Die Frau aus Sansibar

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Tessler hasste diese wandgroßen Plakattapeten, auf denen Sonnenuntergänge, Waldlichtungen oder tropische Strände wie dieser abgebildet waren. Aber Sansibar?

Tessler legte das Headset seines Diktiergerätes zur Seite und wischte sich den Schweiß von der Stirn, wo er ihn wie ein elektrisches Zittern gespürt hatte. Skeptisch blickte er danach auf seinen beigefarbenen Hemdsärmel, und schließlich noch ein Mal im ganzen Zimmer umher.
Hinter ihm schmückte die wandgroße Plakattapete den Raum, an der Decke darüber eine mehrarmige, gussschwarze Lampe, und schräg neben ihm das bunt bezogene Kinderbett, auf dem noch immer der Junge im Schlafanzug saß, die Arme wie eingeschnappt um die angewinkelten Beine geklammert.
Tessler mochte ihn nicht ansehen. Der Junge saß dort und schwieg seit über einer Stunde, und Tessler war sich darüber im Klaren, dass er für ihn und seine Mutter nichts weiter würde tun können. Er hatte hier nichts mehr verloren; also legte er das Diktiergerät und die Papiere zurück in seine abgetragene, rotbraune Wildledertasche, zog leger das Jackett, direkt von der Stuhllehne aus über seinen sehnigen Rücken und stand auf.
Genau in dem Moment jedoch, als der Stuhl quietschend einige Zentimeter über den weißen Kalksteinboden riss, fiel ein gelber Tennisball – offenbar aus der Hand des Jungen – vom Kinderbett aus auf den Boden, machte ein paar müde Sprünge und rollte dann Tessler genau vor die Füße.
Und der blieb stehen, wie gefesselt und eingesperrt, von einem kleinen, gelben Ball, der ihn, als er darauf hinunter blickte, an eine Zitrone erinnerte, an ein Hoflokal mit einem schattigen Zitronenbaum hier in Réthymnon, an kühle Getränke in sengend mediterraner Hitze. Tessler blickte auf die Strandtapete. Sansibar. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, den er dort wie ein elektrisches Zittern spürte, und blickte danach auf seine Füße, die er noch immer nicht einen Zentimeter regen konnte. Wie gefesselt und eingesperrt, von einem kleinen, zitronengelben Ball, sah Tessler mit schwerem, flatterndem Blick langsam zu dem Jungen auf, und begann erst wieder zu atmen, als er erkannte, dass dieser reglos aus dem Fenster neben sich starrte.
Doch plötzlich konnte Tessler seinen Blick nicht mehr von ihm nehmen. Nachdem er den Jungen die ganze Zeit über nicht hatte ansehen wollen, betrachtete er ihn jetzt mit hilflosem Mitleid, beinahe einer Traurigkeit, die nicht von seiner Welt schien. Und immer mehr noch blieb Tessler in sich gefesselt und eingesperrt, von einem kleinen, zitronengelben Ball. Schweiß rann ihm in dünnen Tropfen die Schläfen hinab.

Wie die Mutter des Jungen zurück ins Zimmer kam, bemerkte Tessler kaum. Ihrem enttäuschten Blick darüber, dass er nun offenbar vorhatte zu gehen, begegnete er nicht.
Erst als sie sich bückte, den Ball vor Tesslers Füßen aufzuheben, sah er wie ihre Jeans an einigen durchgesessenen Stellen zu Haut auseinander klaffte, und konnte sich wieder regen.
Wie eine alte Klamotte warf sie den Ball hinüber aufs Bett, was Tessler nur staunend registrierte. Er selbst wäre dazu wohl kaum in der Lage gewesen.
Dann sah sie ihn, zur Hälfte wütend, zur anderen voller Verzweiflung an, strich sich die langen, braunen Haare hinter die Ohren und wartete ihr Schicksal ab.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Tessler, dass der Junge wieder wie vorhin auf seinem Bett saß. Und Blick und Nähe seiner Mutter, schienen Tessler wie ein Gefängnistor, das langsam zufiel, wie Ketten, die ruhig klappernd sich verschnürten, wie eine Anklageschrift, die in Zeitlupe geschlossen wurde. Hastig wischte er sich den Schweiß von der Stirn und sagte, dass er bedauere nichts mehr für sie tun zu können. In zwei Wochen hätten sie und ihr Kind diesen Ort zu verlassen.
Dann klemmte sich Tessler die rotbraune Wildledertasche unter den Arm, trat an der Frau mit den hängenden Schultern vorbei, wie durch weit offene Flure, und verließ die Wohnung.

Die Mittagssonne brannte barbarisch. Ihr Licht war weiß und kurz vor Augen. Und Tessler wollte nur die wandgroße Plakattapete mit dem tropischen Strand nicht mehr aus dem Kopf.
Hundert Meter von hier standen Akazien und Zypressen in sandunterlaufenen, schattigen Dünen. Dahinter lagen dünner, blasser Sandstrand und blaugespiegeltes Meer. Also warum dann das Bild?
Tessler hatte mal einen Bekannten in New York besucht, der dort ein wandgroßes Bild der Manhattan-Skyline in seiner Wohnung hatte. Trat man auf seinen Balkon, sah man das selbe, nur aus der entgegengesetzten Richtung. Aber Sansibar?
Tessler setzte seine Sonnenbrille auf, ließ einen Vesparoller an sich vorbei fahren und trat dann über die Straße, als aus dem Hause hinter ihm ein Pfiff ertönte. Skeptischen Blickes drehte Tessler sich um. Im Fenster der zweiten Etage stand ein Junge, mit einem zitronengelben Ball in der Hand, und holte weit aus, ihn nach Tessler zu werfen.
 

Rainer

Mitglied
hallo david,

ich habe nur an zwei marginalen pukten zu meckern:

im zweiten abschnitt ist mir ein zitronengelb zuviel, da noch ein zitronenbaum "mitspielt" - ich denke, ein einfaches gelb tut es im zweiten fall auch.

die barbarisch brennende sonne - ist mir zu umgangssprachlich; eine echte alternative habe ich aber auf die schnelle nicht zu bieten, da gnadenlos zu ausgekatscht ist.


der satz: "Ihr Licht war weiß und kurz vor Augen" erschließt sich mir leider nicht, und ob die erwähnung daß der rücken tesslers sehnig ist, notwendig ist, weiß ich auch nicht, aber es passt schon, tessler wird dadurch "bildlicher". aber mir altem meckerkopp gefällt es eben nicht, das mit dem sehnigen rücken erreichen zu wollen.



ansonsten ausgezeichnet formuliert, die vermeintlichen fehler erklären sich von selbst, wenn man deine schreibe "kennt". hat mich sehr gefreut, und ich hoffe, bald wieder etwas von dir lesen zu können.

viele grüße

rainer
 
vielen dank.

und rainer:
mal wieder triffst du genau die punkte, bei denen ich auch am grübeln war (der sehnige rücken und die barbarische sonne). beim zweiten zitronengelb zwar nicht, aber dass sehe ich auch noch ein.
und sonnenlicht, das kurz und hell vor augen ist - kennst du das nicht, wenn du auf die straße gehst und im ersten moment quasi zur blindheit geblendet bist. es ist ganz hell und du kannst nicht sehr weit (also nur kurz) sehen. das meinte ich.
 

Zefira

Mitglied
"Eisern" gefällt mir.

Und noch etwas: >> ... sah er wie ihre Jeans an einigen durchgesessenen Stellen zu Haut auseinander klaffte, <<

Jeans gehen nicht vom Sitzen kaputt, das tun Sessel oder Sofas. Ich würde es durch "durchgescheuert" ersetzen.

lG, Zefira
 

majissa

Mitglied
Hallo David,

da ich eine besondere Vorliebe für Kreta habe, möchte ich um diesen Text keinen Bogen machen und schließe mich meinen Vorrednern mit Lob und Glückwunsch an. Du schreibst sehr sorgfältig und mit einer Liebe zum Detail, die nicht nervig oder unangenehm wirkt. Im Gegenteil – eine Zeitlang fühlte ich mich in den Süden versetzt. Eine Sonne, die weiß und kurz vor Augen steht, kenne ich – gerade aus Réthymnon – könnte mir aber vorstellen, dass sich zum besseren Verständnis für „kurz“ etwas anderes finden ließe. Wieso schreibst du nicht gleich, dass sie blendet? Die Wichtigkeit des beigefarbenen Ärmels will sich mir nicht erschließen, aber ich vermute, dass auch solch nebensächliche Erwähnungen zu deinem Schreibstil gehören. Wirklich störend wirkt es nicht. Sansibar aber gibt auch mir noch Rätsel auf. Nachdem keiner der Kommentatoren nachgefragt hat, vermute ich, dass allen klar ist, was mit Mutter und Sohn in absehbarer Zeit geschehen soll und frage mich, ob ich die einzige bin, die noch nicht durchblickt. Abschiebung, hm?

Liebe Grüße
Majissa
 

Rainer

Mitglied
hallo david,

eiserne strenge - gefällt mir ausgezeichnet, passt auch gut zum text.

das mit dem licht habe ich jetzt geschnallt - hatte wohl eine sehr kurze leitung am dienstag.


viele grüße

rainer
 



 
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