Die Eine - Version 2

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Vera-Lena

Mitglied
unzurechnungsfähig

Lieber lapismont,

nun klebe ich an diesem Wort. Was heißt es? Du bist nicht zu berechnen in Deinen Handlungen, und deshalb können wir nicht mehr mit Dir rechnen, deshalb gehörst Du nicht dazu.

Ja, aber weshalb? Weil sie sich Zeitungspapier sorgfältig um die Füße gewickelt hat, und die Meute deswegen dieses Urteil über sie gesprochen hat?
Das ist ein Text, der sehr nachdenklich macht. Ab wann ist man unzurechnungsfähig, und wer legt das fest?

Danke Dir für diese Überlegungen.
Liebe Grüße Vera-Lena
 
M

mako

Gast
Hallo, lapismont,

ich fand Deine erste Version besser, intensivere Bilder (in mir), vielleicht etwas unfertiger als die jetzige Version.

Sollten die Verse:
"Sie besetzt den Stuhl
kerzengerade"
nicht erst nach dem Buseinsteigen kommen? Gerade der Beginn in der ersten Version, dass sie sich bunte Galoschen aus der Zeitung schneidet, hat mich gefesselt.

Aber auch die zweite Version hat das gewisse Etwas. :)

Gruss
Mako
 

silverbird

Mitglied
wer aus der Norm fällt, wird schon sehr bald als anormal bezeichnet. Dabei braucht unsere Welt auch heute nôch solche Originale. Die einen sind es ungewollt, andere freuen sich darüber, zu provozieren und dann gibt es solche, die echt in Not sind und zu solchen Mitteln greifen müssen, um auf sich aufmerksam zu machen. Freundliches Lächeln bewirkt meist nur sehr wenig. Unverständnis und Wegschauen ist die Reaktion der meisten "Normalen".
Ich finde dein Gedicht super
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo mako,

jongleur und ich haben ein bischen rumphilosophiert über das "Gerade" der ersten Version. Da ich es nicht zeitlich, sondern körperlich verstanden wissen wollte, und mir "aufrecht" zu widerständlerich war, suchte ich nach einer passenden Beschreibung.
Sie sitzt quasi am Tisch und schneidet.

cu
lap
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
ich fand das gedicht gut und stark

am unzurechnungsfähigen bin aber auch ich gestolpert.
vielleicht, weil ich dieses wort immer mit einem delikt in zusammenhang bringe. (ich arbeit mit psychisch kranken menschen)
das heißt, unzurechnungsfähig ist, wer "in einem die zurechnungsfähigkeit ausschließenden zustand eine kriminelle handlung begangen hat".
was aber hat die frau für eine kriminelle handlung begangen?

verstehst du, worauf ich hinauswill? wenn jemand verrückt ist, selbst wenn er dinge nicht selbst entscheiden kann, selbst wenn er aufgrund von selbst oder fremdgefährdung in der psychiatrie untergebracht ist, ist er nicht unzurechnungsfähig. vielleicht häng ich hier an einem juristischen begriff, aber wie ich sehe, nicht nur ich allein.
einsichtsfähig gibts auch noch. und urteilsfähig. das heißt, wenn jemand die folgen einer handlung nicht einschätzen und danach urteilen kann.

liebe grüße
die k.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Unzurechnungsfähig

Hallo,

ich bin bei unzurechnungsfähig eher von:
Sie weis nicht was sie tut, ausgegegangen, aus dem Rahmen fallen, verrückt sein im nicht psychiatrischen Sinne.
Eben so, wie die "Meute" es empfindet, wenn jemand seine Schuhe mit Zeitungsschnipseln verschönt.
Denn selbst, wenn eine Handlung nur knapp an Normalen vorbeigeht, erweitert es die Normalität nicht, sondern verletzt ihre Grenzen.
Insofern ist unpassende Fröhlichkeit schon kriminell, eine Verletzung des moralischen Codes.
Vielleich träfe ja übergeschnappt, oder verwirrt den Sachverhalt besser.
Unzurechnungsfähig bedeutet aber immer auch eine rechtliche Konsequenz, bis hin zur Einschränkung von Grundrechten.
Habt ihr noch Ideen?

cu
lap
 

Jongleur

Mitglied
unzurechnungsfähig

Hallo,
ich weiß nicht, ob der Begriff, das Wort „unzurechnungsfähig“ als Terminus Technicus in der Rechtsprechung oder in der psychiatrischen Medizin existiert.
Geläufig aber ist es in der Alltagssprache, der - oder die - ist doch „nicht ganz zurechnungsfähig".
Für mich klammert die letzte Zeile zwei mögliche Bedeutungen zusammen: einmal die Gedankenaussage dieser stumpfen und abwertenden „Meute“ gegenüber „der anderen“, die aus der Norm fällt. („Das tut man nicht.“) Der Satz, speziell „die Akte“ wäre dann lakonisch zu verstehen, stellt das Bild einer Kategorisierung dar im Hirn der anderen, eine „gedankliche Akte“ wird quasi angelegt. Für diese Buntschuhfrau mit dem Etikett: die tickt doch nicht richtig.
Zum anderen könnte gerade die Wortwahl „Akte“ auf einen Befund, eine klinische Akte deuten. Dies wäre der Hinweis, das Gedicht insgesamt unter dem Aspekt einer Person zu verstehen, die in Behandlung war/ist und eröffnet etliche interessante Aspekte und Gedankenanstöße:
wo zum Beispiel steht der Stuhl, auf dem sich die Frau kerzengerade hält? In ihrer Wohnung? Ist sie eine als gesund und lebensfähig Entlassene, die nun erste Schritte außerhalb des Klinikgeländes unternimmt? Oder befindet sie sich dort? Ambulante Beschäftigungstherapie? Danach die aufregende Busfahrt nach Hause? - Die Aufregung. Freude? Vorfreude? Oder ängstliche Aufregung? -- Auch die Andeutung, die durch „das Schneiden“ gestreut ist. Stark finde ich übrigens, wie durch die Wortwahl „Schritte“ in den Folgezeilen noch ein „Schnitte“ mitzuklingen scheint, so hab ich es jedenfalls empfunden, beim Leser also erzeugt wird, dass Schritte (weil buntbeschuht) oder Schnitte (weil frische Narben) aufgeregt leuchten auf ihrem Weg.
Das Gedicht - die Frau - haben etwas Fragiles, und das Gedicht schafft es, dass ich mir diese „Eine“ sehr gut vorstellen kann. Ein Bild ist entstanden, Gefühle.
Das Spannungsfeld: Die Eine - die anderen // freundlich (blickend) - blicklos // die Meute - das gejagte Wild, alles setzt (in mir jedenfalls) viele Assoziationen frei.
Eine Auseinandersetzung mit dem Thema kann in meinen Augen nur sensibel machen und pro Anderssein/Psychisch Kranker wirken.
Grüße
jongleur
 



 
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