Die Flaschen im Reichshof (Textauszug)

Alo Isius

Mitglied
Der Rösleintaler schloss, gleichfalls wie in Zeitlupe, das große Tor zwischen der Gaststube und dem Deutschen Saal.
Die Zuschauer aus der Gaststube entfernten sich, vielleicht betroffen, erschüttert oder empört wie üblich, aber leise, fast pietätvoll. Bis auf den Oberlehrer Dr. Lieberknecht, den schleppten seine Jungs, sozusagen vier Mann vier Ecken, hinaus in die kalte Aalsheimer Frühlingsnacht.

Der Rösleintaler setzte sich, leicht erschöpft wirkend, noch zu uns, und wir drei spülten noch still mit einigen Flaschen Rösleintaler Spätlese unsere Gedanken über das erlebte Spektakel hinunter. Dabei bin ich wohl zuerst unterm Tisch gelandet. Und als ich erwachte...

... aber das ist schon wieder eine andere, vielleicht nicht ganz so absurde und unglaubliche (oder unglaublich absurde?) Geschichte. Eigentlich sind’s drei: Rösleintalers, Prols und meine Geschichte in einer. Machen sie sich aber bitte keine falschen Hoffnungen: Auch das ist absurd und unglaublich genug... allegorischer Realismus halt, oder so...


... und als ich erwachte, glaubte ich zu träumen und rieb mir die Augen, zwickte mich werweißwohin, ohrfeigte mich sogar prophylaktisch, doch was ich sah veränderte sich nicht, blieb Realität: Ich lag in einem komfortablen Doppelbett – allein, zum Glück, oder so –, welches in einem luxuriös mit Stilmöbeln, echten Teppichen und Bildern, frischen Blumen usw. ausgestatteten Zimmer stand; jedenfalls nicht in dem bescheidenen und preiswerten Kämmerchen, in welches ich mich bei einem älteren Rentnerpaar zur Kur in Aalsheim eingemietet hatte. Dieses Zimmer mit seiner exklusiven Ausstattung würde ich niemals bezahlen können, jedenfalls nicht, ohne meine Aalsheim-Kur nicht spätestens sofort abbrechen zu müssen. Schöne Scheiße.
Wo war ich wieder mal gelandet? Wer war ich überhaupt? War ich überhaupt noch ich? Oder hatte ich mich, frei nach Kaffka, in irgendein Ungeziefer verwandelt, das sich in solch nobler Behausung verkriechen kann? Was würde meine Gudsde, meine beste Ehefrau von Welt, in dem einen oder erst im anderen Fall dazu sagen? Fragen über Fragen, welche mich freilich nicht zu ersten mal in meinem Leben aber noch nie so frei von fast allen üblichen Nebenwirkungen eines vollgefressenen, bzw. vollgesoffenen Katers, Brummschädel und so, überfallen hatten.
Die Länge meiner formulierten Fragesätze, beruhigten mich aber auch irgendwie: offenbar stimmt’s noch ... irgendwie ... im Ober-stübchen... OKEY, schaun wir mal... hey, da steht ja, wie gerufen, eine Flasche von dem neuerdings so hoch gerühmten Aalsheimer Jodelquell auf dem Nachttisch und ein Päckchen Alkaselzer-Brausetabletten liegt gleich daneben. Nachdem sich der fremde, ausgetrocknete Schwamm in meinem Rachen mit dem hastig zubereiteten Mix ordentlich voll gesogen hatte, konnte ich in ihm, erstens, meine Zunge wieder erkennen und sie, zweitens, diese sogar benutzen... fürs erste allerdings nur zum Jodeln: „Holladrühü“.
Geil, die Wirkung des Zeugs: schmeckt nach nix aber jodeln kann man sofort. Nach einem weiteren ordentlichen Schluck weckte es in mir (in mir!) sogar das Bedürfnis nach mehr körperlicher Betätigung und anschließender Erfrischung wie Frühsport, Duschen, Zähneputzen und so. Wirklich, eine Wunderdroge, das Gesöff, und ich machte demzufolge erst mal drei Kniebeugen mit ausgestreckten Armen, welche mir auf wundersame Weise die Richtung zum Badezimmer wiesen.
Dort haute mich der exorbitante Luxus erst einmal beinahe wieder um: eine Riesenbadewanne von der Größe eines Arme-Leute-Swimmingpools, Wirlpool, Klosett, Bidet, Waschbecken für zwei, und alles doppelt, und sämtliche Armaturen, Halterchen, Häkchen, Stutzen und Stützen, blitzten vor blankem, goldigem Reichtum ...von den flauschigen Bademänteln und Riesenhandtüchern mal abgesehen. Auch waren da teuere Marken an Seifen, Deodorants, Gelees, Cremes und Pasten für sämtliche Körperteile, -höhlungen und -öffnungen gestapelt, und alles am richtigen Platz. Wow, ey.
Und zwischen all diesem Luxus sah ich mich blöd glotzend in einer Tür stehen. Es dauerte ein Weilchen bis ich kapiert hatte, dass ich mich in einem riesigen, die ganze gegenüberliegende Wand einnehmenden Spiegel sah, der nicht nur mich – doch ich war’s wirklich, wenn auch in fremdem Schlafanzug – zeigte, sondern auch die ganze Luxuseinrichtung verdoppelte. Nun erst, nur noch halb so beeindruckt, betrat ich den Raum und führte ihn seiner Bestimmung zu. Ich will’s kurz machen: noch nie in meinem Leben hatte ich so ausführlich und genüßlich gebadet, mich durchwirlen lassen, kalt geduscht, geföhnt, rasiert, bebürstet und gekämmt, an den unzugänglichsten Stellen deodoriert, gecremt, balsamiert, besprüht, lackiert und bei allem so fröhlich gejodelt und/oder lauthals uraltes deutsches Liedgut geträllert, aber, noch nie hatte ich auch je solche Angst gehabt, nach einer solchen morgendlichen Hygiene- und Schönheitsprozedur wieder in die Klamotten vom Vortag steigen zu müssen. Und das würde ich ja nun müssen, dämmerte mir ganz langsam.
Mit meiner Cordhose, meiner Lederjacke, dem verschwitzen Hemd und den dreckigen Schuhen würde ich gewiss nicht den feinen Maxe markieren und an der Rezeption lässig nach der Rechnung fragen können. Das würde mein, gewiss nicht unbeachtliches, schauspielerisches Talent bei weitem überfordern; jedenfalls in einem solchen Haus, in dem sicher jeder Rezeptionist, mindestens einen Magister in Tiefenpsychologie, oder so, der feinsten und neuesten Eliteuniversitäten Deutschlands seiner Bewerbungsmappe beigelegt hatte.
Ein wenig entmutigt schlich ich ins Zimmer zurück, um meine Klamotten zu suchen und sah erstaunt, dass ein Butler, ein so genannter stummer Butler, ein zweibeiniges Kleidergestell mir Unterwäsche, Hemd, Hose, Jacke und Schuhe samt Socken frisch gewaschen, gebügelt, gebürstet, gewienert und geputzt entgegenstreckte. Ich grübelte darüber nach, ob ich hier mit jemandem verwechselt worden sein könnte; etwa wie Gottfried Kellers Schneidergeselle? Ne, Schneider machen mit Kleidern andere Leute aus sich. Gogols Revisor kam auch nicht im russischen Bauernkittel daher, als er verwechselt wurde. Ja, wenn meine Lederjacke wenigstens ein Ledermantel oder ein Trenchcoat gewesen wäre, hätte man mich ja für einen bedeutenden Geheimdienstler inkognito halten können, aber ich hatte nicht mal eine simple Mütze geschweige denn einen Schlapphut. Das war’s also auch nicht, aber mit irgend jemand Bedeutendem müssen mich die, die mich in diese Nobelbude gebettet haben, doch verwechselt haben. Während ich mich anzog, ankleidete, fragte ich mich, ob ich eventuell ein solches Spielchen mitspielen und meine Kurkasse ein wenig auffrischen sollte, oder ob ich doch lieber ich bleiben, die Sache aufklären sollte; und ihnen, wem auch immer, nebst der Schuld und den Kosten vielleicht auch noch ein wenig Spott, quasi als Trinkgeld, zuschieben sollte: Ich hab mich ja nicht verwechselt. Soll doch der die fürstliche Übernachtung bezahlen, der den Fehler gemacht hat. Oder?
Und ich entschloß mich, den Unschuldigen zu geben: „Die können froh sein, wenn ich sie nicht wegen Freiheitsberaubung oder gar wegen Entführung verklage.“ Hatte ich das gesagt?
Wie auch immer: auf dem Weg nach unten hab ich das jedenfalls mal angedacht und mir einen Plan gemacht.
Aber spätestens seit Brecht haben wir ja alle, fast alle, eine gewisse Ahnung davon, was mit Plänen so passiert. Meiner wurde jeden falls total zunichte gemacht.
Eine Rezeption oder so gab es in diesem Hause schon mal gar nicht. Hinter keiner der Türen, die ich, nach wiederholtem Anklopfen, einfach öffnete, war jemand zu finden, bis ich endlich an eine kam, auf der “Gaststube“ stand. An der klopfte ich natürlich nicht an, sondern trat einfach ein, wie jeder normale Gast das eben tut.

Und als ich den Boden der Gaststube im Aalsheimer Reichshof unter meinen Füßen spürte, war mir als ob ich im Himmel sei. Im Himmel der Erinnerung... ein Erkenntnisblitz hatte in Nana-Sekunden den ganzen Film entwickelt, geschnitten und abgespult. Und alles war plötzlich real wieder da: Das große Tor zwischen Gaststube und Deutschem Saal, die Uhr und mein Tisch, und an dem saß mein lieber Prol, und ich setzte mich zu ihm, und der Rösleintaler kam auf mich zu, und ich bestellte mir ein ... nein, nicht wie weiland der Aloisius im Hofbräuhaus eine Maß ... un no oane un no oane un..., sondern ein großes Frühstück, vertilgte es genüßlich in aller Ruhe, wobei mir die Herren Prol und Rösleintaler auch in aller Ruhe zuschauten und mir genüßlich die einzelnen Bissen in den Mund zählten
 



 
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