Die Flucht

Lunar Light

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Am Horizont konnte er noch den bitteren Todeskampf der sterbenden Sonne beobachten. Doch der Tod machte ihm keine Angst. Nur das Absterben alter bestehender Formen macht das Entstehen neuer erst möglich - darüber war er sich schon lange im Klaren. Er wusste es bevor er diese Reise antrat. Vielleicht war dies sogar der Grund, warum er diesen Entschluss gefasst hat. Er wusste es nicht. Niemand wusste es. Und niemand würde es jemals erfahren. Er drehte sich nicht um als er den kleinen Ort verließ. Niemand sah ihm nach. War es ein Lachen was er da hörte? Er war sich nicht sicher. Vielleicht war es auch der Wind, der ihm leise zuraunte. Er tue das Richtige, vermeinte er nun ganz deutlich zu hören. Doch diese Bestätigung war nicht mehr nötig. Sein Entschluss stand schon lange fest. Und jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen. Der Schleier der Nacht senkte sich über die Erde, oder über das, was davon übrig war. Er hatte keine Angst. Er lächelte bei dem Gedanken an das bevorstehende Ereignis. So folgte er dem Weg, den er noch nie zuvor gegangen war. Dennoch wusste er ganz genau, wohin er ihn führen würde. Er war fast ganz und gar von der Dunkelheit umgeben. Der Mond schien seine Trauer nicht verbergen zu können. Dennoch strahlte er aus voller Kraft, um ihm den Weg zu erhellen. Er wusste nicht, wie lange er schon gegangen war als er die Tore einer toten Stadt erreichte. Er ging die schmalen Gassen entlang, vorbei an den Häusern, in denen keine Lichter brannten. Ein Engel kauerte an einer Hauswand und weinte blutige Tränen, die sich mit dem einsetzenden Regen vermischten. Seine Flügel waren gebrochen. Der Engel schaute nicht auf als er vorüberging. Er verließ die Stadt und folgte dem Weg, entlang einem kleinen Bach. Luna verbarg ihr Gesicht hinter den schwarzen Wolken. Er fühlte sich sicher im Schutz der Nacht. Er brauchte kein Licht, denn er wusste genau wohin er ging. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Kraft des Windes nahm mehr und mehr zu. Es gefiel ihm. Es verlieh ihm ein letztes Gefühl von Freiheit. Das hatte er seit Monaten nicht mehr gespürt. Vielleicht waren es auch Jahre oder Jahrzehnte. Er vermochte sich an nichts mehr genau zu erinnern. Aber so genau nahm er das nicht. Das hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben. Alle Dinge, die ihm ehemals wichtig waren, erschienen ihm nun als belanglose Nichtigkeiten. Er wusste, dass er nun seiner endgültigen Bestimmung entgegensah. Voll freudiger Erwartung setzte er seinen Weg fort. Der Pfad, dem er folgte, bahnte sich in Schlangenlinien durch die Nacht. Auch war er jetzt unebener und steiniger geworden. Der Pfad führte hinauf zu einem Berg, und er fühlte, dass es nun nicht mehr weit sein würde. Als er die Spitze des Berges erreicht hatte, hatte auch Luna sich wieder aus ihrem Versteck gewagt, um eine letzte Träne zu weinen. Er blickte hinab in das Tal, das im Mondlicht geheimnisvoll silbrig schimmerte. Der See in der Mitte des Tales reflektierte das Antlitz Lunas. Der See erschien unergründlich, und das gesamte Bild beinhaltete für ihn eine unbeschreibliche Mystik. Er schloss die Augen, um diesen Augenblick ganz in sich aufzunehmen. Es war nicht mehr weit. Gleich war er am Ziel seiner Reise - das wusste er ganz genau. Er folgte dem Weg, der hinab durch das Tal führte. Er führte vorbei an dem See, den er soeben noch aus der Ferne bewundert hatte. Aus der Nähe wirkte er noch unergründlicher und erschien beinahe bedrohlich. Dennoch verspürte er immer noch nicht den leisesten Anflug von Angst. Als er das dunkle, aber doch so friedvolle Tal durchquert hatte, führte der Weg steil und steinig einen weiteren Berg hinauf. Der Weg war beschwerlich, aber er lächelte als er sich an den mühsamen Aufstieg machte. Oben angekommen wusste er, dass er nun endlich am Ziel war. Er war am Ende seiner Reise. Sein Herz füllte sich mit Vorfreude auf das neue Leben, das auf ihn wartete. Er blickte in den schwarzen Abgrund, aber er sah nichts weiter als Dunkelheit. Und er hörte nichts außer dem Rauschen des Windes in den Baumkronen irgendwo unter ihm. Noch einmal atmete er die reine, klare Luft dieser wunderschönen Nacht ein. Er blickte sich nicht noch einmal um. Als er hervortrat und sprang, sang in der Ferne die Nachtigall.

(vom 16. & 17.08.2000)
 



 
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