Die Erbschaft

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H

HFleiss

Gast
Die Erbschaft

Der alte Borkmann dachte ans Sterben, während er die drei Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Wie so oft schon in den letzten Jahren, immer wieder musste er ans Sterben denken. Es war Juli geworden, lange sonnenheiße Tage waren zwei verregneten Wochen gefolgt. Er fürchtete sich, für ein paar Besorgungen aus dem Haus gehen zu müssen, vor den Schwitzanfällen und den Herzschmerzen, die ihn jedesmal überfielen wie Ungeheuer, sobald er die drei Stockwerke hinter sich hatte und die Wohnungstür endlich abschließen konnte. Und während er sich im Bad abkühlte, den Kopf unter fließendem, kaltem Wasser, dachte er daran, dass er eines Tages mitten auf der Treppe zusammenbrechen könnte, weil sich das Blut im Kopf staute und weil das Herz so stark schlug und weil es schmerzte, als zerrisse es ihm die Brust.

Sorgfältig trocknete er sich den Kopf und die spärlichen Haare ab, schlürfte in die Küche, die kühler war als das kleine Bad, und räumte das Brot in den Kasten auf der Anrichte. Er überlegte, ob er die Zeitung noch einmal lesen sollte, diesmal gründlicher als am Morgen, und sich mit dem Kreuzworträtsel beschäftigen sollte, damit er nicht etwa noch Alzheimer bekäme.
Das Fläschchen mit den Herztropfen stand auf der Anrichte.
Sorgfältig zählte er Tropfen für Tropfen, schluckte sie vom Teelöffel. Er schüttelte sich und wischte sich angewidert den Mund ab.
Lieber den Tod als Alzheimer. Der Tod, dachte er, ist nichts Schlimmes, er kommt, man sagt guten Tag, es ist nicht Zeit genug, auf seinen Widergruß zu warten, schon ist es um einen geschehen. Man merkt ihn nicht, den eigenen Tod. Er hatte am Krankenbett seiner Frau gesessen, vor sechs Jahren, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, zu ihrem letzten Schlaf. Seit Stunden schon röchelte sie, die Ärztin sah ihn besorgt an und wollte ihn verscheuchen, und plötzlich löste sich die Hand seiner Frau, und er begriff. Ja, er hatte Zeit gebraucht, Wochen, Monate, Jahre, bis er endgültig verstand. Aber sie hatte nicht gelitten, man hatte ihr im Krankenhaus Morphium gegeben, und wenn er nach Schmerzen fragte, hatte sie verneinend die Augenlider geschlossen, und er wusste nun, dass Sterben nichts war, um das man sich Sorgen machen musste. Nein, er hatte keine Angst mehr vor dem Tod, nicht so wie in jungen Jahren, als er nicht begreifen konnte, dass er, er selbst, eines Tages nicht mehr sein würde. Der einzige Kummer, den man hinterlässt, dachte er, ist doch der Kummer, den man den Söhnen macht. Ihnen, Christoph und Bernhard, konnte er ihn nicht ersparen.
Benommen, jedesmal nach den Herztropfen hatte er das Gefühl, sie brachten irgendwas in seinem Kopf in Unordnung, schlürfte er ins Wohnzimmer zu seinem Sessel. Ihm war übel. Es wurde Zeit, ans eigene Ende zu denken, Tag für Tag ging es ihm schlechter, und Tag für Tag wurde er schwächer. Wozu braucht der Mensch so ein verdammtes Herz, wenn es doch nur schmerzte. Wie wohltuend es war, im weichen Sessel zu sitzen, in die Sonne zu blinzeln und an nichts zu denken.
Plötzlich richtete er sich auf. Herrgott, die Bibliothek. Ächzend und sich die Herzseite haltend, erhob er sich aus seinem Stammsessel. Er nahm einen schmalen Band aus dem Bücherregal, das statt einer Schrankwand im Wohnzimmer stand, und betastete den Einband. Seine Bücher, die er sich ein Leben lang zusammengespart hatte. In jedes Buch hatte er seinen Namen geschrieben und den Tag, an dem er es gekauft hatte. Wenn ihm etwas geschähe - was sollte mit der Bibliothek passieren? Oft schon hatte er sich diese Frage gestellt. Zweitausend Bücher. Nichts Besonderes darunter, keine einhundert Jahre alten Erstausgaben, kein Exlibri, kaum mal eine Widmung des Autors, es waren einfache Bücher, manche mit zerfleddertem Umschlag, manche ohne Umschlag, große und kleine, dicke und dünne. Seit den fünfziger Jahren hatte er jeden Monat, wenn er Lohn bekam, er war Mechaniker in einem großen Betrieb gewesen, in allen Buchhandlungen, die er kannte, nach Neuveröffentlichungen gesucht, und wenig hatte er in den ersten Jahren nach der Gefangenschaft verdient. In der DDR war es nicht einfach gewesen, sie aus all dem Bücherwust in den Regalen aufzuspüren, und gute Beziehungen zu Buchhändlerinnen fehlten ihm. Er war eben zu unbeholfen gewesen. Oft kam er erst, wenn das angekündigte Buch schon längst vergriffen war. Die Zeitungen sagten, wegen der Papierknappheit. Das Papier wurde anscheinend immer knapper, erst recht dann, als er genug Geld hatte, es in Büchern anzulegen. Nachjagen hatte er den Büchern müssen, vor allem in den letzten Jahren der DDR. Aber wen interessierten sie eigentlich noch, seine Bücher?
Etwas wie Mitleid überkam ihn, er öffnete den schmalen Band, den er wahllos herausgegriffen hatte, und las den Titel: „Kein Ort. Nirgends“. Bücher sterben nicht, sie verstauben im Regal und werden hundert Jahre alt und älter, alt wie Bäume, aus denen sie gemacht sind, älter als Menschen. Er könnte, überlegte er, ein Testament aufsetzen, einer der Söhne müsste die Bücher ins Haus nehmen. Und wenn er sie ins Antiquariat gäbe? Wo die Bücher für ein Butterbrot verramscht wurden? Nein, kein Antiquariat, nicht für seine mühsam gesammelten Bücher. Groß zu erben gab es sonst nichts. Auf dem Sparbuch lagen nur ein paar tausend Euro, die angeschabten Möbel aus den siebziger Jahren würden in den Sperrmüll gehen, aber was würden die Söhne mit den Büchern tun?
Er stellte das Buch ins Regal zurück, neben die „Kindheitsmuster“, die ihm damals so zugesetzt hatten mit den Kriegserinnerungen, an die er nie mehr denken wollte. Aber, er beugte sich hinab und pustete ein wenig Staub von den Büchern, es war gut gewesen, dass es dieses Buch gab. Er hatte nachdenken müssen und war sich damals, in den siebziger Jahren, über etwas klargeworden: über den Krieg und die Gefangenschaft und über die Politik im allgemeinen. Mit seiner Frau, der er nicht zutraute, dass sie ihn verstand, hatte er darüber nicht sprechen können, die Gedanken waren gekommen, und er hatte sie in sich eingeschlossen. „Du alter Schweiger“, neckte sie ihn, als er sie abschütteln musste, weil sie wegen seiner Wortkargheit in ihn gedrungen war. Richtig beleidigt konnte sie ihn ansehen, erinnerte er sich. Aber sie hatte ihm, er wusste es noch genau, ein Stück von dem Rosinenkuchen vorgesetzt, den er nun schon jahrelang vermisste, und ihn angelächelt wie früher, als sie beide noch verliebt waren.
In der Küche, er hatte Teewasser aufgesetzt, pfiff es. Er hastete aus dem Wohnzimmer. Seine Hand zitterte, als er das Wasser in die Teekanne goss. An dieses Zittern hatte er sich gewöhnen müssen, lästig war es. Und was war alles nicht lästig geworden. Dass die Konsumkaufhalle zum Beispiel nun einem großen Lebensmittelkonzern gehörte und dass er mit jedem Einkauf wider Willen irgendeinen fernen Boss reich machte. Gerade heute, vorhin beim Einkaufen, hatte er daran denken müssen, als er die junge Frau an der Kasse sah, sie hatte einen intelligenten Eindruck auf ihn gemacht, viel zu intelligent für diese Arbeit. Sie hatte sich ihre Zukunft sicher einmal anders vorgestellt, musste er denken. Vielleicht hätte sie studieren können in der DDR und wäre Ärztin geworden, oder Lehrerin oder Philosophin. Mitleid hatte er gefühlt, zugesehen, wie sie sein Brot über den Rechner zog, sein Blick war auf ihre junge Hand gefallen, er hätte sie drücken mögen. Aber alles, sagte er sich seufzend, kommt eben anders, als man es sich vorstellt, wirklich alles.
Behutsam und mit Stolperschrittchen, er hasste Flecken auf dem Teppich, trug er Teekanne und Zuckerdose von der Küche zum Tisch im Wohnzimmer. Man müsste, brummelte er auf dem Weg durch den Flur, man müsste die Jungen einladen an den Familientisch. Beide zusammen sollten sie kommen, fragen müsste er sie, wer die Bibliothek an sich nehmen und behüten wolle, und notfalls, falls sie sich weigerten, die Söhne ein letztes Mal unter seinen Willen zwingen. Aber es war wohl sicherer, er schrieb es ins Testament, das mit den Büchern. So ein Testament war etwas Altmodisches, ihm Fernes, aber ans Testament, sagte er sich, wagt sich niemand heran, das ist etwas Stinkbürgerliches, ein Testament muss erfüllt werden, Buchstabe für Buchstabe. Heute noch, gleich nach dem Teetrinken würde er es aufschreiben, sein Testament.
Mit den Fingern griff er ein Stück Zucker, ließ es in die Tasse fallen, goß den Tee ein und wartete, bis der Zucker sich aufgelöst hatte und der Tee abgekühlt war. Da hatte er auf seine alten Tage ein Problem, Herrgott, ein richtiges Problem.

Er hatte dann doch die Söhne zusammengerufen, nach Hause, an den Familientisch. Mühsam war es gewesen, Bernhard wollte erst gar nicht kommen. Keine Zeit, Vater, sagte er, er müsse an die Börse. Von was für Problemen der Vater spreche, das gebe es doch gar nicht, in seinem Alter und Probleme, lächerlich. Aha, um die Erbschaft ginge es also, natürlich werde er kommen. „Ich werd doch meinen Vater nicht allein lassen mit seinen Problemen, was denkst du denn von mir?“
Christoph, den jüngeren Sohn, ans Telefon der Freundin zu bekommen war auch nicht leicht gewesen, immer unterwegs, der Chris. Als es dann endlich klappte, machte er anfangs Ausflüchte, durchsichtige, als schämte er sich, dem Vater unter die Augen zu treten. Das Rauschgift, das Teufelszeug, der Junge kam ihm unter die Räder. Sparsam sagte er etwas von Erbschaft, bat den Sohn: Komm, Chris, ich will dich sehen, Bernhard kommt auch, und wer weiß, wie alt ich noch werde, ich fühl mich nicht gut.
Jetzt saßen die Söhne am Tisch, dem Familientisch, jeder an dem Platz, an dem er als Kind schon gesessen hatte, rechts und links von ihm. Ein bisschen umständlich, wollte er sie beide im Blick behalten. Wenn er sprach, sprach er ins Leere, dorthin, wo seine Frau gesessen hatte, an der Stirnseite ihm gegenüber, ins Helle des Fensters, die Köpfe der Söhne im Dunklen.
Von seinem Tod, der nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, sprach er wie von etwas, das nichts mit ihm zu tun hatte. Sein Tod war eine sichere Tatsache, über Tatsachen diskutierte er nicht, und für Sentimentalitäten hatte er auch nichts übrig. Den Söhnen war sein Reden trotzdem peinlich, er spürte es, sah, wie Chris die Hand vors Gesicht nahm und durch die Finger zu Bernhard hinübersah und wie der ihm unauffällig zunickte.
Um die Erbschaft ginge es, um praktische Dinge, die Möbel und das Renovieren der Wohnung und das Begräbnis. Nur gäbe es da noch ein Problem. Nämlich, was solle mit der Bibliothek geschehen? Schließlich sei sie das Wertvollste im ganzen Haushalt, abgesehen von Mutters Handarbeiten.
Chris reagierte als Erster. „Ich bin sechsunddreißig, Vater. Lange mach ich es auch nicht mehr.“ Mager, mit Fingern wie Spinnenbeinen, trommelte er auf den Tisch. „Du weißt, was mit mir los ist. Was soll ich mit deinen Büchern. Wohin damit? Und für wie lange? Ich verkaufe sie nur. Ans nächste Antiquariat.“ Kraftlos, Christoph sträubte sich, den Vater anzusehen, schweifte sein Blick weg vom Vater, durch das Fenster, hinaus zum nachmittäglichen Himmel.
Der Vater schwieg. Der Junge hatte Recht, das musste man bedenken, Chris brauchte Geld. Aber Verkaufen kam nicht in Frage. Aufheben für später, falls mal Enkel kommen, das sollte mit den Büchern geschehen. Damit sie wissen, wie ihr Großvater gelebt hatte, wie auch die Eltern, es wird ihnen niemand mehr sagen können. Jedes Buch atmet die Zeit, in der es entstanden ist.
„Und du, Bernhard? Verkaufst du auch - meine Bücher?“
Bernhard starrte den Vater an. Er kaute an der Lippe, sagte nichts. Plötzlich richtete er sich auf. „Ich nehm sie“, sagte er schnell. „Ich stell sie in den Keller. In der Wohnung hab ich keinen Platz, musst du verstehen, Vater. Fressen ja kein Brot, deine Bücher.“
Der Vater nickte bei jedem Satz. Das ginge, in den Keller könnte man sie stellen. „Gut“, sagte er bedachtsam. „Das gefällt mir zwar nicht, so ohne Würde und niemand liest die Bücher, aber zur Not, wenn sich nichts anderes findet, wird es gehen.“
Dann hatte er doch noch einen Einwand. „Aber ist es im Keller nicht zu feucht, ich meine, es sind doch Bücher.“
Chris mischte sich ein. „Nicht in den Keller, das Zeug verfault dort bloß. Das kriegst du fertig, Bernhard, Vaters Bücher in den Keller stellen, zwischen Mäusen und Spinnen.“ Er warf dem Bruder einen verächtlichen Blick zu.
Er überlegte. „Ich nehme sie, Vater“, sagte er dann, „Platz wird sich finden. Wenn du willst, schwöre ich es dir: Ich verkaufe sie nicht. Schreib es so ins Testament.“
Bernhard, erst vierzig, aber schon ein wenig aufgeschwemmt, hob den Blick von der Tischplatte. „Mein Keller ist geheizt. Bei mir verfault nichts. Chris“, er musterte skeptisch den Bruder, „Chris verhungert ohne deine Bücher. Der braucht sie, fürs Überleben, für den Nachschub. Der verkauft sie dir glatt. Bei mir stehen sie wenigstens gut. Geld hab ich. Und zu essen hab ich auch. Und ich nehm ja nicht dieses Zeugs, diese Drogen.“ Der Blick, den er dem Bruder zuwarf, war gehässig.
Er zog den Aschenbecher heran und zündete sich eine Zigarette an. „Übrigens, wie sieht es denn mit Knete aus? Ich meine, falls ich die Bücher mal irgendwo anders unterstellen muss? Die wollen dann Miete von mir.“
Der Vater verstand nicht, er kniff die Augen zusammen, Bernhard hatte ihm den Rauch ins Gesicht gepustet. „Wer? Wer will Miete von dir? Der Hauswirt? Für die Bücher im Keller?“
Bernhard verzog das Gesicht. „Was du schon verstehst. Ich sag, falls ich, nun, falls ich mal umziehe oder so, und wenn ich dann keinen Keller hab, dann muss ich doch für den Platz bezahlen, verstehst du? Und wenn ich dann zufällig kein Geld hab? Hast du noch was auf dem Sparbuch?“
Der Alte antwortete nicht. So war das also, Bernhard, sein Ältester, wollte sich bezahlen lassen! Vom eigenen Vater! Und wofür? Dafür, dass er die Erbschaft annahm? Er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. „Und du, Chris“, stieß er aus sich heraus, jedes Wort mühsam artikulierend, den Kopf gesenkt, „du sagst, du würdest sie nehmen, meine Bücher? Sie nicht verkaufen? Sie in Ehren halten?“ Plötzlich schämte er sich. In Ehren halten, was für ein großes Wort. „Für später?“, schwächte er ab.
Chris blickte den Vater erschrocken an, legte dann seine Hand auf die des Vaters und beugte sich ihm über den Tisch entgegen. „Schon gut, Vater. Wenn es dir so wichtig ist. Bernhard meint es doch nicht so.“
„Bernhard meint, was er sagt.“ Des Vaters Blick wurde hart. „Was er sagt, meint er.“ Unwillig schüttelte er die Hand des Sohnes ab.
Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. „Da ist noch ein Sparbuch, Chris“, er schnäuzte sich, „es sind nur ein paar Tausend, weit kommst du damit nicht. Für die Miete.“
Er schlürfte zur Anrichte, zog umständlich einen Kasten heraus und entnahm ihm ein in Packpapier eingeschlagenes Heftchen. Schweigend legte er es vor Chris auf den Tisch.
Bernhard war aufgesprungen, der Stuhl schurrte. „Was ist denn nun mit der Erbschaft? War das alles? Dir ging es nur um deine verdammten Bücher? Was hast du denn mit all dem Geld gemacht, das von Mutter? Und ich dachte, Vater, wir hätten noch etwas zu besprechen!“
„Es gibt keine Erbschaft.“ Ruhig blickte er zum Sohn empor. „Nur die Bücher. Nur sie.“ Er wollte noch etwas von Herzenssache sagen, empfand das aber als zu groß, und fügte nur hinzu: „Mutters Geld ist für euch draufgegangen, Junge.“

Der alte Borkmann starb im September. Nachbarn wurden aufmerksam, als sie ihn lange nicht gesehen hatten. Feuerwehrleute brachen die Wohnungstür auf. Verwundert standen sie vor den Büchern. „Ob der Alte die alle gelesen hat? Na, das wird ein ziemliches Räumen geben. Arme Erben“, sagte ein Junger, griff ungeschickt nach einem Buch, es fiel ihm aus der Hand. Er bückte sich, hob es auf. „Kein Ort. Nirgends“, las er laut den Titel, begann zu blättern. Er schlug das Buch zu und zwängte es zurück, ins Regal.
„Irgendwo ist immer ein Ort“, sagte er. Der andere nickte.
 

Inu

Mitglied
Hallo HFleiss

Eine richtig graue Geschichte... der alte Vater ein armer Gebeutelter, die ebenso grauen Söhnchen herzlos und nicht einmal smart genug, um den schönen Schein und Anstand zu wahren.

Ja, ja Bücher. Die Welt ist voll gedrucktem Wissen, mehr inzwischen als die Menschheit verkraften und stapeln kann und für den ganzen gehorteten Schatz wäre wahrscheinlich einem Trödler sogar noch das Geld für den Abholtransport zu schade. So ist das Leben. Aber diese traurigen Tatsachen um den alten Mann hast Du gut beschrieben.

Ein bisschen straffen würde ich noch :)

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Danke für deinen Kommentar, Inu. Wo sollte ich deiner Meinung nach straffen?
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo HFleiss,

Das ist sicherlich keine schöne Geschichte, aber sie ist schön geschrieben. Ohne Pathos, ohne Effekthascherei sind die Sprache und die ein wenig betulich daher kommende Handlung ganz auf den Protagonisten zugeschnitten. Er und der Erzählstil pssen meines Erachtens sehr gut zusammen.
Ich habe den Text nur einmal gelesn, und mir ist auf Anhieb nichts aufgefallen, wo man straffen könnte. Vielleicht hat sich Inu den Tex etwas näher unter die Lupe genommen. Aber es ist ja eine Erzählung - ich glaube, die darf man schon mal etwas breiter anlegen, als ein "Blitzlicht" namens Kurzgeschichte.
Ich habe mal in dein Profil geschaut. "Ich habe keine größeren Ambitionen", steht da unter anderem. Vielleicht ist das der Grund, warum Du so unverkrampft schreibst?

Gruß Ralph
 
H

HFleiss

Gast
Ich bedanke mich, Ralph. Nein, leider habe ich auch noch nichts gefunden, was ich in der Geschichte entbehren würde, ich habe ja schon so viel herausgenommen, dass sie nicht in Plauderei ausartet. Für mich ist jeder angesprochene Punkt wichtig, aber ein Dritter sieht ja immer mehr.
 

Inu

Mitglied
Hallo HFleiss


Ich markiere mal blau, was man eventuell weglassen könnte.

Die Erbschaft

Der alte Borkmann dachte ans Sterben, während er die drei Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Wie so oft schon in den letzten Jahren, immer wieder musste er ans Sterben denken. Es war Juli geworden, lange sonnenheiße Tage waren zwei verregneten Wochen gefolgt. Er fürchtete sich, für ein paar Besorgungen aus dem Haus gehen zu müssen, vor den Schwitzanfällen und den Herzschmerzen, die ihn jedesmal überfielen wie Ungeheuer, sobald er die drei Stockwerke hinter sich hatte und die Wohnungstür endlich abschließen konnte. Und während er sich im Bad abkühlte, den Kopf unter fließendem, kaltem Wasser, dachte er daran, dass er eines Tages mitten auf der Treppe zusammenbrechen könnte, weil sich das Blut im Kopf staute und weil das Herz so stark schlug und weil es schmerzte, als zerrisse es ihm die Brust.

Sorgfältig trocknete er sich den Kopf und die spärlichen Haare ab, schlürfte in die Küche, [blue]die kühler war als das kleine Bad,[/blue][blue] und räumte das Brot in den Kasten auf der Anrichte.[/blue] Er überlegte, ob er die Zeitung noch einmal lesen sollte, diesmal gründleicher als am Morgen, und sich mit dem Kreuzworträtsel beschäftigen sollte, damit er nicht etwa noch Alzheimer bekäme.
Das Fläschchen mit den Herztropfen stand auf der Anrichte.
Sorgfältig zählte er Tropfen für Tropfen, schluckte sie vom Teelöffel. Er schüttelte sich und wischte sich angewidert den Mund ab.
Lieber den Tod als Alzheimer. Der Tod, dachte er, ist nichts Schlimmes, er kommt, man sagt guten Tag, es ist nicht Zeit genug, auf seinen Widergruß zu warten, schon ist es um einen geschehen. Man merkt ihn nicht, den eigenen Tod. Er hatte am Krankenbett seiner Frau gesessen, vor sechs Jahren, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, zu ihrem letzten Schlaf. Seit Stunden schon röchelte sie, die Ärztin sah ihn besorgt an und wollte ihn verscheuchen, und plötzlich löste sich die Hand seiner Frau, und er begriff. Ja, er hatte Zeit gebraucht, Wochen, Monate, Jahre, bis er endgültig verstand. Aber sie hatte nicht gelitten, man hatte ihr im Krankenhaus Morphium gegeben, und wenn er nach Schmerzen fragte, hatte sie verneinend die Augenlider geschlossen, und er wusste nun, dass Sterben nichts war, um das man sich Sorgen machen musste. Nein, er hatte keine Angst mehr vor dem Tod, nicht so wie in jungen Jahren, als er nicht begreifen konnte, dass er, er selbst, eines Tages nicht mehr sein würde. Der einzige Kummer, den man hinterlässt, dachte er, ist doch der Kummer, den man den Söhnen macht. Ihnen, Christoph und Bernhard, konnte er ihn nicht ersparen.
Benommen, jedesmal nach den Herztropfen hatte er das Gefühl, sie brachten irgendwas in seinem Kopf in Unordnung, schlürfte er ins Wohnzimmer zu seinem Sessel. Ihm war übel. Es wurde Zeit, ans eigene Ende zu denken, Tag für Tag [blue]ging es ihm schlechter, und Tag für Tag [/blue]wurde er schwächer. [blue]Wozu braucht der Mensch so ein verdammtes Herz, wenn es doch nur schmerzte[/blue]. Wie wohltuend es war, im weichen Sessel zu sitzen, in die Sonne zu blinzeln und an nichts zu denken.
Plötzlich richtete er sich auf. Herrgott, die Bibliothek. Ächzend und sich die Herzseite haltend, erhob er sich aus seinem Stammsessel. Er nahm einen schmalen Band aus dem Bücherregal, [blue]das statt einer Schrankwand im Wohnzimmer stand, [/blue]und betastete den Einband. Seine Bücher, die er sich ein Leben lang zusammengespart hatte. In jedes Buch hatte er seinen Namen geschrieben und den Tag, an dem er es gekauft hatte. Wenn ihm etwas geschähe - was sollte mit der Bibliothek passieren? [blue]Oft schon hatte er sich diese Frage gestellt. [/blue]Zweitausend Bücher. Nichts Besonderes darunter, keine einhundert Jahre alten Erstausgaben, kein Exlibri, kaum mal eine Widmung des Autors, es waren einfache Bücher, manche mit zerfleddertem Umschlag, [blue]manche ohne Umschlag, [/blue]große und kleine, dicke und dünne. Seit den fünfziger Jahren hatte er jeden Monat, wenn er Lohn bekam, er war Mechaniker in einem großen Betrieb gewesen, in allen Buchhandlungen, die er kannte, nach Neuveröffentlichungen gesucht, und wenig hatte er in den ersten Jahren nach der Gefangenschaft verdient. In der DDR war es nicht einfach gewesen, sie aus all dem Bücherwust in den Regalen aufzuspüren, [blue]und gute Beziehungen zu Buchhändlerinnen fehlten ihm. Er war eben zu unbeholfen gewesen. [/blue]Oft kam er erst, wenn das angekündigte Buch schon längst vergriffen war. Die Zeitungen sagten, wegen der Papierknappheit. Das Papier wurde anscheinend immer knapper, erst recht dann, als er genug Geld hatte, es in Büchern anzulegen. Nachjagen hatte er den Büchern müssen, vor allem in den letzten Jahren der DDR. Aber wen interessierten sie eigentlich noch, seine Bücher?
Etwas wie Mitleid überkam ihn, er öffnete den schmalen Band, den er wahllos herausgegriffen hatte, und las den Titel: „Kein Ort. Nirgends“. Bücher sterben nicht, sie verstauben im Regal und werden hundert Jahre alt und älter, alt wie Bäume, aus denen sie gemacht sind, älter als Menschen. Er könnte, überlegte er, ein Testament aufsetzen, einer der Söhne müsste die Bücher ins Haus nehmen. Und wenn er sie ins Antiquariat gäbe? Wo die Bücher für ein Butterbrot verramscht wurden? Nein, kein Antiquariat, nicht für seine mühsam gesammelten Bücher. Groß zu erben gab es sonst nichts. Auf dem Sparbuch lagen nur ein paar tausend Euro,[blue] die angeschabten Möbel aus den siebziger Jahren würden in den Sperrmüll gehen,[/blue] aber was würden die Söhne mit den Büchern tun?
Er stellte das Buch ins Regal zurück, neben die „Kindheitsmuster“, die ihm damals so zugesetzt hatten mit den Kriegserinnerungen, an die er nie mehr denken wollte. Aber, er beugte sich hinab und pustete ein wenig Staub von den Büchern, es war gut gewesen, dass es dieses Buch gab. Er hatte nachdenken müssen und war sich damals, in den siebziger Jahren, über etwas klargeworden: über den Krieg und die Gefangenschaft und über die Politik im allgemeinen. Mit seiner Frau, der er nicht zutraute, dass sie ihn verstand, hatte er darüber nicht sprechen können, die Gedanken waren gekommen, und er hatte sie in sich eingeschlossen. „Du alter Schweiger“, neckte sie ihn, als er sie abschütteln musste, weil sie wegen seiner Wortkargheit in ihn gedrungen war. Richtig beleidigt konnte sie ihn ansehen, erinnerte er sich. Aber sie hatte ihm, er wusste es noch genau, ein Stück von dem Rosinenkuchen vorgesetzt, den er nun schon jahrelang vermisste, und ihn angelächelt wie früher, als sie beide noch verliebt waren.
In der Küche, er hatte Teewasser aufgesetzt, pfiff es. Er hastete aus dem Wohnzimmer. Seine Hand zitterte, als er das Wasser in die Teekanne goss. An dieses Zittern hatte er sich gewöhnen müssen, lästig war es. Und was war alles nicht lästig geworden. Dass die Konsumkaufhalle zum Beispiel nun einem großen Lebensmittelkonzern gehörte und dass er mit jedem Einkauf wider Willen irgendeinen fernen Boss reich machte. Gerade heute, vorhin beim Einkaufen, hatte er daran denken müssen, als er die junge Frau an der Kasse sah, sie hatte einen intelligenten Eindruck auf ihn gemacht, viel zu intelligent für diese Arbeit. Sie hatte sich ihre Zukunft sicher einmal anders vorgestellt, musste er denken. Vielleicht hätte sie studieren können in der DDR und wäre Ärztin geworden, oder Lehrerin oder Philosophin. Mitleid hatte er gefühlt, zugesehen, wie sie sein Brot über den Rechner zog, sein Blick war auf ihre junge Hand gefallen, er hätte sie drücken mögen. [blue]Aber alles, sagte er sich seufzend, kommt eben anders, als man es sich vorstellt, wirklich alles.[/blue]
Behutsam und mit Stolperschrittchen, er hasste Flecken auf dem Teppich, trug er Teekanne und Zuckerdose von der Küche zum Tisch im Wohnzimmer. Man müsste, brummelte er auf dem Weg durch den Flur, man müsste die Jungen einladen an den Familientisch. [blue]Beide zusammen sollten sie kommen, [/blue]fragen müsste er sie, wer die Bibliothek an sich nehmen und behüten wolle, und notfalls, falls sie sich weigerten, die Söhne ein letztes Mal unter seinen Willen zwingen. Aber es war wohl sicherer, er schrieb es ins Testament, das mit den Büchern. So ein Testament war etwas [blue]Altmodisches, [/blue]ihm Fernes, aber ans Testament, sagte er sich, wagt sich niemand heran, das ist etwas Stinkbürgerliches, ein Testament muss erfüllt werden, [blue]Buchstabe für Buchstabe[/blue]. Heute noch, gleich nach dem Teetrinken würde er es aufschreiben, sein Testament.
Mit den Fingern griff er ein Stück Zucker, ließ es in die Tasse fallen, goß den Tee ein und wartete, bis der Zucker sich aufgelöst hatte und der Tee abgekühlt war. Da hatte er auf seine alten Tage ein Problem, Herrgott, ein richtiges Problem.

Er hatte dann doch die Söhne zusammengerufen, nach Hause, an den Familientisch. [blue]Mühsam war es gewesen,[/blue] Bernhard wollte erst gar nicht kommen. Keine Zeit, Vater, sagte er, er müsse an die Börse. Von was für Problemen der Vater spreche, das gebe es doch gar nicht, in seinem Alter und Probleme, lächerlich. Aha, um die Erbschaft ginge es also, natürlich werde er kommen. „Ich werd doch meinen Vater nicht allein lassen mit seinen Problemen, was denkst du denn von mir?“
Christoph, den jüngeren Sohn, ans Telefon der Freundin zu bekommen war auch nicht leicht gewesen, immer unterwegs, der Chris. Als es dann endlich klappte, machte er anfangs Ausflüchte, durchsichtige, als schämte er sich, dem Vater unter die Augen zu treten. Das Rauschgift, das Teufelszeug, der Junge kam ihm unter die Räder. Sparsam sagte er etwas von Erbschaft, bat den Sohn: Komm, Chris, ich will dich sehen, Bernhard kommt auch, und wer weiß, wie alt ich noch werde, ich fühl mich nicht gut.
Jetzt saßen die Söhne am Tisch, [blue]dem Familientisch,[/blue] jeder an dem Platz, an dem er als Kind schon gesessen hatte, rechts und links von ihm. Ein bisschen umständlich, wollte er sie beide im Blick behalten. Wenn er sprach, sprach er ins Leere, dorthin, wo seine Frau gesessen hatte, an der Stirnseite ihm gegenüber, ins Helle des Fensters, die Köpfe der Söhne im Dunklen.
Von seinem Tod, der nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, sprach er wie von etwas, das nichts mit ihm zu tun hatte. Sein Tod war eine sichere Tatsache, über Tatsachen diskutierte er nicht, und für Sentimentalitäten hatte er auch nichts übrig. Den Söhnen war sein Reden trotzdem peinlich, er [blue]spürte es,[/blue] sah, wie Chris die Hand vors Gesicht nahm und durch die Finger zu Bernhard hinübersah und wie der ihm unauffällig zunickte.
Um die Erbschaft ginge es, um praktische Dinge, die Möbel und das Renovieren der Wohnung und das Begräbnis. Nur gäbe es da noch ein Problem. Nämlich, was solle mit der Bibliothek geschehen? Schließlich sei sie das Wertvollste im ganzen Haushalt, abgesehen von Mutters Handarbeiten.
Chris reagierte als Erster. „Ich bin sechsunddreißig, Vater. Lange mach ich es auch nicht mehr.“ Mager, mit Fingern wie Spinnenbeinen, trommelte er auf den Tisch. „Du weißt, was mit mir los ist. Was soll ich mit deinen Büchern. Wohin damit? Und für wie lange? Ich verkaufe sie nur. Ans nächste Antiquariat.“ Kraftlos, Christoph sträubte sich, den Vater anzusehen, schweifte sein Blick weg vom Vater, durch das Fenster, hinaus zum nachmittäglichen Himmel.
Der Vater schwieg. Der Junge hatte Recht, das musste man bedenken, Chris brauchte Geld. Aber Verkaufen kam nicht in Frage. Aufheben für später, falls mal Enkel kommen, das sollte mit den Büchern geschehen. Damit sie wissen, wie ihr Großvater gelebt hatte, wie auch die Eltern, es wird ihnen niemand mehr sagen können. Jedes Buch atmet die Zeit, in der es entstanden ist.
„Und du, Bernhard? Verkaufst du auch - meine Bücher?“
Bernhard starrte den Vater an. Er kaute an der Lippe, sagte nichts. Plötzlich richtete er sich auf. „Ich nehm sie“, sagte er schnell. „Ich stell sie in den Keller. In der Wohnung hab ich keinen Platz, musst du verstehen, Vater. [blue]Fressen ja kein Brot, deine Bücher.“[/blue]Der Vater nickte bei jedem Satz. Das ginge, in den Keller könnte man sie stellen. „Gut“, sagte er bedachtsam. „Das gefällt mir zwar nicht, so ohne Würde und niemand liest die Bücher, aber zur Not, wenn sich nichts anderes findet, wird es gehen.“
[blue]Dann hatte er doch noch einen Einwand.[/blue] „Aber ist es im Keller nicht zu feucht, ich meine, es sind doch Bücher.“
Chris mischte sich ein. „Nicht in den Keller, das Zeug verfault dort bloß. Das kriegst du fertig, Bernhard, Vaters Bücher in den Keller stellen, zwischen Mäusen und Spinnen.“ Er warf dem Bruder einen verächtlichen Blick zu.
Er überlegte. „Ich nehme sie, Vater“, sagte er dann, [blue]„Platz wird sich finden.[/blue] Wenn du willst, schwöre ich es dir: Ich verkaufe sie nicht. Schreib es so ins Testament.“
Bernhard, erst vierzig, aber schon ein wenig aufgeschwemmt, hob den Blick von der Tischplatte. „Mein Keller ist geheizt. Bei mir verfault nichts. Chris“, er musterte skeptisch den Bruder, „Chris verhungert ohne deine Bücher. Der braucht sie, fürs Überleben, für den Nachschub. Der verkauft sie dir glatt. Bei mir stehen sie wenigstens gut. Geld hab ich. Und zu essen hab ich auch. Und ich nehm ja nicht dieses Zeugs, diese Drogen.“ Der Blick, den er dem Bruder zuwarf, war gehässig.
Er zog den Aschenbecher heran und zündete sich eine Zigarette an. „Übrigens, wie sieht es denn mit Knete aus? Ich meine, falls ich die Bücher mal irgendwo anders unterstellen muss? Die wollen dann Miete von mir.“
Der Vater [blue]verstand nicht, er [/blue]kniff die Augen zusammen, Bernhard hatte ihm den Rauch ins Gesicht gepustet. „Wer? Wer will Miete von dir? Der Hauswirt? Für die Bücher im Keller?“
Bernhard verzog das Gesicht. „Was du schon verstehst. Ich sag, falls ich, nun, falls ich mal umziehe oder so, und wenn ich dann keinen Keller hab, dann muss ich doch für den Platz bezahlen, verstehst du? Und wenn ich dann zufällig kein Geld hab? Hast du noch was auf dem Sparbuch?“
Der Alte antwortete nicht. So war das also, Bernhard, sein Ältester, wollte sich bezahlen lassen! Vom eigenen Vater! Und wofür? Dafür, dass er die Erbschaft annahm? Er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf stieg. „Und du, Chris“, stieß er aus sich heraus, jedes Wort mühsam artikulierend, den Kopf gesenkt, „du sagst, du würdest sie nehmen, meine Bücher? Sie nicht verkaufen? Sie in Ehren halten?“ Plötzlich schämte er sich. In Ehren halten, was für ein großes Wort. „Für später?“, schwächte er ab.
Chris blickte den Vater erschrocken an, legte dann seine Hand auf die des Vaters und beugte sich ihm über den Tisch entgegen. „Schon gut, Vater. Wenn es dir so wichtig ist. Bernhard meint es doch nicht so.“
„Bernhard meint, was er sagt.“ Des Vaters Blick wurde hart. „Was er sagt, meint er.“ Unwillig schüttelte er die Hand des Sohnes ab.
Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. „Da ist noch ein Sparbuch, Chris“, er schnäuzte sich, „es sind nur ein paar Tausend, weit kommst du damit nicht. Für die Miete.“
Er schlürfte zur Anrichte, zog [blue]umständlich[/blue] einen Kasten heraus und entnahm ihm ein in Packpapier eingeschlagenes Heftchen. Schweigend legte er es vor Chris auf den Tisch.
Bernhard war aufgesprungen, der Stuhl schurrte. „Was ist denn nun mit der Erbschaft? War das alles? Dir ging es nur um deine verdammten Bücher? Was hast du denn mit all dem Geld gemacht, das von Mutter? Und ich dachte, Vater, wir hätten noch etwas zu besprechen!“
„Es gibt keine Erbschaft.“ Ruhig blickte er zum Sohn empor. „Nur die Bücher. Nur sie.“ Er wollte noch etwas von Herzenssache sagen, empfand das aber als zu groß, und fügte nur hinzu: „Mutters Geld ist für euch draufgegangen, Junge.“

Der alte Borkmann starb im September. Nachbarn wurden aufmerksam, als sie ihn lange nicht gesehen hatten. Feuerwehrleute brachen die Wohnungstür auf. Verwundert standen sie vor den Büchern. „Ob der Alte die alle gelesen hat? Na, das wird ein ziemliches Räumen geben. Arme Erben“, sagte ein Junger, griff ungeschickt nach einem Buch, es fiel ihm aus der Hand. Er bückte sich, hob es auf. „Kein Ort. Nirgends“, las er laut den Titel, begann zu blättern. Er schlug das Buch zu und zwängte es zurück, ins Regal.
[blue]„Irgendwo ist immer ein Ort“, sagte er. Der andere nickte.[/blue]
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Sehr gut gefällt mir die Beschreibung der Gedanken, die der Mann sich über die junge Frau im Supermarkt gemacht hat.

Ein bisschen unergiebig finde ich persönlich die Gespräche zwischen Vater und Söhnen über das Nehmen oder Nichtnehmen der Bücher. Diese Diskussionen, noch bös verschärft, auch die Gründe, warum der eine Sohn drogensüchtig geworden ist, würden in einem Schauspiel oder Hörspiel mit verteilten Rollen besser zur Geltung kommen.

Deine Geschichte ist immerhin so gut und interessant geschrieben, dass ich sie bis zum Ende in einem Rutsch durchgelesen habe

Ich grüße Dich
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Ja, du hast Recht, man kann an diesen Stellen kürzen, habe ich gar nicht gesehen. Nur mit einer Kürzung hadere ich, denn sie würde dem Text den Hintersinn nehmen: dem letzten Dialogsatz. Hast du "Kein Ort. Nirgends" gelesen? Dem alten Mann geht es wie der Günderrode, er hat keinen Ort mehr, an dem er leben kann und will, diese Welt ist nicht mehr seine Welt. Dafür steht "Kein Ort. Nirgends". Ich brauche einfach dieses brutale, verständnislose Wegwischen des jungen Feuerwehrmannes als Ausklang, worüber der Leser nachdenken mag. Und vielleicht ist es eine Metapher? Meinen allerherzlichsten Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast. Vielleicht kann ich mich irgendwann revanchieren?
 
F

Fitzberry

Gast
Hallo H,
ein leiser, überzeugender Text, den ich sehr gern gelesen habe.
Hier eine der Rosinen, die ich mir herausgepickt habe:

Bernhard wollte erst gar nicht kommen. Keine Zeit, Vater, sagte er, er müsse an die Börse. Von was für Problemen der Vater spreche, das gebe es doch gar nicht, in seinem Alter und Probleme, lächerlich. Aha, um die Erbschaft ginge es also, natürlich werde er kommen. „Ich werd doch meinen Vater nicht allein lassen mit seinen Problemen, was denkst du denn von mir?“
Schöne Grüße

Robert
 

Inu

Mitglied
HALLO H.Fleiss

Warum mich der letzte Satz ziemlich befremdet.

Der alte Borkmann starb im September. Nachbarn wurden aufmerksam, als sie ihn lange nicht gesehen hatten. Feuerwehrleute brachen die Wohnungstür auf. Verwundert standen sie vor den Büchern. „Ob der Alte die alle gelesen hat? Na, das wird ein ziemliches Räumen geben. Arme Erben“, sagte ein Junger, griff ungeschickt nach einem Buch, es fiel ihm aus der Hand. Er bückte sich, hob es auf. „Kein Ort. Nirgends“, las er laut den Titel, begann zu blättern. Er schlug das Buch zu und zwängte es zurück, ins Regal.
[blue]„Irgendwo ist immer ein Ort“, sagte er. Der andere nickte.
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[/blue]

Eine Wohnung wird geöffnet. Ein toter Körper liegt (im besten Fall noch unverwest und nicht unangenehm riechend ) auf dem Bett oder auf dem Boden. Ein junger Feuerwehrmann greift fast unbewusst nach einem Buch auf einem Regal, es fällt, er hebt es auf ... Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, liest er. So weit, so gut. Aber dann hat der Junge in dieser prekären Situation mit dem toten Mann in der Wohnung keinen anderen Gedanken im Kopf als sich filosofische Gedanken zu machen: "Irgendwo ist immer ein Ort!", murmelt er sinnend. Und der andere nickt auch noch verständnisvoll dazu

Verdammt, so abgehoben redet doch niemand, der gerade einen Toten in einer ungelüfteten Wohnung entdeckt hat. Andererseits hat man mir einmal gesagt, dass Bücher und Bücherweisheit in der Ex-DDR einen viel höheren Stellenwert gehabt haben, als im Westen. Die Menschen waren alle irgendwie intellektueller. Glaube ich ja ... nur ... zwei Feuerwehrleute in einer solchen Situation werden sich kaum so geben. Oder?
Es ist mir einfach zu ... salbungsvoll.

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Muss ich drüber nachdenken, Inu. Ich habe die Geschichte genau auf diesen letzten Satz hin geschrieben, ohne ihn hätte ich sie nicht geschrieben. Und die Feuerwehrleute sind ja Neuwestbürger, warum nicht auch junge Männer darunter, die sich so ihre Gedanken machen über die Welt, trotz aller Erfahrungen mit PISA und Vier-Buchstaben-Zeitung? Irgendwie kann man doch heute nicht mehr vom Beruf ausgehen (ohne den Feuerwehrmannberuf in irgendeiner Weise mies machen zu wollen, Gegenteil!), um die Intellektualität eines Menschen benennen zu können. Die Arbeitsbiographien werden doch immer gebrochener. Vielleicht war er, bevor er Feuerwehrmann wurde, Dozent für DDR-Literatur an der Volkshochschule? Soll vorkommen.
 

Inu

Mitglied
Liebe H.Fleiss

Du schreibst:
Muss ich drüber nachdenken, Inu. Ich habe die Geschichte genau auf diesen letzten Satz hin geschrieben, ohne ihn hätte ich sie nicht geschrieben.
Ich denke, die Geschichte ist auch o h n e diesen letzten Satz GUT. Für mich bringt er keine neuen Erkenntnisse. Ich zweifle auch nicht an der Bildung, Klugheit und Sensibilität des jungen Feuerwehrmannes, das ist es nicht, da verstehst Du mich falsch,
nein, auch wenn Du statt seiner einem (Notfall)Arzt oder einem zufällig dazugekommenen "Intellektuellen" die Worte in den Mund gelegt hättest, hätten sie in d i e s e r Situation, ( für mich) ebenso 'weit hergeholt' geklungen.

Aber meine Meinung ist nicht maßgebend. Es waren ja nur so Gedanken ...

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Inu,

ich merk schon, ich kann dich nicht überzeugen.
Und andere Argumente habe ich nicht, als dieses eine: Dass Feuerwehrleute ziemlich abgehärtete Burschen sind, die sich rein gar nichts draus machen, wenn nebenan ein verwester Toter liegt. Ich vermute, die würden sogar gemütlich Frühstückspause neben einer vier Wochen alten Wasserleiche machen. Warum soll sich dieses Abgehärtetsein nicht auch in Worten niederschlagen? Wenn ich den Satz auslasse, endet die Geschichte, finde ich jedenfalls, irgendwie ein bisschen sang- und klanglos, sie schleicht sich aus dem Text heraus wie eine Blindschleiche, die gerade ein Fröschlein verdaut.
Hanna
 

Charlene

Mitglied
Hallo HFleiss,

eine sehr schöne, ruhige und traurige Geschichte, die mir gut gefallen hat. Ich finde nicht, dass du etwas kürzen solltest und auch das Verhalten der Feuerwehrmänner kommt mir nicht abgehoben oder störend vor - klar, ist das keine alltägliche Situation, eine Leiche zu finden, aber gerade deshalb wird man vielleicht auch etwas nachdenklich und philosophisch...?

Tschüs,

~Charlene~
 
H

HFleiss

Gast
Danke, Charlene, für deine Meinungsäußerung. Es kommt ja auch immer darauf an, dass man das Ungewöhnliche erzählt und nicht das Platte, nur "Normale". Wobei ich das Verhalten der Feuerwehrmänner nicht allzu ungewöhnlich finde. Aber jeder hat eben seine Ansicht, damit muss man leben, und ich nehme andere Meinungen durchaus ernst, auch wenn es manchmal ein Spagat ist. Hanna
 



 
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