Die Frau, der ich winkte

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Dornrose

Mitglied
Sie begleitet mich schon lange. Noch heute sehe ich sie vor mir, wie sie auf ihrem Damenfahrrad angeradelt kommt, langsamer wird, schließlich absteigt. Sie kommt näher, ist nur noch zwei Meter von mir entfernt, bückt sich, um besser sehen zu können. Ich winke ihr, einmal und dann noch einmal. Mehr schaffe ich nicht. Sie tritt zurück, als habe sie sich erschreckt, mich zu sehen oder weil ich ihr zuwinke. Und dann steigt sie wieder auf ihr Fahrrad und setzt ihren Weg fort, nicht ohne noch einmal zurückzublicken.

Ich denke fast täglich an die Frau. Sie ist vielleicht Mitte vierzig und hat graues kurzes Haar. Häufig träume ich nachts von ihr. Immer wieder sind es die gleichen Bilder die mich begleiten. Die Frau, der ich winke fährt wieder fort.

Vermutlich ist sie auf dem Heimweg zu Mann und Kindern. Ihre Kinder sind vielleicht sogar im gleichen Alter wie ich. Vielleicht erzählt sie sogar ihrem Mann, was sie gerade Unglaubliches beobachten konnte. Vielleicht ist sie sogar entrüstet über das Erspähte. Vielleicht aber setzt sie sich mit einem Krimi in die Küche, vergisst mich sofort wieder, wird gepackt von dem Grauen des geschilderten Mordes und genießt den Schauer, der ihr über den Rücken fährt.

Ich bleibe zurück mit meiner Verzweiflung und der Angst, die ich auch heute noch spüre und gleichzeitig mit dem Wunsch und der Hoffnung, sie möge zurückkommen. Manchmal denke ich mir aus, sie würde umdrehen und mich retten.

Sie sagt: „Was machst du denn da?“

Sie schimpft dann ein bisschen mit mir, weil sie es nicht besser weiß. Aber sie rettet mich an solchen Tagen in meinen Gedanken.

Meistens jedoch fährt sie fort. Sie rettet mich nicht, obwohl sie erkennen kann, wie jemand ein Halstuch über mein Gesicht wirft und meine Arme festhält. Es soll mich niemand mehr erkennen können. Und winken soll ich auch nicht mehr. Dabei winke ich ohnehin nicht mehr, seit die Frau wieder ihr Fahrrad bestieg und sich, so schnell sie gekommen war, auch wieder verschwand. Warum auch?

Die Frau, der ich winke liest sicher täglich die Zeitung. Auch das denke ich oft und sehe, wie sie Tage später den Regionalteil aufschlägt und liest, ein Mädchen sei unter den Augen der Öffentlichkeit von mehreren Männern überfallen und geschändet worden. Eine Zeugin, die mit dem Fahrrad vorbei fuhr, werde gesucht. Mitte vierzig, heißt es weiter, und mit grauem Haar, sei die Frau, der das Mädchen gewunken haben will.

Sie erinnert sich an jenen Abend, ein leichter Schauer läuft über ihren Rücken. Sie erinnert sich an das Gesehene, überlegt, ob sie hätte zurückkehren sollen. Der Moment, in dem sie die Zeitung dem Abfalleimer übergibt, ist gleichzeitig der Moment, in dem sie beschließt, das Mädchen aus ihrer Erinnerung zu streichen.

Sie begleitet mich schon lange, die Frau, der ich winke... und winke...
 
C

Corto

Gast
Gefällt mir spontan gut.
Der Rythmus stimmt und die Spannung wird in kleinen, unspektakulären Schritten aufgebaut.
Die Wortwahl ist karg, aber präzise, also dem Thema angemessen.
Gut gemacht.
Gruß
Corto
 



 
Oben Unten