Die Fee aus dem verlorenen Paradies

Breimann

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Die Fee aus dem verlorenen Paradies

Sie stand unmittelbar vor ihm; mit dem linken Arm berührte er leicht ihren Rücken. Die Reisenden warteten im Gang des Wagons, dicht aneinander gedrängt, drückten sich langsam vorwärts, zerrten und schoben ihre Taschen und Koffer, drängelten ungeduldig zur Ausgangstür des Wagons. Immer mehr Menschen quollen aus den Abteilen und verlangten nachdrücklich ihren Platz in der Schlange.
Die wild gekrausten blonden Haare wurden vom Gebläse am Fenster steil aufgewirbelt und kitzelten seine Nase; ein betörender Duft stieg von ihrer Kopfhaut hoch und weckte Erinnerungen.
Er hatte sie aus dem Nachbarabteil kommen sehen, einen Augenblick lang ihr ebenmäßiges Gesicht bewundert und ihr dann den Vortritt gelassen. Mit einem leichten Kopfnicken hatte sie ihm gedankt. Ihr forschender, erstaunter Blick hatte ihn etwas irritiert. Sie war nicht nur bildhübsch, sonder hatte auch eine gute Figur; das eng geschnittene Kostüm machte sie gertenschlank. Sie wirkte auf ihn wie eine Handelsvertreterin für Parfüme und Schönheitsartikel.
Er dachte nicht im Entferntesten daran, die Bekanntschaft dieser Frau zu machen. Wäre ihr Blick nicht gewesen, hätte er sie längst aus dem Bewusstsein gestrichen. Er dachte an die bevorstehende Begegnung und nichts war wichtig genug, ihn davon abzulenken. Alles hier, das leidige Warten im engen Gang, die kaum zu verstehende Lautsprecherstimme – und sogar die Nähe dieser Frau - machte ihn nervös.
Endlich wurde die Tür geöffnet und es ging vorwärts. Langsam schoben sich die Reisenden vor, stiegen vorsichtig aus der schmalen Zugtür und wuchteten die Gepäckstücke auf den Bahnsteig. Eine Frauenstimme mit reizendem Münchener Akzent begrüßte die neu Angekommenen und zählte eine nicht enden wollende Reihe von Anschlusszügen auf.
Der Trubel und der Lärm waren gigantisch. Männer und Frauen umarmten sich, stießen laute Freudenschreie aus und ließen sich übermütig schwenken. Begrüßungen mit bayrischem Akzent, fragende Ausrufe in englischer Sprache und fröhliches Lachen - dazwischen die Lautsprecherstimmen - bildeten eine Geräuschkulisse, die seine Kribbeligkeit noch steigerte.
Die kraushaarige Frau wollte aussteigen, hielt sich vorsichtig an der Haltestange der Tür fest.
„Warten Sie bitte! Ich trage Ihnen den Koffer gleich raus“, sagte er und wunderte sich, warum er das anbot.
Sie drehte den Kopf, lächelte ihn an und nickte Einverständnis. Ihre Augen hatten die Farbe von blauem Eis. Sie wartete draußen, dicht vor der Wagontür und sah ihm aufmerksam zu, als befürchte sie, dass er mit dem teuer aussehenden braunen Lederkoffer verschwinden könnte. Ihr Gepäck war federleicht; seine eigene kleine Reistasche wirkte dagegen doppelt schwer.
„Bestimmt keine Parfümproben“, dachte er und war versucht, den Inhalt zu erraten.
„Bitte schön, gnädige Frau. - Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“
„Danke“, sagte sie leise und nahm den Koffer entgegen. Ihre Stimme machte ihm ein leichtes Prickeln auf der Kopfhaut. „Sie sind sehr nett. Bleiben Sie länger in der Stadt?“ Da war sie, die Gelegenheit, die er sonst vielleicht nicht ausgelassen hätte.
Er blickte suchend über die Köpfe der Reisenden und vergaß im selben Moment die vor ihm stehende Frau. Der elegant gekleidete Mann lehnte am Wagenstandsanzeiger. Er musterte alle Reisenden – nein, nur die männlichen. Seine verbogene Gestalt wirkte wie ein fleischgewordenes Fragezeichen und das hagere Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch. Es lag wohl an den geschwungenen, besonders hoch gezogenen Augenbrauen.
„Er ist es!“ Er hatte das Passfoto lange betrachtet, hätte das Gesicht überall und in jeder Situation erkannt. Er war gleichzeitig fasziniert und abgestoßen, spürte einen Widerwillen, der ihn hemmte und seine Züge gefrieren ließ.
Er schaute gebannt in die großen Augen mit den schwarzen Schattenrändern, die ihn jetzt erblickten, ihn abfragten und eindringlich wissen wollten, ob er der Richtige war. Er riss sich los und sah die Frau an, die stirnrunzelnd vor ihm stand.
„Entschuldigen Sie! Ich war abgelenkt. Was haben Sie gesagt?“
„Das war nicht zu übersehen! Ob Sie länger bleiben, habe ich gefragt“, antwortete sie mit zornigem Gesicht.
„Ja, ja, zwei Tage - wahrscheinlich. Hab’ mich gefreut, sie kennen zu lernen. Einen schönen Tag noch“; sagte er beiläufig und seine Augen suchten schon wieder nach dem Mann.
„Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte nur höflich sein.“
„Ja sicher“, sagte er und ging an ihr vorbei.
Der Mann sah ihn mit starrem Blick an, verfolgte jeden seiner Schritte aufmerksam. Das Lächeln schob sich erst in das schmale, verkniffene Gesicht, als kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass er es war, auf den er gewartet hatte.
Einen knappen Meter vor dem Mann blieb er stehen, stellte seine Reisetasche auf den Boden und betrachtete den immer noch reglos an der Anzeigentafel lehnenden Mann. Er war groß gewachsen, fast dürr und sein Kopf war völlig haarlos. Der schwarze, schmale Oberlippenbart war leicht geschwungen, gab ihm ein dandyhaftes Aussehen. Die tief liegenden dunklen Augen musterten ihn von den Schuhen bis zum Kopf und blieben an seinem Gesicht hängen.
„Jürgen? – Jürgen Bauer?“
„Ja. - Stimmt. - Und Sie sind Ottmar Schneider.“
„Ja, der bin ich. Aber sag bitte du zu mir, ja?“
„Ja, Ich muss mich nur erst daran gewöhnen. Ich duze mich nicht schnell; mit solcher Vertrautheit muss man sorgsam umgehen“, sagte er mit belehrendem Unterton. Er machte keine Anstalten, dem Mann die Hand zu reichen.
„Natürlich. Wir haben ja Zeit; ein zugiger Bahnsteig ist nicht gerade dazu geeignet, um sich kennen zu lernen; das braucht eine andere Umgebung. Obschon ...“
Ja?“
„Na ja, manchmal muss man die Gelegenheit nutzen. Du hast ja offensichtlich gerade eine Bekanntschaft gemacht – eine reizende dazu. Sie steht übrigens da hinten an der Wurstbude und schaut im Abstand von fünf Sekunden zu uns herüber. – Oder kanntet ihr euch schon?“
„Sie haben – Entschuldigung - du hast uns beobachtet?“
„Nein, nein. Das war zufällig. Ihr saht so – wie soll ich sagen – so passend aus.“
„Passend? Wie meinst du das?“
„Es sah aus, als gehörtet ihr zusammen; manchen Paaren sieht man es einfach an. - Du versteckst sie nicht vor mir?“
„Quatsch! Entschuldige, aber ich kenne sie nicht; ich habe ihr nur den Koffer aus dem Zug gehoben.“
„So? Trotzdem ist sie offensichtlich von dir beeindruckt – wie ich auch. Du siehst gut aus, wenn du mir dieses Kompliment gestattest.“
Jürgens Gesicht wirkte männlich, streng, seine schmalen Lippen, die dunklen Augen und der messerscharfe Nasenrücken wurden von schwarzen, kurz geschnittenen Haaren eingerahmt. Er hatte eine sportliche Figur, ohne übertrieben muskulös zu sein.
„Treibst sicher viel Sport – oder? Wie alt bist du? Dreiunddreißig, nicht wahr?“
„Du weißt es doch. Warum brauchst du eine Bestätigung? Können wir gehen?“
Seine Abneigung stieg wie eine Flut hoch. Er bückte sich schnell zu seiner Reisetasche um sein Gesicht zu verbergen und prüfte den Verschluss sehr gründlich, bevor er sie hoch nahm. „Nicht! Reiß dich zusammen, Jürgen!“
„Ja, gehen wir. Mein Auto steht hinter dem Bahnhof – auf der Südseite.“
Die junge Frau war verschwunden. Ottmar Schneider ging vor, sah sich nicht mehr um. Sein verbogener Oberkörper schien nur mühsam die Balance zu halten und der Kopf sah aus, als wäre der Halswirbel versteift. Er zog das rechte Bein ein wenig nach, ging auf der Treppe tastend und unsicher. Jürgen warf seine Tasche auf den Rücksitz des Mercedes und stieg ein.
„Was ist mit deinem Bein?“
„Verkehrsunfall, selbst verschuldet! Hatte mich ziemlich böse an Rücken und Bein erwischt. Ich habe eine perfekte Prothese - also, bitte kein Mitleid oder so. Klappt alles ausgezeichnet; die neuen Gelenke sind wahre Wunderwerke der Technik.“
„Ja. Fährst du mich bitte zum Hotel? Ich habe im Bayrischen Hof gebucht.“
„Was? Wieso denn das? Du überrascht mich, Jürgen! Warum willst du nicht bei mir wohnen? Ich habe dir geschrieben, dass ich Platz genug habe; ich wohne alleine in dem großen Haus in Giesing.“
„Sei nicht böse, aber ich kann nicht. Ich muss mich erst an alles heran tasten – besonders an dich. Ich kann mir im Augenblick nicht vorstellen, mit dir am Abend bei smal talk vor dem Karmin zu hocken, Rotwein zu trinken, am Frühstückstisch über die Vorzüge weichgekochter Eier zu philosophieren und den Duft des Kaffees zu bewundern. Nein!. Später – vielleicht.“
„Schade! – Mein Rotwein ist ausgezeichnet – und die Frühstückseier sind bei meinen Freunden berühmt.“ Er lachte flach und freudlos.
Sie schwiegen auf der Fahrt durch die belebte Innenstadt. Jürgen sah immer wieder unauffällig auf den Fuß, mit dem Ottmar Schneider offensichtlich routiniert, ohne technische Hilfe, Gas gab und bremste. Vor dem Hotel stellte er den Motor ab und öffnete den Sicherheitsgurt.
„Bleib bitte sitzen. Ich gehe alleine ins Hotel. Wir können uns ja für den Abend verabreden. Wie wäre es, wenn wir hier gemeinsam essen?“
„Ja, wenigstens das. - Ich will nicht verschweigen, dass ich enttäuscht bin. Ich hatte mir das alles etwas anders vorgestellt.“
„Mag sein. Aber ich kann nicht so tun, als wäre das ein Treffen wie jedes andere.“
„Also gut. Wir werden sehen. Jedenfalls hast du dir ein feines Hotel ausgesucht. An Geldknappheit scheinst du nicht zu leiden. Noch einmal, ich bedaure deine Entscheidung, aber ich akzeptiere sie. Treffen wir uns um sieben im Hotelrestaurant?“

Leise Klaviermusik perlte durch die verdunkelte Bar; die wenigen Männer und Frauen, die auf den gepolsterten Hockern saßen, sprachen gedämpft miteinander. Schmeichelnd warmes Licht flutete aus tief hängenden Lampen.
Er suchte sich einen Platz, von dem er freien Blick auf den Eingang hatte. Er war früh nach unten gegangen, weil er es nicht mehr länger mit sich ausgehalten hatte. Die ständigen Rückblicke, die nagenden Zweifel, das beklemmende Schuldgefühl, zermürbten ihn.
„Ein Wasser bitte.“
Der Barkeeper nickte gelangweilt, trug ein leicht herablassendes Lächeln im Gesicht; er war wohl prominentere Gäste – und anspruchsvollere Drinks - gewöhnt. Er hielt ein Weinglas vor das matte Licht, drehte es bedächtig, als suche er Lippenstiftspuren.
Jürgen hatte keinen Durst, trank langsam, sah dabei durch das Glas auf die anderen Gäste, die keine Notiz von ihm nahmen.
Er spürte den Blick fast körperlich, als er das Glas absetzte. Sie saß an der Schmalseite der Bar; ihr blaues Kostüm erinnerte ihn einen Augenblick lang an die Stewardess, die ihm beim letzten Amerikaflug einen Orangensaft über den Anzug gegossen hatte. Sie lächelte ihn mit ihren Eisbergaugen an und er dachte an die verunglückte Verabschiedung auf dem Bahnsteig.
Jürgen lächelte leicht gequält zurück, nahm sein Glas und ging langsam auf sie zu. Die Männer und Frauen an der Bar wurden aufmerksam, beobachteten ihn, warteten die Entwicklung gespannt ab. An diesen Kontaktbörsen konnte man sich der versammelten Aufmerksamkeit, der Bewunderung bei Erfolg und der hämischen Schadenfreude bei einer Abfuhr, durchaus sicher sein.
„Hallo! Wir sehen uns schneller wieder, als ich gedacht habe.“
„Ja“, sagte sie flach und saugte geräuschlos an dem Strohhalm, der in einem giftgrünen Getränk steckte.
„Sind Sie mir böse? Ich meine, weil ich auf dem Bahnsteig so kurz angebunden war.“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe hoffentlich nicht den Eindruck gemacht, als wollte ich Sie anmachen.“
„Nein, natürlich nicht! Also, ich stelle fest: Sie sind sauer.“
„Quatsch! Kein bisschen! Warum auch? Sie haben meinen Koffer aus dem Zug gehoben und ich habe mich bedankt. Mehr war und ist nicht. Wollen Sie mich jetzt anbaggern?“
„Nein! Mir ist nicht nach ‚anbaggern’! Ich wollte nur mein Verhalten erklären.“
„Haben Sie Ärger?“
„Ich habe keinen Ärger! Warum fragen Sie?“ Seine Stimme klang viel zu scharf und er wurde wütend, als er es bemerkte.
„Ach, nur so. Sie sehen so aus – oder schauen Sie immer so todernst in die schöne Welt? Ich bin übrigens in manchen Dingen sehr altmodisch, ich möchte immer wissen, mit wem ich mich unterhalte.“
„Entschuldigen Sie! - Ich heiße Jürgen – Jürgen Bauer.“ Dabei lächelt er leicht verkrampft.
„Ich dachte schon, sie hätten kein Lächeln. Solls ja geben! Gibt’s nicht sogar eine Geschichte darüber?“
„Mag sein; ich kenn’ mich da nicht aus. Tatsächlich bin ich zu Ihnen gekommen, um mich zu entschuldigen – nichts anderes.“
„Ach? Haben Sie sich damit entschuldigt? Und was soll ich jetzt tun?“
„Nun, ich bin auch altmodisch. Zuerst sollten Sie mir sagen, wie Sie heißen.“
„Elke, Elke Freund.“
„Nomen est omen? – Jedermanns ‘Freund’? Wenn es so ist, dann könnten Sie mir auch sagen, dass Sie sich über unser Wiedersehen freuen.“
„Aha! Sie können ja scherzen – und das mit einer Frau! Ich dachte schon, Sie möchten keine Frauen leiden. Oder bin ich Ihnen nicht hübsch genug?“
„Nein - für beide Fragen. Ich bin aus dem Zimmer geflüchtet, weil ich meine Gegenwart nicht mehr ertragen konnte; ich dachte, dass es hier Zerstreuung geben könnte.“
„Und dazu bin ich nicht geeignet?“
„Sie haben den smal talk, der an Bars üblich ist, gut drauf. Sie sind geübt – oder täusche ich mich?“
„Und Sie sind absolut grün darin! Ihre Art der Konversation ist ermüdend und langweilt.“
„Oh! So ist das? Ich wollte Sie nicht langweilen; aber vielleicht können wir uns auch mal normal unterhalten.“
„Sicher – wenn Sie es unbedingt ernster wollen?“
„Ach, strengen Sie sich nicht an. Ich bin auch schon so gut wie weg; ich bin verabredet.“
„Ach? Kommt er wieder – der Mann vom Bahnhof?“
„Sie haben es nicht vergessen? Ja, ich erwarte ihn jeden Moment.“
„Wirklich? - Das ist gut! - Ich meine, für Sie. Ist das ein Verwandter?“
„Nein, nein. Wie kommen Sie darauf? Wir sind nur bekannt!“
Er fühlte, dass er rot wurde, sah ihre gerunzelte Stirn und den forschenden Blick, der ihm schon im Zug aufgefallen war. Er ärgerte sich maßlos, hatte keine Erklärung, warum er sie belog.
„Sind Sie schwul?“ Ihre Augen blitzten und ihr Mund zeigte die weißen Zähne.
„Was – wie meinen Sie das? Geht das Bargequatsche schon wieder los?“
„Na, wenn einer bei der Frage nach einem Bekannten so rot wird wie Sie, dann hat er ein schlechtes Gewissen – oder etwas zu verbergen. Außerdem war’s ein Scherz.“
„Und Sie meinen, weil ich schwul wäre, hätte ich Sie auf dem Bahnsteig nicht angebaggert?“
„Genau! Sie haben recht – das passt!“
„Blödsinn! Ich bin weder schwul noch verklemmt. Ich habe Sie allerdings belogen. – Er ist so was Ähnliches wie ein Verwandter. Er nennt sich mein Vater. Also, – wie soll ich’s sagen? - Er ist ... Himmel, warum erzähle ich ihnen das? Und das in einer Bar! Er ist mein Erzeuger, mein Produzent!“ Sein Lachen klang gekünstelt und schief.
„Das hört sich schrecklich an, was sie da sagen – kalt und verächtlich.“
„Was sagt man denn sonst dazu? Vater? Papa? - Das sind klar definierte Begriffe - und die passen hier nicht.“
„Oh! Da haben Sie mir aber gerade in ein paar kurzen Sätzen ein ganzes Drama angedeutet. Sicher ist das eine bewegende, zu Tränen rührende Story.“
„Vergessen Sie’s! Das geht Sie kaum was an. Eine andere Frage: Wie lange werden Sie in München bleiben`“
„Bis Montag. Ich habe geschäftlich in München zu tun und bin einen Tag früher angereist. Ich will morgen in die Neue Pinakothek. Waren Sie schon mal da?“
„Äh, nein - nur in der Alten. Aber hören Sie, das ist prima. Ich könnte Sie begleiten! Hätten Sie etwas dagegen?“
Er sah sich schnell um und musterte die Männer, die gleichgültig an ihren Getränken nippten, dabei aber keinen Blick von ihnen ließen. Es war noch immer nicht viel los; der richtige Betrieb begann erst um Mitternacht.
„Das tut mir leid; ich bin schon verabredet. Leider! Das geht nicht gegen Sie. Aber ich kann Sie entschädigen; wir könnten uns doch morgen Vormittag treffen. Ich möchte ihre Geschichte gerne in Langform hören. Aber bilden Sie sich nichts ein! Ich will Sie nur treffen, um die ganze Wahnsinnsgeschichte zu hören, die sie gerade angedeutet haben. Ich bin Schriftstellerin und da interessieren mich solche Erlebnisse. Vielleicht mache ich daraus ein Stück für das Theater am Dom, unser Kölner Boulevardtheater. - Aber nur, wenn die Story gut ist.“
„Ich fass es nicht! Sie sind aus Köln?“
„Ist das ein Wunder? Es soll dort eine ganze Reihe junger Frauen geben.“
„Ja, ja. Ich meine ja nur, weil ich auch aus Köln komme – also dort wohne und arbeite. - Ich bin Bankfachmann.“
„Hier bist du! Guten Abend, gnädige Frau!“
Er fuhr herum und starrte Ottmar Schneider an, der anzüglich grinste.
„Mein Sohn wollte mir weismachen, dass er Sie nicht kennt - aber das habe ich ihm nicht ganz abgenommen. - Sie sind seine Freundin, stimmt´s?“
„Ja, sicher. - Elke Freund. Wir kommen beide aus Köln.“
Ottmar Schneider schluckte mehrfach; man sah seinen kantigen Adamsapfel hüpfen. Seine Augenbrauen zogen sich noch ein Stück höher – dann lächelte er freundlich.
„Das ist ja eine überraschende Information.“
„Also, hören Sie – das ist doch ...“ Jürgen wurde schon wieder rot und starrte die Frau an. „Wie kommen Sie dazu, so was zu sagen? Wir kennen uns doch gar nicht. Was soll Herr Schneider von mir denken.“
„Vater! ‚Was soll mein Vater von mir denken?’, müssen Sie sagen. Ich sehe, Sie lernen noch. Und – sind wir nicht schon ein wenig befreundet? Ihr Vater hat nicht gefragt, ob wir zusammen schlafen, und auch nicht, ob ich weiß, wie Sie den Kaffee gerne mögen. Sagten Sie nicht vorhin, dass Sie mich gerne wieder treffen würden? Sagt man das zu einer Fremden?“
Sie lachte leise und er spürte wieder das Kribbeln auf der Kopfhaut. Er sah in das lächelnde Gesicht seines Vaters und wusste, das er nicht gerade souverän wirkte; er kam sich albern vor.
„Na gut! Sie haben gewonnen.“
Er wollte die Geschichte jetzt selber in die Hand nehmen. „Können wir uns morgen, nach dem Frühstück, im Foyer treffen – sagen wir um zehn?“
„Treffen wir uns doch um neun, noch vor dem Frühstück; dann weiß ich auch gleich, wie Sie den Kaffee gerne trinken.“
„Oh, mein Gott! Jetzt glaube ich dir, mein Sohn. Du kennst sie wirklich nicht!“
Ottmar Schneider gab ihr die Hand und machte tatsächlich einen Diener. „Würde gerne beim Frühstück dabei sein, aber da störe ich sicher nur. Wir müssen uns jetzt leider von Ihnen verabschieden. Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder.“
„Kann durchaus sein. Ich bin häufiger in München – und heute hier im Hotel“, sagte sie betont.
Jürgen gab ihr ebenfalls die Hand, hielt sie länger fest als üblich und stoppte im letzten Augenblick den Reflex, der ihn zu einem Diener verleiten wollte.
„Wir sehen uns – und einen schönen Abend noch.“
Sie winkte lässig und sah seinen Vater lange an – mit ihrem forschenden, fragenden Blick.

Sie hatten sich schweigend auf das Essen konzentriert und nach der Bestellung nicht mehr gesprochen.
„Der Hirschbraten hat ausgezeichnet geschmeckt“, sagte Ottmar Schneider auf die Frage des Obers, der die Teller abräumte. Jürgen nickte schweigend seine Zustimmung.
Er überlegte krampfhaft, wie er das Gespräch beginnen sollte und betrachtete das Gesicht des Mannes, der so plötzlich in sein Leben gekommen war. Lange – fast unangenehm lange – erforschte er das schmale Gesicht mit den tief liegenden Augen. „Die Schonzeit ist vorbei!“, dachte er.
Vor ihm saß ein Fremder, ein völlig unbekannter Mann, der ihm nichts sagte, der nichts in ihm bewegte oder anregte - weder durch Aussehen, noch durch Gesten oder Mimik.
„Nicht mehr als eine flüchtige Geschäftsbeziehung“, dachte er erleichtert. „Dieser Mann fängt mich nicht ein!“
„Möchtest du nicht doch etwas von dem ausgezeichneten Wein trinken, Jürgen?“ Ottmar Schneider zeigte auf die noch halb volle Weinflasche, aus der er bisher alleine getrunken hatte.
Jürgen hatte sich geschworen, einen klaren Kopf zu behalten. Er wusste nur zu gut, dass seine Zunge verrückt spielen konnte, wenn er zu viel Alkohol im Blut hatte.
„Nein, danke, mir reicht das Wasser. Ich meine, wir sollten jetzt zum Thema kommen. Ich bin dreiunddreißig – wie du ja weißt“, sagte er und lächelte höhnisch. „Wenn ich richtig rechne, müsstet ihr euch 1968 getroffen haben.“
„Warte! Lass uns richtig beginnen. 'Getroffen' stimmt nicht - so kannst du das nicht beschreiben, was damals war. Wir lebten schon länger zusammen, schon das ganze Jahr davor. Wir hausten in einer WG in Schwabing, in einem der alten Häuser, die vom Erdgeschoss bis zum Dach mit WGs vollgestopft waren.
Es war eine berauschende Zeit. Und auch in diesem herrlichen Sommer, den du meinst, haben wir gelebt, geliebt und geträumt - und geglaubt, die Zeit bestünde nur aus dem Jetzt. Zeit erlebten wir als etwas absolut Gegenwärtiges; keiner dachte an Zeit als etwas Vergangenes und Vergängliches – und erst recht nicht an die Zeit, die vor uns lag.“
„Nein, jetzt wartest du! Du hast mich nicht ausreden lassen. Mir ist es egal, wie du das umschreibst, was du oder ihr damals empfunden habt, wo ihr gelebt habt, wie ihr mit der Zeit umgegangen seid.“
„Und das ist schade – du kannst sonst nicht verstehen, warum wir so gelebt haben.“
„Das will ich auch nicht; es interessiert mich einfach nicht. Ich wollte etwas anderes ansprechen, etwas, was erklärt, warum wir jetzt hier sitzen. Nach rund vierunddreißig Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt der Zeugung - wenn du diesen Ausdruck gestattest - suchst du das Produkt dieser ‚Wir-leben-jetzt-Beziehung’. Warum?“ Ottmar Schneider sah ihn reglos an, machte den Mund nicht auf.
„Warum jetzt? Warum nicht viele Jahre früher? Warum hast du Felizia nicht gesucht, als sie noch lebte? Sie war doch deine Freundin, die du geschwängert, dann im Jetzt-Zeitgefühl irgendwie vergessen hast - zwischen Haschpfeife und anderen Mädchen.“
„Du bist verbittert und selbstgerecht. Dafür habe ich sogar Verständnis; sei aber bitte nicht ungerecht, denn du weißt nichts oder nur sehr wenig über die Vergangenheit. Wie auch? Deine Mutter, Felizia – für uns hieß sie damals nur Fee - wird dir kaum eine objektive Schilderung geliefert haben.“
„So? Dann erfahre ich diese objektive Seite jetzt von dir? Du bist also objektiv? Glaubst du das wirklich?“
„Die Meinung kannst du dir später selber bilden; du bist klug genug dazu. Aber als Bankfachmann – wenn ich es richtig gehört habe, sogar Bankmanager – solltest du wissen, dass man nicht auf der Basis einer einzigen - noch dazu ungesicherten - Information entscheiden darf. Nicht, wenn es um viel geht – und das ist hier der Fall!“
„Gut, einverstanden. Zuerst wollen wir uns aber meiner zentralen Frage widmen. Warum jetzt?“
„Diese Frage habe ich erwartet. Ich gestehe, ich beantworte sie nicht gerne. Gibst du mir die Möglichkeit, sie zu umgehen? – Oder bist du wenigstens mit einer halben Antwort zufrieden?“
„Zufrieden? Nein. Aber ich kann dich nicht zwingen. Du sitzt hier nicht vor einem Untersuchungsausschuss und musst auch nicht mit Beugehaft rechnen.“ Er lachte bitter und beugte sich vor. „Aber durchaus mit der Möglichkeit, dass ich aufstehe und gehe.“
„Nicht Jürgen! Bitte lass es nicht so ausgehen. Ich will den Versuch einer Antwort machen. Ich bin jetzt sechsundsechzig, war also damals so alt wie du. Erstaunlich, nicht wahr? Das fällt mir gerade erst auf.“
Ottmar Schneider sah seinen Sohn nachdenklich an. „Du siehst gut und gepflegt aus – soll ich sagen, du siehst aus wie ein erfolgreicher Manager? Und ahnst du, wie ich – wie wir - damals aussahen, wie verlottert wir durch die Welt liefen?
Weißt du etwas über die so genannte Hippiegeneration? Wir legten keinen Wert auf Aussehen, Kleidung, Sauberkeit, Wohnqualität, Sicherheit oder was auch immer die Wertmaßstäbe der ‚zivilisierten’ Bevölkerung ausmachte. Wir lagen vom frühen Morgen bis in die Nacht unter dem Monopteros im Englischen Garten und pafften alles, was einer irgendwo, irgendwie besorgt hatte. Wenn es zu kalt war, regnete oder schneite, dann hockten wir in unseren WGs, die so herunter gekommen waren wie wir, in denen meistens der Haschrauch wie dichter Nebel im Raum hing.
Wir waren ... Ja, was waren wir? Die ‚normalen’ Bürger spazierten naserümpfend und schimpfend an uns vorbei. Den Kindern wurden wir als abschreckendes Beispiel gezeigt. ‚Schau Bub, so endet man, wenn man nicht auf den Vater hört!’ Sie beschimpften uns als Subkultur, als wenn das eine Klassifizierung wäre, die Unordnung, Dreck, Arbeitsunlust, Drogenkonsum und unkeusche Liebe in sich verbergen würde.“
„Hatten die Leute nicht recht? Andere, die so genannten 68er, hatten wenigstens Ziele – ob falsch oder richtig. Sie unternahmen wenigstens etwas – wenn auch meist Falsches. Die wollten die Gesellschaft verändern. – Aber Ihr? Ihr ward das Treibgut dieser Zeit, das in den Englischen Garten gespült wurde und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ.“
„Na ja, von Gott wollten wir nichts wissen. Unser Paradies war schon da, wir mussten es nicht herbei beten.“
„Aha! Paradies! Ich verstehe; und wer daraus vertrieben wurde – durch bestimmte Umstände – der konnte das sein Leben lang nicht verwinden. Der hasste alle, die ihn verjagt hatten – oder die er dafür verantwortlich machen konnte.“
„Nein – ich meine, das weiß ich nicht. Ich habe nie gehasst! Sicher, wir konnten uns damals kein Leben vorstellen, das man als ’bürgerlich’ bezeichnet. Aber hassen ... Wie meinst du das denn?“
„Vergiss es! Und die Ergebnisse dieser paradiesischen Zustände, der freien Liebe, also Kinder wie ich, die waren die dummen Unfälle, die man nicht hinnehmen wollte, weil sie einer Vertreibung aus dem Paradies gleich kamen? Stimmt´s? Ihr ward eine egoistische, faule, selbstverliebte und gewissenlose Bande!“
„Sicher, aus heutiger Sicht würde ich zu nicht ganz anderen Urteilen kommen - mit Ausnahme des Ausdrucks ‚gewissenlose Bande’, passt deine Formulierung. Aus heutiger Sicht - wohlgemerkt. Damals bestanden unsere Tage aus Rausch, einem irrsinnigen Freiheitsgefühl, aus der totalen Auskostung aller Gefühle – einschließlich der Liebe und dem Sex. Wir lachten über die Spießer und ihre verquasten Moralpredigten. Ob du es glaubst oder nicht, die Polizisten, die sich immer wieder bei uns sehen ließen, waren uns nicht so wichtig wie das Wetter. Wir beteten die warmen Sonnentage herbei und verfluchten die nassen und kalten Nächte.“
„Wie war Felizia, oder Fee, wie du sie nanntest?“
„Fee! Ja, wie war sie? Wie kann ich sie dir beschreiben? - Sie war wie eine – entschuldige meinen Ausdruck – wie eine Göttin der Liebe. Mit ihrer kindlichen Gestalt, dem fröhlichen Mädchengesicht mit den großen, traurigen Augen, sah sie ganz anders aus, als die restlichen Mädchen, die oft verkommen und gewöhnlich waren. Sie schwebte über dem Rasen des Englischen Gartens mit ihren langen Beinen und den stets nackten Füßen, tanzte bei jeder Musik bis zur Erschöpfung und verfiel plötzlich in tiefes Nachdenken.
Dann konnte sie hemmungslos weinen, verfluchte sich, mich und unser ganzes Leben. In dieser Stimmung zog sie mich oft abseits und wollte sofort geliebt werden; danach war sie wieder die fröhliche, unbeschwerte Fee, um die mich alle beneideten.“
„Warum war sie so, so ... Waren die anderen Mädchen auch so schwankend zwischen paradiesischem Glück und tiefer Depression? Lag’s an euren Drogen`“
„Ich glaube nicht – nicht ursächlich. Ihre Mutter ist früh gestorben und ihr Vater ... Hat sie dir nie erzählt, was sie erlebt hat?“
„Mir erzählt? Nein! Ich weiß über die Münchener Jahre weniger als über das Privatleben der Queen.“
„Sie musste ihre drei jüngeren Brüder, allesamt wilde Burschen, betreuen. Sie spielte als Kind die Rolle einer Mutter und war all dem nie gewachsen. Sie hasste ihre quäkenden, quengelnden Brüder und war vom Morgen bis zum Abend überfordert und verzweifelt.
Ihr Vater kümmerte sich nicht um seine Kinder, hat sie im Suff geschlagen und Fee für alle Missstände verantwortlich gemacht. Sie flüchtete an dem Tag, an dem sie achtzehn wurde. Ihr Vater lag besoffen im Bett und die drei Brüder schlugen sich im Kinderzimmer die Möbel um die Ohren. Sie ging mit einem Bündel, in dem gerade mal zwei Kleider, etwas Unterwäsche und ein paar Schuhe steckten. Mehr gehörte ihr nicht.
Irgendwie fand sie zu uns; ich glaube, eine Mitbewohnerin hat sie im Englischen Garten aufgelesen. Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, beschützt, aufgebaut und ins Leben zurück geholt. Alles, was mit Familie zu tun hatte, war für sie ein Gräuel und regte sie furchtbar auf.
Mit mir und meinen Freunden erlebte sie die schönste Zeit ihres Lebens; sie war fast immer glücklich. Nur manchmal fiel sie wieder in die alte Traurigkeit; deshalb brauchte sie mich dann ganz nah bei sich - wie eine abrufbare Sicherheit. Sie wollte nie mehr anders leben, als so - und nie ohne mich, sagte sie immer wieder.“
Jürgen sah Ottmar Schneider mit weit aufgerissenen Augen an; seine Gedanken glitten weg, verirrten sich in Tagen, Monaten und Jahren, in denen er mit der Frau zusammen gelebt hatte, die niemals diese Fee gewesen war. Niemals!
Er versuchte vergeblich, sich seine Mutter vorzustellen, wie sie ihm gerade geschildert wurde, aber ständig schob sich das Gesicht der missmutigen, ungepflegten und keifenden Frau dazwischen, deren gelbe faltige Haut wohl keinen Mann reizen konnte. Er seufzte, schüttelte den Kopf und trank sein Glas leer.
„Nun, so weit also die verklärte Rückschau. Es muss ein Hochgenuss für dich sein, wenn du mit Freunden am Karmin sitzt, ein Glas Rotwein in der Hand hältst, den verträumten Blick auf das flackernde Feuer gerichtet hast und mit entrückter Miene die glorreiche und paradiesische Vergangenheit beschreibst. ‚Ja, ja, meine lieben Freunde, es waren tolle Zeiten damals!’ Wie die dich dann bewundern!“
„Du bist zynisch und gemein. Warum? Ich bin nicht blind. Es war nicht alles richtig, was wir gemacht haben, ganz bestimmt nicht – aber auch nicht alles falsch. Wir wollten dem Leben einen Sinn geben, einen, den wir bei keinem Politiker, keinem Kleriker unserer Zeit fanden.“
„Fadenscheinig! Man findet für alles eine Begründung. Noch einmal: warum jetzt? Überhaupt, wie hast du mich gefunden?“
„Eine Detektei. Es war nicht ganz so einfach. Ich wusste nichts von dir. Ich hatte keine Ahnung, dass du existiertest. Fee wohnte noch in München, als wir uns trennten – in unserer WG. Sie ist später, ohne Abschied von ihren Mitbewohnern zu nehmen, mit unbekanntem Ziel verschwunden. Natürlich hielt sie solche amtlichen Vorschriften wie eine Abmeldung für lächerlich. Wir fanden ihre Spur mit viel Glück in Köln wieder; ich war entsetzt, als ich von ihrem Tod erfuhr. Als ich dann hörte, dass sie einen Sohn – dass wir einen gemeinsamen Sohn hatten, da ging die Suche wieder los. Du warst zuletzt lange in den Staaten; die Detektei hat viel Mühe gehabt, dich zu finden. Ja, ich habe Felizia suchen lassen und dich gefunden.“
„Langsam, langsam! Du willst mir erzählen, dass du nach all diesen Jahren - als alter Mann - deine damalige Geliebte gesucht und so ganz nebenbei einen Sohn gefunden hast? Das ist was für Pilcher-Romane, aber nicht für die Wirklichkeit. Was wolltest du jetzt von meiner Mutter?“
„Nichts – nichts, was ich mit Worten genau beschreiben könnte. Sagen wir es einfach mal so: Ich wollte sie noch einmal sehen, weil es für jeden ein Schlussreinemachen gibt – ungefähr so, wie vor dem endgültigen Verlassen der Wohnung.
Ich bin in dem Alter, in dem man zurück blickt - und auch ein Stück nach vorne. Ich weiß heute um die Vergänglichkeit der Zeit und bin in dem Alter, in dem man verstärkt zurück schaut. Anders als damals, weiß ich heute, was Zeit ist; sie läuft mir weg wie feiner Strandsand, der durch die Finger läuft und ebenso spurlos verschwindet.“
„Wie nanntest du das? ‚Schlussreinemachen’ als Prophylaxe für den Fall einer plötzlichen Abberufung? Willst du damit sagen, dass du eine Wiedergutmachung anstrebtest, so was Ähnliches wie einen Ablasshandel? ‚Schau, lieber Gott. Ich hab doch alles glatt gebügelt, bevor ich abgetreten bin. Kann ich als gereinigt gelten? Darf ich ins himmlische Paradies?’ - Paradiese haben ja offensichtlich eine enorme Anziehungskraft auf dich.“
„Noch einmal: Du bist ein Zyniker, Jürgen! Bist du es immer oder nur mir gegenüber? Was hat dich dazu gemacht? Bin ich daran schuld? War es der fehlende Vater oder die versagende Mutter? Entschuldige meine ebenfalls zynische Reaktion. Ich wollte das nicht, aber du bestimmst hier den Ton und das Thema.“
„Ach so, ich bin dir gegenüber zynisch? Was hast du denn erwartet? - Nun, wie auch immer. Du willst also sagen, dass es Gründe für dich gibt, jetzt dieses – wie nanntest du das noch – Schlussreinemachen zu veranstalten. Nur, jetzt mit mir, statt mit meiner Mutter. Darf ich fragen, was das für Gründe sind?“
„Nein! Das ist der Teil, den ich nicht beantworte.“
„Du musst es wissen – und ich muss dir nichts glauben. Aber egal. Was gehört alles zu dieser Säuberungsaktion? Gibt es noch mehr paradiesische Abfallprodukte – solche wie mich?“
„Wie gesagt, ich interessiere mich sehr für die Frage nach dem Grund deiner Bitterkeit. Denk einmal darüber nach, wenn du alleine bist. Du hältst dich vielleicht für flapsig, mit deinem Intellekt über den Dingen stehend, willst deine Unsicherheit verbergen; aber du merkst nicht, dass du auf dem besten Wege bist, ein verbitterter Zeitgenosse zu werden, den die Menschen meiden.“
„Die erste Gardinenpredigt von meinem Vater! ‚Ach Papa, was habe ich falsch gemacht? Mein Sohn, höre auf deinen erfahrenen Vater, den das Leben geprägt hat.’ - Ich glaube, aus dem Alter bin ich heraus.“
„Das ist man nie! Aber in einem Punkt hast du recht: Das Leben hat mich geprägt – sehr sogar.“
„Ja, das denke ich mir auch. Mich bewegt schon seit einer halben Stunde eine Frage: Wie bist du aus dem Hippieleben in eine gut bürgerliche Existenz und gleichzeitig zu Wohlstand gekommen? Hattest du im Lotto gewonnen?“
„Lotto ist gut! Das wäre damals so ziemlich das Letzte gewesen, was uns hätte einfallen können. Nein. Ich habe geerbt; von meinen Eltern, die ich durch meinen Lebensstil unglücklich gemacht habe und zuvor schon von meinem Onkel, der immer an mich und die Rettung seines Patenkindes aus dem teuflischen Hippiesumpf geglaubt hat.“
„Da hast du ja ziemliches Pech gehabt, was? Deine Kumpane haben sich sicher schimmelig gelacht über den reichen Haschbruder.“
„Na ja. Gelacht haben sie weniger; gebettelt haben sie. Ich erbte einen Zeitungsverlag und einige Immobilien. Da musste ich meinen Lebensstil einfach ändern – es hing zu viel daran. Ich konnte es selber kaum fassen, wie schnell ich das sorglose in den Tag hinein leben satt hatte. Ich begriff schlagartig, dass wir Monopterosjünger auf dem Holzweg waren. Auf einmal waren Verantwortungsgefühl und Geschäftssinn wichtiger als alle Lebenslust. Das war der Zeitpunkt, an dem deine Mutter und ich uns trennten.“
„Klar! Bei dem riesigen Vermögen und der neuen Verantwortung, da passte das Hippiemädchen nicht mehr rein. Da musste ein Schlussstrich gezogen werden. ‚Das musst du verstehen, meine liebe Fee. Du bist viel zu verlottert, viel zu sehr Hippie.’ Und du hast das alles ohne Gewissensbisse gemacht, nicht wahr? Sie war ja nur eine Episode, die man ruhig vergessen konnte. Jugendsünde? Passt das? Du warst geläutert, wie etwas später auch unser heutiger Außenminister. Ja, ja, man entwickelt sich.“
„Du verdrehst die Dinge. Sicher, man entwickelt sich und später fragt man sich, wie man damals so hat leben und handeln können - aber es war alles anders, als du es darstellst.“
„Sicher, ich vergaß völlig. Du hast ja die objektive Sicht versprochen. Also?“
„Nein, es war wirklich anders. Habe ich sie verlassen? – Oder hat nicht vielmehr sie mich verlassen? Sie wollte meinen neuen Weg nicht mitgehen; sie hat mich ausgelacht, angeschrien – sogar mit ihren kleinen Fäusten attackiert. ‚Du verrätst uns, mich und deine Freunde, bloß wegen dem saublöden Geld!’, hat sie gebrüllt. Wir sind auseinander gegangen – sie nach links und ich nach rechts. Wer hat wen verlassen? Ich weiß es nicht. Du? Hat sie dir gesagt, ich hätte sie verlassen?“
Eigentlich sah Jürgen seinen Vater zum ersten Mal wieder voll in die Augen, seitdem die Teller abgeräumt waren. Das asketisch wirkende Gesicht seines Vaters – er dachte „des Herrn Schneider“ – sah grau und krank aus.
Jürgens forschender Blick wurde sehr ruhig beantwortet; er hatte sogar das Gefühl, dass sich ein Lächeln in die schwarz umrandeten Augen schob. Erbarmen? Mitleid mit diesem alten Mann, der sein Erzeuger war? Er spürte nichts, was ihn hätte mäßigen können.
„Ja, hat sie. Und sie hat einen solchen Zorn auf dich gehabt, dass sie dir das Kind nicht gegönnt hat, das da kam. Deshalb verschwand sie aus München! Wenn du glaubst, dass ich dir nachtrage, ohne Vater aufgewachsen zu sein, dann irrst du gewaltig. Wir haben dich nicht vermisst! Wir brauchten dich nicht! Nie! An keinem Tag meins Lebens!“
Er war immer lauter geworden, bemerkte nicht, dass sich die Köpfe der Gäste hoben und zu ihnen drehten.
„Du hast nichts vermisst? Jürgen, du lügst. Warum bist du hier? Wolltest du mir nicht vorwerfen, dass dir der Vater gefehlt hat? Darauf bin ich vorbereitet. Wolltest du nicht Entschuldigung und Demut verlangen von dem Mann, der dich in der Kindheit nicht begleitet hat? Das wollte ich tun.“
„Nein, nichts davon! Es gab nur einen Grund, warum ich deinen Brief beantwortet habe, warum ich heute hier sitze und meine Zeit vertue. Nur die Frage nach dem Anlass für das späte Erinnern, das ist es, was mich beschäftigt.“
„Nicht mehr? Du willst nichts wissen? Dich interessiert nicht, wer dein Vater ist, was für ein Mensch er ist, wie er denkt und lebt?“
„Nein, es interessiert mich wirklich nicht.“
„Dann bist du gekommen, um dich zu rächen – nur darum. Auch wenn du es nicht wahr haben willst, Jürgen. Du willst Rache für alles, was dir wiederfahren ist.“
Eine heiße Welle der Wut über all das, was sein Leben beeinflusst hatte, was hier als paradiesische Episode glorifiziert wurde, schoss plötzlich in Jürgen hoch. Er wollte – er musste – jetzt verletzen, er musste diesem Mann seine Abneigung zeigen.
„Weißt du, was ich gerade entdeckt habe?“, fragte er sehr leise.
„Nein, sag es mir. Es wird sicher in deine Vorstellung von Rache passen, nicht wahr?“
„Richtig, Herr Schneider! Ich habe gerade festgestellt, dass die deutschen Sprichwörter manchmal der reinste Schwindel sind. ‚Blut ist dicker als Wasser’ heißt es doch – nicht wahr? Und? Ich weiß nicht, was du erwartest hast; ich spüre nichts; ich habe keine Gefühle, die man üblicherweise Kindern nachsagt, wenn sie ihrem Erzeuger nach langer Trennung begegnen. Nicht das geringste Empfinden ist da – höchstens Abneigung! Ja, ich spüre Verachtung für dich!“
„Ja! - Ich weiß es – schon seit einigen Minuten.“ Er blickte in sein halb volles Weinglas, das er schon seit geraumer Zeit nicht mehr angerührt hatte.
„Du musst dir klar darüber sein, dass du niemanden mit dieser Romantikepisode beeindrucken kannst. Du hast verletzt, du hast dich einen Dreck um irgendeinen Menschen gekümmert. Du hast nur an dich gedacht und an dein bequemes Erbenleben. Lass mich also jetzt auch damit in Ruhe!“
Die heiße Welle der Wut drohte ihm den Hals zuzuschnüren. Er riss das Wasserglas hoch und trank lange, fühlte das kalte Wasser im Hals und glaubte, es würde die Welle ablöschen.
„Ich habe mich wohl einer großen Selbsttäuschung hingegeben – leichtsinnig und gefühlsduselig. Ich war naiv! Es tut mir leid. Entschuldige mich jetzt bitte. Mir ist nicht gut. - Ich glaube ... – Ich werde jetzt nach Hause fahren.“
Er stand langsam auf, zog das amputierte Bein mit den Händen nach und schaute auf Jürgen herunter.
„Werden wir uns noch einmal sehen? Ich meine später einmal, wenn wir beide über unser Treffen genug nachgedacht haben.“
„Ich glaube kaum. – Aber wer weiß schon, was alles möglich ist. Ach – eine Frage habe ich noch. Wie hattest du dir das Großreinemachen, die Wiedergutmachung eigentlich vorgestellt?“
„Ach, das! Vergiss es ruhig. Ich muss wohl ohne Ablass – wie du das nennst - ins Jenseits gehen, wenn ich eines Tages abtrete. Ich wünsche dir viel Glück für deine Zukunft – und weniger Bitterkeit. Hoffentlich bleibt dein Leben weitgehend ohne schwere, selbst verschuldete, Fehler und hoffentlich findest du die Erfüllung, die du dir wünscht.“
Er verbeugte sich leicht und lächelte bitter. Seine schmale Hand war eiskalt und der Druck schwach.
„Dir auch alles Gute – und – also – ich …“
„Ja – schon gut.“ Er ging steif und leicht nach vorne gebeugt aus dem Raum; das Fragezeichen seiner Figur war plastischer als auf dem Bahnhof. Jürgen sah ihm nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte; er spürte einen Klos im Hals und die heiße Welle der Wut war spurlos verschwunden.
„Ein Bier bitte. - Und schreiben Sie alles auf mein Zimmer – Nummer 314.“

Er schlenderte durch das fast leere Foyer und warf einen Blick in die Bar. Es war fast Mitternacht und im Barraum herrschte bereits Hochbetrieb. In der Stadt war Messe; Geschäftsabschlüsse mussten begossen werden oder an der Bar den letzten Feinschliff bekommen. Das war auch die hohe Zeit für elegante, hübsche Damen, die in den Bars der Hotels für manchen Service verpflichtet werden konnten. Sie wirkten wie falsche Edelsteine in dem Haufen dunkel gekleideter Männer; ihre Kleider und ihr Schmuck zogen das spärliche Licht auf sich.
Zwei Barkeeper schenkten Getränke ein und einer schüttelte mit hoch gehobenen Armen einen blitzenden Shaker. Die Männer in ihren gleichmachenden Geschäftsanzügen, saßen oder standen in kleinen Gruppen zusammen, tranken und lachten. Fast jede Runde schmückte sich mit einer Frau, die erkennbar im Mittelpunkt des Interesses stand. Ein Gemisch aus Zigarren-, Parfüm- und Alkoholdunst wehte zusammen mit einem gedämpften Geräuschpegel aus Musik und Stimmengewirr aus dem Raum.
Jürgen zögerte, fühlte sich angezogen von dem Treiben und der Stimmung; er musste jetzt nachdenken, wollte dabei Trubel und Ablenkung haben - und das fand er in keinem Fall in seinem stillen Zimmer.
Elke Freund saß noch an der selben Stelle wie zuvor, redete aufgeregt und hastig, warf ständig unruhige Blicke auf die Männer, die sie umstanden und begehrlich anstarrten.
Der Mann, mit dem sie sprach, stand dicht vor ihr; er drehte Jürgen den Rücken zu, trug bereits den Mantel und seine Figur erinnerte jetzt mehr an ein Ausrufezeichen. Hager und kerzengerade stand er da, streckte fordernd seine Rechte aus, reckte sich dabei noch höher.
Zögernd griff sie in ihre Umhängehandtasche und legte eine kleine braune Mappe in seine Hand. Ottmar Schreiner warf einen Blick hinein, hielt einen langen Augenblick inne und schob sie in die Mantelinnentasche.
Elke Freund erhielt dafür einen Umschlag, den sie achtlos in die Handtasche stopfte. Sie sahen sich stumm an, dann gab Elke Freund ihm die Hand. Ihr Lächeln wirkte verkrampft und ihre Lippen formten ‚Leben Sie wohl’.
Jürgen bewegte sich hastig rückwärts, bis er mit seinem Gesäß einen tiefen Sessel anrempelte; um ein Haar wäre er hintenüber gestürzt. Er drehte sich hastig weg und suchte die Toilettenräumen auf. Leise setzte er sich auf den geschlossenen Klodeckel und lauschte einem tropfenden Wasserhahn.
„Verdammt! Was bedeutete das alles? Was haben die beiden für Geschäfte gemacht? Hat er sie gekauft? Ach Quatsch! Danach sah das nicht aus. Was dann?“
Er wartete lange, schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht und stand noch einmal ein paar Minuten nachdenklich vor den Spiegeln. Allmählich kam er sich albern vor, und als ein angetrunkener Gast in den Raum wankte, ging er entschlossen raus.
„Vor wem musste du dich verstecken?“, murmelte er und schaute in die Bar – Ottmar Schneider und die Frau waren weg. Er fuhr mit dem Lift hoch, legte sich ins Bett und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Erst als graue Schleier ins Zimmer krochen und die Nacht wegdrückten, schlief er ein.

Bereits um sieben Uhr saß er im Frühstücksraum, aß hastig und unlustig. Sein Kopf schmerzte, bis er die zweite Tasse Kaffee getrunken hatte.
Beim letzten Schluck stand sein Entschluss fest. Er packte seine wenigen Sachen, beglich die Rechnung, ließ sich einen Briefbogen und den dazu passenden Umschlag mit dem Emblem des Hotels geben, setzte sich an einen der kleinen Tische und schrieb in seiner krakeligen Schrift:
„Guten Morgen, Frau Freund.
Ich musste doch schon früher – und leider alleine – frühstücken. Wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich schon unterwegs nach Köln. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Spaß in München.
Jürgen Bauer
PS: Grüßen Sie Ottmar Schneider“
Er zögerte einen Augenblick und betrachtete den Nachsatz kritisch. Er war sich über die Wirkung, nicht im Klaren, fürchtete, sich damit als heimlicher Beobachter zu outen, aber dann zuckte er mit den Achseln und murmelte: „Sollen sie doch ...“.
„Geben Sie diesen Brief bitte Frau Freund, wenn sie zum Frühstück kommt. Sie wollte so gegen neun unten sein.“

Er war enttäuscht, als er feststellte, dass er den ICE nach Köln knapp verpasst hatte. Der nächste Zug fuhr erst kurz nach halbzehn; man musste einmal umsteigen und eine Platzreservierung war auch nicht mehr möglich.
Er setzte sich am Gleis 10 auf die Bank und betrachtete den Betrieb auf dem zugigen Bahnhof. Es war nicht viel los an diesem Sonntagmorgen; er kaufte sich eine Münchener Tageszeitung und warf sie nach dem Überfliegen der Schlagzeilen in den Papierkorb.
Immer wieder fiel ihm die Szene vom Vorabend ein. Er war mit diesem Bild eingeschlafen und seine ersten Gedanken am Morgen beschäftigten sich schon wieder mit dem Austausch von Mappe und Umschlag.
„Verdammt, verdammt! Was hatte das zu bedeuten? Die hat ihn doch vorher noch nie gesehen – oder doch?“
Spielten die beiden etwa ein abgekartetes Spiel mit ihm? Sie war doch angeblich eine Schriftstellerin. Was hatte dieser Ottmar Schneider mit dieser Stückeschreiberin zu tun?
„Boulevardtheater! Ich lache mich kaputt! - Moment!“
Hatte dieser Paradiesvogel Schneider ihr vielleicht den Auftrag gegeben, seine Memoiren zu schreiben, seine Erlebnisse in der Hippiezeit mit schmalzigen Worten für die Nachwelt - also für ihn - in einem Roman zu verewigen? Ach, hör auf! Das ist alles Quatsch!
Der Zug lief sehr pünktlich ein, und Jürgen stand bereits an der Bahnsteigkante, als die Lok sich langsam an das Gleisende heran tastete.
„Meinen Sie, wir könnten Glück haben und einen Sitzplatz erwischen?“
Die Stimme wirkte auf ihn, als habe er einen Stoß in den Rücken bekommen. Er fuhr herum, stieß mit der Tasche an den langsam rollenden Zug und wäre fast mitgezogen worden.
„Was – was machen Sie denn hier? Sind Sie verrückt, mich so zu erschrecken? Ich denke, Sie frühstücken jetzt gerade?“
Er war total verwirrt und sah fassungslos zu, wie sie an ihm vorbei in den vor ihnen haltenden Wagon stieg.
„Halt! Moment mal! Wollen Sie etwa auch mit diesem Zug zurück nach Köln? Und die Pinakothek - die Neue Pinakothek? Und der Geschäftstermin am Montag?“
„Ist verschoben und in die Pinakothek gehe ich ein anderes Mal. Ich komme bestimmt noch einmal nach München.“
Er hastete hinter ihr her, hatte Mühe, ihrem Tempo zu folgen. Sie sah kurz in jedes Abteil, prüfte die Reservierungsschilder und ging schnell weiter.
„Alles besetzt! So ein Mist! Kommen Sie! Im Großraumwagen ist meistens noch was frei.“ Sie hastete vorwärts und er hatte Mühe zu folgen.
Der Großraumwagen schien ebenfalls besetzt zu sein, aber Elke Freund sprintete plötzlich los und blieb vor zwei leeren Plätzen stehen. Sie wollte schon enttäuscht weiter gehen, als er sie am Arm erwischte.
„Warten Sie doch mal. Die sind doch frei!“
„Können Sie nicht lesen? Reserviert ab München!“
„Und? Wir sind in München. Sehen Sie jemanden, der diese Plätze beansprucht? Ich nicht. Wir setzen uns! – Los!“
Sie war unruhig, sah nervös von der Tür zum Gang und lehnte sich erst aufatmend zurück, als der Zug sich in Bewegung setzte,
„Geschafft! Ich stehe nicht gerne und lasse mich ungern ständig anrempeln.“
„So, mein Fräulein, jetzt kommen wir mal zur Sache. Was haben Sie für ein Interesse an mir? Und kommen Sie mir nicht mit Zuneigung, Sympathie oder so einen Quatsch. Also? Was wollen Sie von mir?“
„Nein! Was wollen Sie von mir, frage ich Sie! Ich habe mich heute kurzfristig entschlossen, früher nach Köln zu fahren. Dringende Angelegenheiten; das hat nichts mit Ihnen zu tun.“
„Halten Sie mich doch nicht für dumm! Was wird hier gespielt? Ich glaube Ihnen nichts mehr.“
„Ach, wissen Sie, wir sitzen zwangsläufig bis Köln ziemlich dicht zusammen, das lässt sich nur schwerlich ändern. Aber deshalb müssen wir ja nicht miteinander reden. Ich möchte meine Ruhe haben.“
Sie zog ihre große Handtasche auf den Schoß und entnahm ihr eine Tageszeitung. Mit eisigem Gesicht begann sie zu lesen, hatte keinen Blick mehr für ihn übrig.
„Das ist auch gut so!“, sagte er wütend. „Sonst könnte der Schaffner noch glauben, wir wären befreundet.“
„Ach?“ Sie ließ die Zeitung sinken und sah ihn herablassend an. „Sie und eine Freundin? Das glaubt Ihnen doch keiner. Sie haben seit zwei Jahren keine Freundin mehr gehabt – und Freunde schon mal gar nicht!“
Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dann riss er die Zeitung herunter und stieß Elke Freund unsanft an.
„Was haben Sie gerade gesagt? Woher wissen Sie das? Raten Sie oder was soll das heißen?“
„Ach, hören Sie doch auf! Sie sind ein zynischer Hund, ein Menschenverächter, ein Streithammel, ein Arbeitsverrückter und ein ungemütlicher Mensch. Das sagen alle, die Sie kennen!“
Nur einmal war die heiße Welle ähnlich schnell hoch geschossen; damals hatte er sie nicht beherrscht. Er stöhnte auf und quetschte ihren Oberarm so stark, dass sie leise aufstöhnte und ihn wütend weg drückte.
„Sie tun mir weh!“
„Sagen alle, die mich kennen? Wer kennt mich? Wer hat diese Leute gefragt? In welchem Auftrag? Was erzählen Sie hier? Und noch eins: Was haben Sie mit Ottmar Schneider zu tun?“, stieß er hervor, drückte fester zu.
„Sie tun mir weh, verdammt! Er ließ sie langsam los und lehnte sich matt zurück. Sie massierte den schmerzenden Arm, dann knubbelte sie die zerrissene Zeitung wütend zusammen und stopfte sie mit heftigen Stößen in das Netz im Sitz vor ihren Knien. Ihre Backenknochen malten und er sah, dass ihre Wangen zitterten.
„Ja, ja! Entschuldigung! Ich wollte das nicht erzählen, Ich habe mich gehen lassen. Sie haben mich so sehr gereizt, dass ich mich vergessen habe. Also, gut! Ich habe für Ihren Vater – für Ottmar Schneider – gearbeitet. Ich recherchiere für eine Detektei in Köln und sollte ihre Mutter suchen. Dabei habe ich erfahren, dass sie vor fünf Jahren gestorben ist.“
Sie blickte an ihm vorbei, den Gang herunter und atmete heftig. „Ich weiß, dass sich Ihre Mutter das Leben genommen hat.“
„Also ... Das geht Sie nichts an - und keinen Fremden! Erst recht nicht diesen Schneider.“
„Ich musste es ihm sagen! Als ich erfuhr, dass sie einen Sohn hatte, habe ich Sie gesucht – und nach einiger Zeit gefunden; das letzte war ziemlich schwer.“
„Was war in der Mappe?“
„In welcher Mappe?“
„Verdammt, tun Sie nicht so! Die braune Mappe, die Sie ihm gestern gegeben haben – am Abend in der Bar!“
„Sie haben uns beobachtet? Das hätte ich mir denken können!“
„Nein, ich hab’s rein zufällig gesehen. Sie saßen ja dort wie auf dem Präsentierteller. Also, was war da drin?“
„Fotos von Ihnen. Bei allen möglichen Gelegenheiten aufgenommen, schöne Fotos - ich bin nämlich gut im Fotografieren!“
„Ich fass es nicht! Ich werde observiert, fotografiert, als wenn ich ein Verbrecher wäre. Es reicht, Fräulein Freund – es reicht für alle Zeiten!“
„Ich hatte einen Auftrag!“
„Ich hatte einen Auftrag! Das entschuldigt alles? Warum sind Sie so weit in mein Leben eingedrungen? Warum wollten Sie mich ausforschen? Das war ja wohl nicht Ihr Auftrag.“
„Oh doch! Er wollte alles über Sie wissen, er war wie im Fieber, als er von Ihnen hörte. Er rief täglich an und beorderte mich schließlich für Montag nach München. Er wusste nicht, dass ich früher anreiste – und er kannte mich nicht, als wir uns erstmals trafen. Ich wiederum wusste nicht, dass Sie im Zug saßen. Unser beider Zusammentreffen war also nicht geplant und er hat mir deshalb gestern Abend ziemliche Vorwürfe gemacht.“
Jürgen lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sehr langsam stieg die heiße Welle hoch, verharrte noch an seiner Kehle.
Es fiel ihm immer schwerer, sich mit Gewalt zurück zu nehmen, diese Hasswelle zu unterdrücken. Schon alleine deshalb trank er kaum Alkohol, mied große Partys und Gesellschaften. Er atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
„So ist das also gelaufen! Sie haben mich nach Strich und Faden belogen. Sie sind keine Schriftstellerin und alle anderen Erzählungen über Sie dürften wohl auch falsch sein. Stimmt Ihr Name überhaupt?“
„Ich bin Schriftstellerin – nebenbei. Und alle anders Sachen stimmen auch.“
„Was wissen Sie noch? Was haben Sie erfahren? Was haben Sie ihm über mich berichtet?“
Ihre Nervosität wuchs sichtlich; die fahrigen Bewegungen der Hände waren nicht zu übersehen. In ihrem Gesicht wechselten Röte und Blässe. Sie hatte ihre souveräne Haltung völlig verloren und ihre Stimme hörte sich belegt an.
„Nicht alles. Nur das, was er wissen musste - über Sie und Ihre Mutter. Er weiß nicht alles!“ Sie flüsterte nur noch, sah unruhig, mit schnellen Blicken zu den Reisenden auf der anderen Gangseite.
„Ich konnte das doch nicht wissen! Ich bin da einfach rein gestolpert. Die Leute haben mir alles erzählt; ich brauchte kaum Fragen zu stellen. Ihre Nachbarn und ehemaligen Freude waren nicht zu stoppen. Keiner von denen mag Sie; Sie haben es verstanden, sich alle zu Feinden zu machen – mit Ihrer Art.“
„Sie hören auf das Geschwätz solcher Leute? Leute, die mich hassen? Nichts wissen die! Sie beschäftigen sich mit Gerüchten! Passen Sie auf, dass Sie keine Klage an den Hals bekommen; ich kann sehr ungemütlich werden!“ Seine Stimme war kurz vor dem Umkippen; er drückte seine Hände so krampfhaft zusammen, dass die Knöchel weiß hoch standen.
„Ich weiß! Aber ich habe das damals nicht geahnt. Ich war völlig überrascht, als ich hörte, was man über Sie verbreitete. Sie können mir nichts vorwerfen!“
„Es gibt nichts in meinem Privatleben, was Sie etwas angeht, was Sie oder andere wissen müssten!“
„Sie haben es getan, nicht wahr?“ Sie machte eine kleine Pause und flüsterte: „Ich habe ihm das nicht berichtet; er weiß nichts davon. - Das wollte ich Ihnen überlassen.“
Er schwieg, sah starr auf seine Hände und stellte fest, dass sie wieder ruhig waren. Nein, er war nicht übermäßig erregt – noch nicht. Erstaunlich!
„Am besten sagen Sie, was sie erfahren haben wollen – dann kann ich das richtig stellen.“
„Ja, also ... Sie haben in einem Anfall geistiger Umnachtung Ihre Mutter brutal zusammen geschlagen. Dann - dann ... Sie hat sich danach ...“
„Halt! Schon das stimmt nicht! Hören Sie auf!“ Er schrie so laut, dass sich ein Frauenkopf um die Rückenlehne des Vordersitzes beugte und ihn mit streng forschendem Blick betrachtete.
„Schauen Sie nach vorne! Hier gibt’s nichts für Sie zu sehen!“, bellte er in das erschrocken blickende Gesicht, das blitzschnell verschwand.
„Seien Sie doch leise! Bitte, nicht aufregen!“, flüsterte Elke Freund. „Es stimmt wohl! Ich habe es auch in den Polizeiakten gelesen.“
„Nein und nochmals nein! Es war nicht so! Dann haben Sie die Akten nicht vollständig gelesen. Ich habe sie geschlagen, ja, aber nur einmal - ein einziges Mal.“
„Mein Gott! Warum haben Sie das gemacht?“
„Das war - es war wie immer, wenn ich sie besuchte. Sie hat mich wie wahnsinnig gereizt und ich bin explodiert - ich schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. - Dann bin ich gegangen.
„Ja, aber ...“
„Warten Sie doch, verdammt! Sie hat Tabletten genommen und in einem Abschiedsbrief genau das behauptet, was Sie gerade gesagt haben. Aber es stimmt nicht!“
„Warum sollte sie in so einem Moment lügen? Warum sollte sie ihren einzigen Sohn so belasten?“
„Ich habe es damals sofort verstanden, als man mich verhörte. Sie hat sich zum letzten Mal an mir gerächt. Das war ihr Abschiedsgeschenk. Zum Glück hat man bei der Autopsie festgestellt, dass nichts von dem stimmte, was sie behauptet hatte. Es gab nichts gar nichts, was man mir vorwerfen konnte.“
„Sind Sie immer so explosiv, so heftig?“
„Das geht Sie nichts an!“
„Bitte!“
„Ja - manchmal. Aber andere Männer sind das auch.“
„Nein, das glaube ich nicht. Sie flüchten sich ins Unverbindliche.“
„Ja, kann sein ... Vielleicht haben Sie recht. Ich kann nichts dafür, ich hab’s nicht im Griff – es überkommt mich einfach so,“
„Wissen Sie, woher das kommt? Haben Sie sich mal untersuchen lassen?“
„Was? Nein! Sie wollen mir doch nicht einreden, dass ich einen Seelenklempner brauche? Da wüsste ich dringendere Fälle.“
„Nein, nein. Das wollte ich nicht damit sagen!“, flüsterte sie erschrocken und fasste ihn am Arm. „Bitte, nicht ärgerlich werden! Was meinten Sie mit dem Abschiedsgeschenk Ihrer Mutter - und sie habe sich gerächt?“
„Ach, was soll das? Wissen Sie noch nicht genug über mich? Bekommen Sie von Ihrem Boss eine Erfolgsprämie, wenn Sie alles über mich wissen?“
Da war sie, die heiße Welle, die sich blitzschnell hoch wuchtete, seine Hände zittern ließ und in seinem Kopf eine Nebelwand errichtete.
„Wissen Sie, was ich glaube? Sie sind eine widerliche Voyeurin, eine geile Spannerin. Wollen Sie das vielleicht in Ihrem Roman einbauen? ‚Geisteskranker Sohn treibt seine Mutter in den Selbstmord!’ Sie wollten die ganze Geschichte wissen! Jetzt weiß ich. wofür. Aber es reicht! Lassen Sie mich in Ruhe!“
Aber sie wollte nicht ruhig sein, zog heftig an seinem Arm und ihre Stimme war nicht mehr leise und ängstlich.
„Sie sind so bodenlos zynisch und stoßen jeden vor den Kopf, der es gut mit Ihnen meint. Ich weiß, warum Sie keine Freunde haben, warum kein Mensch Sie leiden kann.“
„Ach? Sie wissen? Nichts wissen Sie! Nichts haben Sie verstanden!“
„Ich wollte doch nur verstehen und ihnen helfen. Sie sind das Opfer! Verstehen Sie? Diese Geschichte hat mich so tief rein gezogen: ich war noch bei keiner Nachforschung so direkt beteiligt.“
Sie schwiegen lange und sahen angestrengt auf ihre Hände. Er fühlte, wie die heiße Welle langsam sank, ihm wieder klare Gedanken ermöglichte.
„Ich bin ganz ruhig! So ruhig wie selten! Ich rege mich nicht auf, nicht über diese Frau und nicht über ihre Fragen. - Nein!“ Immer wieder hämmerte er sich die Beschwörungsformel ein.
Der Fahrkartenkontrolleur knipste ihre Fahrausweise und nahm die Reservierungsschilder weg. Der Barmann aus dem Speisewagen schob seinen Getränkewagen durch den Gang und sie nahmen sich einen Kaffee.
„Haben Sie etwas zu Essen dabei?“, fragte Elke Freund und kaufte sich ein Sandwich.
„Ich habe ja noch nicht gefrühstückt“, sagte sie entschuldigend zu Jürgen.
„Ja. - Guten Appetit.“
Sie aß schnell und schämte sich offensichtlich über jeden Krümel, der auf ihren Kostümrock fiel. Er sah angestrengt in den Gang und versuchte, sie nicht zu beachten. Ab und zu trank er einen Schluck des brühend heißen Kaffees, der ihm bitter vorkam.
Er brauchte lange, bis er sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte. Vorsichtig fasste er nach ihrem Arm und zwang sie, ihn anzusehen. Sie schluckte den letzten Bissen hastig herunter und schielte auf ihren Rock.
„Ich habe es mir überlegt. Warum sollen Sie nicht die Wahrheit wissen? Dann verstehen Sie ja vielleicht, was damals ...
Das, was an dem bestimmten Tag - Sie wissen schon - passierte, war zunächst nicht ungewöhnlich – sogar völlig normal, wenn man dieses Wort dafür gebrauchen kann.
Sie hasste mich schon immer. Sie ließ es mich bei jeder Gelegenheit spüren; ich war verantwortlich für ihr Leben! Ich! Verstehen Sie? Ihr wunderbares Hippieleben, das hatte ich kaputt gemacht. Sie machte mich für alles verantwortlich, was ihr stumpfes, langweiliges, ärmliches Leben als Sozialhilfeempfängerin ausmachte.
Es war ihr Lieblingsspiel, ihre schon zur Selbstverständlichkeit gewordenen Art, mit der sie mich durchs Leben schupste. Ich kannte von frühester Kindheit an nichts anderes. Ich begriff und lernte schnell, musste mich durchkämpfen, musste verstecken und lügen, wenn ich etwas erreichen oder besitzen wollte.“
Er schwieg lange, als müsste er alles noch einmal vordenken, die prägenden Erlebnisse nach vorne holen.
„Meine Schulbildung, ein Buch, das ich brauchte, ein Spiel, das mir gefiel, ein Kinobesuch oder eine Freundschaft. Alles wurde abgelehnt, nieder gemacht und gelang mir nur mit Tricks und Kniffen. Ihre Ausfälle und Hasstiraden kamen im Laufe der Zeit immer häufiger. Ja, ich habe irgendwann, als Heranwachsender, begriffen, dass sie Hilfe brauchte – aber ich war wie gelähmt – ich wollte auch nicht.
Sie schlug mich, solange ich ein Kind war; später trafen mich ihre Worte härter – schmerzhafter. Den Nachbarn, die mich weinen hörten, erzählte sie, ich sei bösartig. Brachte ich – was ich mich nur selten getraute - Freunde mit, dann, erzählte sie ihnen grauenhafte Dinge über mich.
Ich weiß nicht, wie ich einigermaßen heile durch meine Kindheit gekommen bin. Ich habe heute keine Ahnung mehr, wie ich das überlebt habe. Ja, so war sie, die ‚Fee’ aus dem verlorenen Paradies. Als ich mein erstes Geld verdiente und endlich ausziehen konnte, da begann ein neues Leben für mich. Ich atmete frei, tat, was ich wollte und war zum ersten mal glücklich.“
„Warum haben Sie zu dem Zeitpunkt nichts unternommen? Sie gehörte in psychiatrische Behandlung. Das hätten Sie veranlassen müssen!“
„Ich weiß es nicht – manchmal verachtete ich sie so sehr, dass ich ihr eher den Tod gewünscht hätte, als an ihre Heilung zu denken. Ich verstand nicht, warum sie mich so entsetzlich hasste. Das habe ich erst gestern begriffen.“
„Er hat es Ihnen erzählt? Ich weiß von dieser Zeit, er hat es mir geschrieben, um seine ‚Fee’ zu beschreiben.“
„Diese romantisch verklärte ‚Fee’, die Ottmar Schneider noch einmal sehen wollte, die gab es schon lange nicht mehr. Sie verschwand nicht erst mit ihrem körperlichen Tod; die ‚Fee’ ist gestorben, als sie sich trennten.“
„Und an dem Tag? Sie wissen schon ... Was ist da passiert?“
„Ich sagte Ihnen ja, dass ich schon lange nicht mehr bei ihr wohnte. Ich besuchte sie regelmäßig einmal im Monat, brachte ihr Geld, Kuchen, Kaffee und Kopfschmerztabletten. Sie empfing mich wortlos, ließ mich wortlos wieder gehen. Dazwischen gab es Vorwürfe, Klagen voller Selbstmitleid, Vorwürfe gegen mich, gegen die Nachbarn und überhaupt gegen alles, was sie jemals zu Gesicht bekommen hatte.
An diesem Tag war es besonders schlimm; sie rastete schon aus, als sie mich sah.
‚Lässt du dich auch mal sehen? Du bist wie dein Vater, dieses Schwein! Du bist ein Geldhai, ein geiler Geldhai. Ich bin dir im Weg, gib’s nur zu!’, schrie sie zur Begrüßung. Immer wieder unterstellte sie mir, ich wäre glücklich, wenn ich sie endlich unter der Grasnarbe hätte, wie sie es ausdrückte. Sie unterstellte mir, ich wolle sie umbringen und wie einen stinkenden Müllhaufen beseitigen.
Ich war aufgewühlt und wütend, aber ich reagierte nicht darauf. Ich ging in die Küche und wollte einige Stücke vom mitgebrachten Kuchen abschneiden. Als sie mir nachkam und sah, dass ich das Brotmesser in der Hand hielt, rastete ihr Verstand aus. Sie schrie, schrie gellend, ohne aufzuhören. ‚Mörder! Muttermörder!’
Da ist es wieder passiert! Eine Welle der Wut und Verzweiflung überfiel mich, schlug mir über dem Kopf zusammen. Alles, was mich ein Leben lang gequält hat, ... Ich hätte sie tatsächlich umbringen können - aber etwas hielt mich wohl zurück.“
Jürgen atmete heftig und seine Hände waren nicht ruhig zu bekommen; er versteckte sie unter den Achseln.
„Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben. – Einen einzigen, nicht einmal heftigen Schlag ins Gesicht. Ich wollte sie zur Vernunft bringen; man kennt das ja aus Filmen, da hilft das meistens. Und sie? Sie hat gelacht, wie irrsinnig. Dann ist sie ins Bad gelaufen und hat sich eingeschlossen. Ich bin ohne ein Wort gegangen; ich musste mich vor mir selber schützen.“
„Hassten Sie ihre Mutter?“
„Ob ich sie gehasst habe? – Nein, niemals. Ganz sicher nicht. Ich habe sie immer geliebt – oder wenigstens gerne gehabt. Obschon ich manchmal so wütend war, dass ich fast ohnmächtig wurde. Hätte ich sie hassen können, wäre alles viel einfacher gewesen. Ich begriff einfach nicht, warum meine Zuneigung nicht erwidert wurde. Ich habe sie wohl auch später immer nur deshalb besucht, weil ich es endlich wissen wollte. Immer wieder habe ich sie gefragt: ‚Sag mir, warum du mich so hasst. Was stimmt nicht?’ Ich musste es wissen, ich befürchtete, dass ich selber dicht vor dem Irrsinn stand.“
„Und? Was sagte sie?“
„Nichts. Es gab nie eine Antwort; sie lachte entweder hysterisch oder sah mich nur böse an.“
Sie schwiegen und fanden lange nicht zu einem neuen Gespräch. Der Zug fuhr in den Ulmer Bahnhof ein und Jürgen ging nach draußen, atmete tief durch. Die kühle frische Luft tat ihm gut. Es war das erste Mal, dass er mit jemandem über diese Dinge hatte sprechen können. Langsam wurde er ruhiger und als er einstieg, war sein Kopf wieder klar.
Sie wartete, bis der Zug anruckte, sah ihn lange an und sprach dann tonlos, einfach so in die Luft.
„Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Er - Ottmar Schneider - hat nur noch wenig Zeit. Er hatte schon einen Grund für seine hektische Suche.“
Er schwieg und schloss die Augen. Was war in diesen zwei Tagen bloß mit ihm passiert? Alles war anders verlaufen, als er gedacht hatte. Mit überheblichem Lächeln hatte er am Samstag bei der Rasur vor dem Spiegel gestanden und sich geschworen, diesem ‚Vater’ keine Chance zu geben. Er – nur er – war schuld an allem, was seine Mutter und ihn betraf. Und jetzt ...
Als der Ansager den Bahnhof Stuttgart ankündigte, schaute er Elke Freund an, die blass in ihrem Sitz lag. Sie sah ihn nicht an, schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein.
„Hören Sie. Ich hätte auch früher mit Ihnen sprechen müssen. Ich bin ein schwieriger Mensch.“
„Ach, wissen Sie ...“
Doch, doch! Ich weiß auch nicht ... Entschuldigen Sie, wenn ich zu heftig war. Ich bin wohl manchmal unausstehlich.“
„Wer wollte Ihnen da widersprechen“, seufzte sie und richtete sich auf.
Jürgen stand abrupt auf und zog seine Tasche von der Ablage.
„Ich steige hier in Stuttgart aus!“
„Was? Was ist denn los? Warum steigen Sie aus? Habe ich Sie jetzt beleidigt? Wir brauchen doch nicht mehr darüber zu sprechen, wenn Sie nicht wollen. - Bitte!“
„Nein. Das ist es nicht. Schon seit Ulm weiß ich, was ich tun muss. - Ich fahre zurück nach München. Es gibt eine Menge zu erledigen. Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.“
Er ging weg, bevor der Zug hielt, stellte sich vor die Ausgangstür und sah sich nicht mehr um.

© Eduard Breimann
 

Zefira

Mitglied
Schön, daß wir uns hier wiedertreffen....

... lieber Eduard, ich bin nämlich eine alte Bekannte aus der Textwelt (dort die Anna - warum kommst Du eigentlich nicht mehr hin?).

Ich habe diesen Text nicht nur gelesen, weil er mich interessiert, sondern auch GERADE WEIL er so lang ist. Ich habe nämlich auch manchmal Probleme, die im Internet gebotene Kürze einzuhalten - Solidarität also gewissenmaßen zwischen halbgaren Romanschreibern ;)

Das Problem, das ich mit dieser spannend und flüssig geschriebenen Geschichte hatte, ist, daß die Hauptperson sich von Anfang an als totales Ekelpaket darstellt.

Selbstgerecht, streitsüchtig, auch noch unhöflich. Da kann einem der Spaß am Lesen vergehen. Man hört einfach auf, sich für ihn zu interessieren.

Leider habe ich auch keine Idee, wie sich das vermeiden läßt, denn dieses Verhalten und die Gründe dafür tragen ja die ganze Geschichte.

Vielleicht, indem man sich weniger auf die äußeren Vorgänge konzentriert - langsamer erzählt, zwischendurch auch mal intensiver auf sein Innenleben eingeht, auf seine Unsicherheit, damit man die Möglichkeit bekommt, ein bißchen Mitgefühl für ihn zu entwickeln?

Liebe Grüße,
Zefira
 

Breimann

Mitglied
Hoch erfreut

liebe Zefira, bin ich über das erneute Zusammentreffen mit Anna. ich habe Anna geschätzt und das auch wegen der fachkundigen Rezis. Ja, die Charakter der Menschen! Wollte ich ihn sympathisch machen? Nein, ich wollte den Leser mit diesem verkorksten Menschen schon etwas quälen. Ich weiß um die Leidenschaft vieler Leser, die sich mit dem Protagonisten identifizieren möchten, oder ihn mindestens verstehen und annehmen möchten. Ich weiß, weil ich auch einer von denen bin. Gleichwohl liegt hier unter der Oberfläche des von dir als „totales Ekelpaket“ beschriebenen Mannes eine tiefere Schicht, die sich nur – vielleicht nach nochmaligem Lesen? – schwer erschließt. Seine Selbstquälerei, sein abstoßen aller Annäherungen, hat doch einen Grund. Hinterfrag ihn doch einmal, diesen grund, den er selber – undeutlich – artikuliert. Und – er dreht sich! Der Schluss soll Hoffnung geben und, würde die Geschichte weiter erzählt, käme da möglicherweise eintief verletzter, Anlehnung suchender Mensch zum Vorschein. Das aber, liebe Zefira, habe ich der Fantasie des Lesers überlassen.
Ich freue mich dir hier häufiger begegnen zu können und wenn du nachsiehst, findest du eine Menge neuer Sachen von mir.
Ich war übrigens auch lange nicht auf der LL zu finden. Das sind persönliche Dinge und die Textwelt hat mir übrigens nicht mehr so sehr zugesagt.
Liebe Grüße
eduard
 



 
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