Die Flaschenpost

Howie

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Matthias kaute auf dem Radiergummi an der Spitze seines Bleistiftes herum, ohne es zu merken. Draußen war so schönes Wetter, die Sonne schien und für April war es schon angenehm warm. Wie gerne hätte er jetzt mit seinen Freunden im Park gespielt. Aber nein, er brütete über seinen Hausaufgaben, von denen es heute sehr viel gegeben hatte.
Während er so vor sich hinträumte, bemerkte er, dass er noch gar nichts in sein Hausaufgabenheft geschrieben hatte. Und der Radiergummi schmeckte widerlich!
Er atmete tief aus und sank auf seinem kleinen Stuhl zusammen. Wie sollte er sich auch konzentrieren, wenn ihm viel mehr nach Spielen zumute war? Es war auch niemand da, der ihm bei den Aufgaben hätte helfen können. Mama war einkaufen und Papa musste noch arbeiten.
Was soll’s, dachte Matthias und versuchte es erneut. Und siehe da, nach einer Stunde hatte er doch das meiste seiner Hausaufgaben erledigt. Und draußen schien immer noch die Sonne. Vielleicht konnte er den Rest seiner Aufgaben ja auf den frühen Abend verlegen, dachte er hoffungsfroh, als das Läuten des Telefons ihn erschreckte.
Schnell spurtete er die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und nahm nach dem vierten Klingeln den Hörer ab.
„Hallo?“ meldete er sich.
„Hallo Matthias, hier ist Opa.“
Matthias freute sich über diesen Anruf. Er freute sich immer, wenn Opa anrief, weil er ihn so sehr mochte.
„Warum bist du denn zu Hause an einem so schönen Tag? Du solltest draußen mit deinen Freunden spielen“, brummte die freundliche Stimme aus dem Hörer.
„Ach Opa, ich habe so viele Hausaufgaben aufbekommen, dass ich nicht raus kann. Aber ich habe schon viel geschafft, weißt du?“
„Musst du denn morgen schon alles abgeben?“
„Nein, Opa. Das, was ich noch machen muss, hat noch ein paar Tage Zeit.“
„Was hältst du denn davon, wenn du für heute Schluss machst und zu mir rüberkommst? Wir könnten ja etwas spielen.“
Matthias fand die Idee klasse. „Au ja, ich komme gerne. Ich zieh mir nur noch schnell den Mantel an, dann fahre ich los.“
„Moment mal“, schnarrte Opa. „Du musst mir aber versprechen, dass du dich morgen wieder an deine Hausaufgaben setzt. Versprochen?“
„Versprochen, Opa! Dir verspreche ich alles. Ich bin gleich da, ja?“
„Ich freu mich!“ Da knackte es auch schon im Telefon, Opa hatte aufgelegt.
„Ich mich auch“, flüsterte Matthias strahlend vor Freude, obwohl sein Opa es nicht mehr hören konnte.
Eilig huschte er zur Garderobe, um seinen Mantel zu nehmen. Doch bei diesem warmen Wetter war das bestimmt nicht nötig. Also ging er so raus, wie er war und schwang sich auf sein Fahrrad.
Wild trat er in die Pedale und fuhr so schnell es seine Beine zuließen. Der Wind strich ihm kitzelnd über das Gesicht und die Sonne brannte warm auf seinen Rücken. Es war herrlich!
Opa wohnte etwas außerhalb in einem Haus, das bestimmt schon Hunderte von Jahren alt war. Um dort hinzukommen, nahm Matthias immer die Abkürzung über die Steinbrücke, unter der sich ein kleiner Fluss schlängelte. Matthias wusste, dass der kleine Fluss schon bald ins nahe Meer fließen würde.
Noch während er darüber nachdachte, wie schön es sein würde, mit Opa im Garten zu sitzen, etwas zu spielen und dabei kalte Limonade zu trinken, irritierte ihn ein Glitzern im Fluss. Neugierig stoppte Matthias, stieg von seinem Fahrrad und lugte über die Brücke ins Wasser. Eine Flasche wie die, aus der Opa immer sein Bier trank, trieb im Wasser und wurde immer weiter fortgezogen. Und in der Flasche war noch etwas, das hatte Matthias genau gesehen. Er lief um die Brücke herum ans Ufer und folgte dem Lauf der Flasche. Sie drohte, auf die andere Seite zu treiben, kam aber bald wieder in seine Richtung zurück und verfing sich an einem Ast im Ufergestrüpp. Matthias hatte etwas Mühe, die Flasche zu erreichen, doch mit viel Recken und Strecken schaffte er es trotzdem. Er sah sie sich genauer an und entdeckte ein Stück zusammengerolltes Papier im Innern. Was war das bloß?
Ein paar Minuten später war er bei Opa angekommen, der ihn schon freudig erwartete. Sie gingen zusammen in den Garten und setzten sich auf die Holzbänke am großen, runden Tisch. Opa hatte schon Limonade frisch aus dem Kühlschrank geholt und das „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spiel war auch schon ausgebreitet. Doch Matthias hatte noch eine Frage.
Er zeigte Opa die seltsame Flasche und wollte wissen, was denn da drin sein könnte.
„Das ist eine Flaschenpost“, antwortete der lächelnd. Doch Matthias hatte noch nie von so etwas gehört, so dass Opa es ihm erklärte.
„Manchmal schreiben Leute Briefe und stecken sie in eine Flasche. Dann verschließen sie die Flasche ganz fest und werfen sie ins Wasser, in einen Fluss oder ins Meer. Der Brief ist dann immer für denjenigen gedacht, der die Flaschenpost als Erster findet. Und das warst ja wohl du“, fügte er grinsend hinzu.
„Du meinst, ich darf diese Flaschenpost behalten und den Brief lesen?“ Das ist ja richtig spannend, dachte Matthias. Ohne zu zögern öffnete er den Verschluss der Kappe und holte das zusammengerollte Papier heraus. Neugierig schauten beide darauf. Es war tatsächlich ein Brief und zwar von einer sogenannten Oma Tine. Dort stand:

„Lieber Finder!
Ich sitze hier ganz alleine im Leuchtturm auf der kleinen Insel nahe am Strand. Mein Boot ist kaputt und ich kann es nicht reparieren. Ich würde mich freuen, wenn du mir helfen kannst. Ich habe auch immer frische Kekse gebacken für den Fall, dass du diesen Brief liest.

Liebe Grüße Oma Tine!“

Opa runzelte die Stirn, was Matthias wunderte.
„Was ist denn, Opa?“
„Hm, ich kenne die Insel und den Leuchtturm, vom dem sie schreibt. Aber ich habe nie gewusst, dass dort auch wirklich jemand lebt.“
„O doch“, sagte Matthias und tippte mit dem Finger auf den Brief. „Oma Tine wohnt dort und sie braucht Hilfe.“
Opa knetete sein Kinn und lächelte kurz.
„Und was meinst du, sollten wir jetzt tun?“
„Na, wir müssen dahin und ihr helfen.“
„Dann, denke ich, sollten wir das auch. Du kannst meinen Regenmantel haben, denn der Weg dorthin kann ungemütlich werden.“
Und schon machten sie sich mit ihren Fahrrädern auf an das naheliegende Meer. Schon von weitem konnte Matthias die kleine Insel erkennen und auch den Leuchtturm. Er war nicht sehr groß, aber mit rot-weißen Streifen umzogen. Ein starker Wind wehte vom Meer ans Land und die zwei mussten sich schwer dagegenstemmen, um vorwärts zu kommen. Endlich am Strand angekommen, zog Opa eine verwitterte Plane von etwas weg, das wie ein Ruderboot aussah.
„Das hat mal einem alten Freund gehört“, schrie Opa, um sich in dem Wind verständlich zu machen. „Steig ein, wir rudern rüber!“
Es war nicht einfach, zu der Insel zu kommen. Immer wieder klatschten die Wellen gegen das Boot und ließen es heftig schaukeln. Doch sie schafften es. Mit vereinten Kräften zogen sie das Boot an den Strand, damit es nicht weggespült werden konnte und gingen auf den Leuchtturm zu.
Die Tür knarrte entsetzlich, als Opa sie öffnete.
„Hallo? Ist hier jemand?“
Erst war es still um sie herum, doch dann hörten sie eine freundliche Stimme, die ihnen von oben zurief: „Ich bin hier oben! Schön, dass ihr gekommen seid.“
Opa und Matthias gingen die Wendeltreppe hinauf und schnauften, als sie oben angekommen waren. Von außen hatte der Leuchtturm nicht nach so vielen Treppenstufen ausgesehen.
Sie betraten ein kleines, aber gemütlich eingerichtetes Zimmer, in dem eine alte Frau in einem Schaukelstuhl saß und sie glücklich anlächelte.
Matthias fragte: „Du bist bestimmt Oma Tine, nicht wahr?“
Die alte Frau nickte. „Und du hast bestimmt meine Flaschenpost gefunden. Ich freue mich sehr, dich zu sehen. Und Sie sind bestimmt...“
Opa ging auf Oma Tine zu und reichte ihr die Hand. „Ich bin sein Großvater. Als wir gelesen haben, dass Sie Hilfe brauchen, sind wir gleich losgefahren. Sie haben doch sicher Werkzeug?“
Und wieder dieses freundliche Nicken. „Es ist ein Stockwerk tiefer in einer kleinen Kammer. Und das Boot liegt gleich am Strand.“
Opa lächelte zurück. „Ich weiß. Ich habe es gesehen, als wir unser Boot festgemacht haben. Keine Sorge, ich krieg das hin.“
„Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen. Wie kann ich mich bei Ihnen bedanken?“
„Zuserst mach ich mich mal an die Arbeit. Und dann.... Matthias, sag du doch auch mal was.“
Und Matthias dachte nach. Oma Tine war bestimmt sehr einsam. Sicher bekam sie nicht oft Besuch und warum sollten Opa und er einen angebrochenen Spieltag unterbrechen?
„Sie haben geschrieben, dass Sie frische Kekse haben?“
„Oh ja, die habe ich. Jeden Tag backe ich welche in der Hoffnung, dass jemand vorbeikommt. Ich habe schon so viele gebacken, dass ich die meisten an die Fische verfüttert habe.“
„Dann essen wir die jetzt eben auf. Vielleicht können wir alle zusammen ja noch etwas spielen.“
Jetzt, wo Matthias es gesagt hatte, zweifelte er daran, dass Oma Tine überhaupt Spiele besaß. Doch zu seiner Überraschung sagte sie:
„Das ist eine tolle Idee. Ich habe schon so lange nicht mehr mit jemandem gespielt. Dabei habe ich jede Menge Spiele hier. Wie gesagt, es könnte ja mal jemand vorbeikommen.“ Da lächelte sie auf einmal wie ein junges Mädchen und war begeistert. Opa freute sich, dass alles so gut gegangen war und zog zufrieden los, um Oma Tines Boot wieder zu richten.

Als die Dämmerung hereinbrach, saßen sie immer noch zusammen. Sie spielten, aßen Kekse, die wirklich hervorragend schmeckten und erzählten sich spannende Geschichten. Doch dann mussten sich Opa und Matthias auch schon wieder verabschieden, um nicht im Dunkeln nach Hause zu fahren. Oma Tine bedankte sich noch einmal herzlich. Sie war so glücklich, mal wieder einen schönen Tag unter Menschen verbracht zu haben, dazu noch unter so netten, die wohlbehalten zu Hause ankamen und sich ebenfalls glücklich fühlten.
In den nächsten Tagen und Wochen musste Matthias immer wieder an Oma Tine und den alten Leuchtturm denken. Das gab ihm ein so gutes Gefühl, dass er seine Hausaufgaben plötzlich mit Leichtigkeit schaffte und sogar ein sehr gutes Zeugnis mit nach Hause brachte.
Als Opa ihn dann anrief und fragte, ob er Lust habe, zusammen mit ihm Oma Tine wieder zu besuchen, wartete Matthias gar nicht lange und schwang sich auf sein Fahrrad. Es waren ja schließlich Ferien.
 



 
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