des Regens war zu hören, und wenn er die Augen schloss, sah er sich an einem Strand stehen, nahe der Brandung, wo das Meer seine Wellen an einen Felsen warf. Doch er sah nicht nur sich selbst. Da war noch jemand bei ihm.
«Wo bist du?» fragte das kleine Mädchen.
«Am Meer.»
«Was machst du am Meer?»
«Ich stehe nur so da. Im Wind. Die Brandung ist laut.»
«Sonst tust du nichts?»
«Doch. Ich halte eine Hand.»
«Wessen Hand denn?»
Der kleine Junge schlug die Augen auf und lächelte. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass er nicht antworten musste.
«Tust du mir einen Gefallen?» fragte er stattdessen.
«Kommt auf den Gefallen an.»
«Falls der Regen, also mein Regen, falls er irgendwann aufhören sollte, redest du dann noch immer mit mir?»
«Warum sollte ich denn nicht?»
«Ich weiss nicht. Vielleicht bin ich ohne Regen nichts Besonderes mehr.»
«Jeder Mensch ist doch etwas Besonderes. Mit manchen redet man gern, mit manchen nicht. Mit äusseren Umständen sollte das nur wenig zu tun haben, finde ich.»
«Mit mir redest du gern?»
«Das ist eine ziemlich dumme Frage.»
«Entschuldige.»
«Du musst dich nicht entschuldigen.»
«Ich weiss schon.»
«Und ich müsste dich nicht zurechtweisen, nicht wahr?»
«Nein, müsstest du nicht. Aber ist schon in Ordnung.»
«Also, jedenfalls lautet die Antwort Ja.»
«Die Antwort?»
«Ja, die Antwort auf die Frage, ob ich auch noch mit dir rede, wenn der Regen aufhören sollte.»
«Danke.»
«Jetzt müsste er es nur noch tun. Der Regen. Aufhören.»
«Ja.»
«Ja.»

Die Dinge sind oft nicht so, wie sie scheinen. Manchmal sind sie nicht so gut, wie man denkt. Manchmal sind sie besser, als man zu wissen glaubt. Doch manchmal sind die Dinge auch genau so, wie sie scheinen. Und manchmal, da stellt man sich Dinge vor, malt unzählige Bilder, die zeigen sollen, wie die Dinge dereinst sein sollten, und wenn es dann soweit ist, dann sind die Dinge noch viel schöner als man sie gemalt hat. Es gibt da diese Poesiealbumphrase, dass man nicht sein Leben träumen, sondern seine Träume leben solle. Von seinen achtzehn Klassenkameraden hatten fünfzehn Kinder diesen Satz in das bunte Buch mit dem prätentiösen und irreführenden Titel «Meine Schulfreunde» geschrieben. Doch der kleine Junge merkte, dass es nicht unbedingt das absolute Hochgefühl bedeutet, wenn man seine Träume leben kann. Viel besser ist es, wenn die Realität noch besser ist als jeder Traum. Einen Moment wie diesen, an jenem Sonntag, hätte er sich niemals erträumen können, nicht in dieser Schönheit. Solche Dinge sind kostbar, sagte er sich. Und man muss aufpassen, um diese Dinge nicht entgleiten zu lassen.

«Ich habe eine Idee», unterbrach das kleine Mädchen seine Gedanken.
«Dagegen gibt es Medikamente.»
«Nein, wirklich, ich habe eine Idee. Aber ich weiss nicht, ob sie gut ist.»
«Erzähl.»
«Naja, vielleicht gibt es einen Weg, wie wir den Regen vertreiben können.»
«Ja? Welchen denn?»
«Es ist... irgendwie... seltsam. Vielleicht findest du es doof.»
«Du versuchst gerade, dieses Unding von Dauerregen über meinem Kopf zu vertreiben. Schon das allein ist wunderbar, und jede Idee, wie es funktionieren könnte, ist ebenso wunderbar. Und ganz bestimmt nicht doof.»
«Okay. Ich versuche es mal. Aber nicht erschrecken, ja?»
Das kleine Mädchen trat ganz nahe zum kleinen Jungen hin, und rasch hatte der Regen das lange braune Haar durchnässt. Auf dem Gesicht glänzten Tropfen, und das kleine Mädchen sah noch schöner aus als zuvor. Die Augen leuchteten.
Manchmal lassen sich die Dinge nicht erklären, weil ihnen Worte nicht gerecht werden können. Zu diesen Dingen gehörte auch das Leuchten in den Augen des kleinen Mädchens. Er war wie gebannt. Gefangen in einem Blick. Der kleine Junge schluckte leer. Und war irgendwie dankbar für den Regen, welcher die kleine Träne, die sich aus seinem Augenwinkel stahl, einfach als eigenen Tropfen behandelte. Er schloss die Augen.

Der kleine Junge wusste nicht, was er zuerst spürte; die Lippen des kleinen Mädchens auf seinem Mund, oder das Ausbleiben der Regentropfen auf seinem Kopf. Er fühlte, dass die Dinge sich ändern könnten. Dinge, die verschwanden, von denen er sich trennen, die er loslassen musste. Und Dinge, die neu waren, die er noch nicht kannte, nicht in dieser Form, und die ihn ebenso erfüllten wie ängstigten. All diese Dinge, vor denen man sich entweder verstecken kann, in einem Dauerregen oder unter einer Bettdecke. Oder die man annehmen konnte, als das, was sie waren und sind. Dinge eben. Manchmal ungemein verwirrend, manchmal absolut wunderschön, manchmal etwas mühsam und manchmal der beste Grund, das Leben zu leben.

«Danke.»
 

IDee

Mitglied
Dinge

Hallo,
obwohl mich anfangs die ständige wiederholung von "der kleine Junge" störte, muss ich am Ende sagen das es genau die richtige Schreibweise war.
Mir hat diese Geschichte wirklich ausnehmend gut gefallen, schön wie ein tiefgründiges Märchen.
Super!
Liebe Grüße
IDee
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo schliesse mich meinem vorredner an.
sehr poetisch. der ton, die sprache, sind der maerchenhaften situation entsprechend.
die gedanken der kinder sind kindergedanken. das gefaellt mir.
und vor allem das du den leser mit einem geheimnis allein laesst.

schoen erzaehlt und genuegend platz fuer meine eigenen gedanken.

lg
ralf
 

Herbstblatt

Mitglied
Hallo Ralfisch,

die Dinge sind wie sie sind. Wie du allerdings aus dieser schlichten Aussage so eine schöne Geschichte gesponnen hast, finde ich beachtlich! Sie ist gut erzählt, leise, poetisch, in schönen Sätzen.

Mich stört lediglich die ständige Wiederholung von "die Dinge" und "der kleine Junge". Ich hab nur leider keine Idee, wie man es anders ausdrücken könnte. Denn gefühlt passt es dann wieder.
(Ich glaube, da muss ich noch drüber nachdenken :))

LG vom Herbstblatt
 

ralfisch

Mitglied
Herbstblatt, IDee, Ralf; liebsten Dank für eure Meinungen... Ist schön zu wissen, dass die Geschichte euch ein wenig gefällt...
!!!
Ralf
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo Ralf,

die Geschichte an sich ist sehr tiefsinnig. Das gefällt mir sehr!
Die Umsetzung ist in meinen Augen noch nicht so gelungen. Gerade am Anfang stören mich die vielen Wiederholungen. Da ist noch etwas Arbeit am Stil nötig. Auch irritieren mich die Einsprengsel, die Erklärungen, dass vieles anders ist, als es scheint. Ich bin der Meinung, die Geschichte spricht für sich, diese Erklärungsversuche könntest Du Dir schenken.
Wenn Du diesen Text von vornherein als Märchen schreibst, dann kommt er viel "sinniger" daher. Versuchs doch einmal!

meint die Haremsdame
 



 
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