Die Frau mit der Pflanze

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sonah

Mitglied
Es ist ein freundlicher Raum, die Cafeteria: hell aber keine grelle Beleuchtung, saubere Tische, bedeckt mit nicht sofort auffallender Dekoration: ein Blumengebinde, ein paar kleine Zierkürbisse in einem Korb am Tresen, eine Grünpflanze auf jedem Tisch. Durch die großen Fenster kann sie direkt nach draußen schauen. Dort ist es grau und bedeckt, typisches Novemberwetter im Oktober. Der Morgen begann mit einer gedämpften Helligkeit, die sich auch bis zum Mittag nicht ändern würde. Aber in dem Raum kann man sich wohlfühlen, wenn man nicht nach draußen schaut.

Die Nacht war wenig erholsam gewesen, mit einigen Wachperioden. Rita ist müde und weiß nicht, was heute auf sie zukommen wird. Sie würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, etwas warmes Gebäck dazu. Oder besser noch unsichtbar sein und die Leute beobachten, sich dem Müßiggang hingeben, einfach treiben lassen. Die Gedanken wandern ohne Ziel, springen vom Eindruck zur Idee zur Empfindung.

Sie sitzt hier mit ihrem Kollegen und einem anderen Teilnehmer der offiziellen Besprechung und versucht, einen guten Eindruck zu machen. Wie machte man einen guten Eindruck? Macht man einen schlechten Eindruck, wenn man keinen guten Eindruck macht?

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind. Das Gespräch ist nicht anspruchsvoll, ein paar Fragen, etwas Small Talk: Wie ist Dortmund als Stadt ... Fußgängerzone nachts tot ... Junkies in Frankfurt ... Berlin interessant ... überall anders ... Stadtspaziergang in Darmstadt ... Künstlerkolonie. Das Gespräch weist Lücken auf, weil ihre Gedanken ihr immer wieder entgleiten.

Sie macht sich Vorwürfe, dass sie sich so wenig am Gespräch beteiligt. Dabei strengt sie sich normalerweise an, die ganze Zeit. Nicht heute Morgen, aber gestern, versucht sich zu beteiligen, zuzuhören, zu verstehen, intelligente Vorschläge zu machen. Und doch wirken die anderen immer sicherer. Wissen sie auch besser Bescheid? Es scheint alles umsonst zu sein und abends ist sie nur noch ausgelaugt, will allein sein, aber kann nicht, da es noch ein gemeinsames Essen gibt. Sie hofft, dass die Tränen nicht mehr kommen, die roten Augen nicht mehr auffallen, wenn sie zum Treffen geht. Die Spuren werden rasch weggewischt, aber der Schmerz bleibt, das sich allein fühlen, hilflos, fremd. Der Schmerz ist da, lässt sich nicht eliminieren, aber das ist zu privat, das soll niemand sehen. Sie muss funktionieren, souverän sein, unangreifbar.

Und sie steht den Abend auch noch durch und den nächsten Morgen und versucht weiterhin, einen guten Eindruck zu machen oder denkt sich zumindest, sie sollte es tun. Sie versucht es, versucht es vielleicht zu sehr, und beobachtet die Bedienstete in der Cafeteria, die sich auf einen Stuhl gehockt hat, mit angezogenen Beinen, gemütlich hineingekuschelt und ganz in Ruhe, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen. Ihr scheint die Tätigkeit zu gefallen, sie ist bei der Sache. Es passt alles gut zusammen: die helle Cafeteria, die Pflanzen, die appetitlichen Brötchen am Tresen, die Dekoration. Es erscheint so als wäre die Frau mit der Pflanze hier zu Hause und würde nicht nur dieser Tätigkeit nachgehen, weil es zu ihrer Arbeit gehört. Es sieht so als, als hätte sie gerade eben ihr Buch beiseitegelegt und würde jetzt in ihrem Wintergarten die Pflanzen stutzen.

Rita wäre so gerne diese Frau. Sie würde einfach die Blätter abschneiden und dann ein Brötchen verkaufen. Nicht jetzt wochenlang etwas planen, von dem man gar nicht weiß, ob es funktionieren wird. In einer Besprechung sitzen und siedendheiß feststellen, dass man versäumt hat, sich auf einen wichtigen Punkt vorzubereiten. Mit wichtigen Leuten zusammensitzen, etwas sagen, um hinterher festzustellen, dass es völliger Unsinn war. Oder die ganze Zeit meinen, man müsste jetzt einen guten Eindruck machen, die ganze Zeit versuchen, jemand zu sein, der man nicht ist. Wieso kann sie nicht einfach eine Pflanze verschönern und ein Brötchen schmieren?

Sicher, es ist eintönig, Tag für Tag, schlechter bezahlt, vielleicht sind die Leute auch unfreundlich, von oben herab. Es hat Tradition, auf die hinabzusehen, die für einen sorgen. Dafür hat sie nicht studiert. Aber die Frau mit der Pflanze sitzt einfach da und macht ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie scheint nicht voller Zweifel zu sein. So friedlich wirkt es, wie eine andere Welt, eine heilere Welt.

Wie eine Katze wirkt die Frau mit der Pflanze, die aus freien Stücken etwas tut. Die Katze denkt sich auch nicht, wenn sie vor dem Kamin liegt und schnurrt: "So ein Ärger, jetzt liege ich schon wieder vor dem Kamin. Ich sollte an der frischen Luft sein." Oder tut sie es vielleicht doch? Dann würde sie nicht schnurren. Dann würde sie Magengeschwüre bekommen, für ein Eigenheim sparen und einen Mittelklassewagen fahren. Sie würde ihr Handy tagsüber nie abschalten und nachts vom Kamin träumen.
 
C

cellllo

Gast
"Sie versucht es, versucht es vielleicht zu sehr, und beobachtet die Bedienstete in der Cafeteria, die sich auf einen Stuhl gehockt hat, mit angezogenen Beinen, gemütlich hineingekuschelt und ganz in Ruhe, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail, eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen."
Hab ich das richtig verstanden ?
Die Bedienstete kuschelt mit angezogenen Beinen (???) auf einem Stuhl und in dieser Haltung beschneidet sie die Zimmerpflanze ???

Egal wie, aber diese Bedienstete, dieses beneidete Gegenbild der Ich-Erzählerin, sollte irgendwie schon früher im Text eingeführt werden und die langen vielen Abschnitte, die nur vom Befinden der Ich-Erzählerin handeln, sollten immer wieder von kleinen gelassen-entspannten Handlungen der Bediensteten konterkariert werden, bis diese schließlich anfängt, geruhsam die Pflanze zu beschneiden und dann schließlich zutiefst beneidet wird...

Die Idee der Geschichte finde ich sehr gut und symptomatisch !
Auch ich hab mich Jahrzehnte permanent überfordert gefühlt im Beruf und mich soooo oft ganz ähnlich nach einer bescheiden-schlichten Tätigkeit gesehnt...
Mein Sohn hat als typischer Leistungsverweigerer diesen Weg realisiert, hat nun endlich einen "bescheidenen Job" und wird da total bis auf die Knochen ausgebeutet !!!
So kann man sich leider gewaltig irren.... :-(
cellllo
 
C

cellllo

Gast
Sorry, ich hab voreilig die Erzählerin zur Ich-Erzählerin gemacht, damit sie sich von ihrem Gegenbild leicht unterscheiden lässt, wenn der Text von einer Frau zur andern wechselt..... es würde evtl. auch die Subjektivität der Wahrnehmungen intensivieren......
Sorry
c
 

sonah

Mitglied
Danke Celllo, die Vorschläge finde ich gut.

Das mit dem "hineingekuschelt": Ich hatte da ein Bild vor mir, muss es aber dann wohl noch überdenken, wenn es unglaubwürdig erscheint.

Habe ich das richtig verstanden? Du schlägst vor, die Rita zur Ich-Erzählerin zu machen? Ich hatte die Geschichte in der ersten Version so geschrieben, dann war es mir zu "persönlich", vielleicht auch noch überdenken, muss ich noch etwas sacken lassen.

Danke jedenfalls für die Beiträge!

Sybille
 

sonah

Mitglied
Es ist ein freundlicher Raum, die Cafeteria: hell aber keine grelle Beleuchtung, saubere Tische, bedeckt mit nicht sofort auffallender Dekoration: ein Blumengebinde, ein paar kleine Zierkürbisse in einem Korb am Tresen, eine Grünpflanze auf jedem Tisch. Durch die großen Fenster kann ich direkt nach draußen schauen. Dort ist es grau und bedeckt, typisches Novemberwetter im Oktober. Der Morgen begann mit einer gedämpften Helligkeit, die sich auch bis zum Mittag nicht ändern würde. Aber in dem Raum kann man sich wohlfühlen, wenn man nicht nach draußen schaut. Es liegt ein leichter Geruch von frischen Brötchen und Kaffee in der Luft, der sämtliche Eindrücke überlagert.

Die Nacht war wenig erholsam gewesen, mit einigen Wachperioden. Ich bin müde und weiß nicht, was heute auf mich zukommen wird. Ich würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, etwas warmes Gebäck dazu. Oder besser noch unsichtbar sein und die Leute beobachten, sich dem Müßiggang hingeben, einfach treiben lassen. Die Gedanken wandern ohne Ziel, springen vom Eindruck zur Idee zur Empfindung.

Ich sitzte hier mit meinen Kollegen und einem anderen Teilnehmer der offiziellen Besprechung und versuche, einen guten Eindruck zu machen. Wie machte man einen guten Eindruck? Macht man einen schlechten Eindruck, wenn man keinen guten Eindruck macht?

Ich beobachte die Bedienstete in der Cafeteria, die auf einem Stuhl sitzt, ganz in Ruhe, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen. Ihr scheint die Tätigkeit zu gefallen, sie ist bei der Sache.

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind. Das Gespräch ist nicht anspruchsvoll, ein paar Fragen, etwas Small Talk: Wie ist Dortmund als Stadt ... Fußgängerzone nachts tot ... Junkies in Frankfurt ... Berlin interessant ... überall anders ... Stadtspaziergang in Darmstadt ... Künstlerkolonie. Das Gespräch weist Lücken auf, weil meine Gedanken mir immer wieder entgleiten.

Ich schaue mich in der hellen Cafeteria um, sehe die Pflanzen, die appetitlichen Brötchen am Tresen, die Dekoration. Es erscheint so als wäre die Frau mit der Pflanze hier zu Hause und würde nicht nur dieser Tätigkeit nachgehen, weil es zu ihrer Arbeit gehört. Fast so, als hätte sie gerade eben ihr Buch beiseitegelegt und würde jetzt in ihrem Wintergarten die Pflanzen stutzen.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich mich so wenig am Gespräch beteilige. Dabei strenge ich mich normalerweise an, die ganze Zeit. Nicht heute Morgen, aber gestern, versuche mich zu beteiligen, zuzuhören, zu verstehen, intelligente Vorschläge zu machen. Und doch wirken die anderen immer sicherer. Wissen sie auch besser Bescheid? Es scheint alles umsonst zu sein und abends bin ich nur noch ausgelaugt, will allein sein, aber kann nicht, da es noch ein gemeinsames Essen gibt. Ich hoffe, dass die Tränen nicht mehr kommen, die roten Augen nicht mehr auffallen, wenn ich zum Treffen gehe. Die Spuren werden rasch weggewischt, aber der Schmerz bleibt, das sich allein fühlen, hilflos, fremd. Das lässt sich nicht eliminieren, ist aber zu privat, das soll niemand sehen. Ich muss funktionieren, souverän sein, unangreifbar.

Und ich stehe den Abend auch noch durch und den nächsten Morgen und versuche weiterhin, einen guten Eindruck zu machen oder denke mir zumindest, ich sollte es tun. Ich versuche es, versuche es vielleicht zu sehr.

Ich wäre jetzt gerne diese Frau. Ich würde einfach die Blätter abschneiden und dann ein Brötchen verkaufen.

Sicher, es ist eintönig, Tag für Tag, schlechter bezahlt, vielleicht sind die Leute auch unfreundlich, von oben herab. Es hat Tradition, auf die hinabzusehen, die für einen sorgen. Dafür habe ich nicht studiert. Aber die Frau mit der Pflanze sitzt einfach da und macht ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie scheint nicht voller Zweifel zu sein. So friedlich wirkt es, wie eine andere Welt, eine heilere Welt.

Wie eine Katze wirkt die Frau mit der Pflanze, die aus freien Stücken etwas tut. Die Katze denkt sich auch nicht, wenn sie vor dem Kamin liegt und schnurrt: "So ein Ärger, jetzt liege ich schon wieder vor dem Kamin. Ich sollte an der frischen Luft sein." Oder tut sie es vielleicht doch? Dann würde sie nicht schnurren. Dann würde sie Magengeschwüre bekommen, für ein Eigenheim sparen und einen Mittelklassewagen fahren. Sie würde ihr Handy tagsüber nie abschalten und nachts vom Kamin träumen.

Ablauf geändert, Ich-Erzählerin, Stellen gekürzt
 
Dein Text, sonah, hat mich sprachlich wie auch inhaltlich angesprochen, wohl da ich selbst zu dieser Art von psychologischem Realismus tendiere.

Vielleicht kommt hier noch der Einwand, es passiere ja gar nichts, also sei es keine Kurzgeschichte, eher eine Erzählung oder ein Kurzprosatext. Tatsächlich ist die Handlung vollständig in das Bewusstsein der IE verlagert, wo dann durchaus eine Entwicklung stattfindet.

Nur Kleinigkeiten: In Abschnitt 1 fehlen zwei Kommas (hinter "hell" und "bedeckt"). In Abschnitt 3 würde ich "mich dem Müßiggang hingeben". In Abschnitt 3 ist ein "t" zu viel ("sitzte"), auch würde ich dort bei "machte" das "e" wegnehmen. Abschnitt 6: Warum einmal vor "als" ein Komma und einmal keins?

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

sonah

Mitglied
Die Cafeteria ist ein freundlicher Raum: hell, aber keine grelle Beleuchtung, saubere Tische, mit nicht sofort auffallender Dekoration: ein Blumengebinde, ein paar kleine Zierkürbisse in einem Korb am Tresen, eine Grünpflanze auf jedem Tisch. Durch die großen Fenster kann ich direkt nach draußen schauen. Dort ist es grau und bedeckt, typisches Novemberwetter im Oktober. Der Morgen begann mit einer gedämpften Helligkeit, die sich auch bis zum Mittag nicht ändern würde. Aber in dem Raum kann man sich wohlfühlen, wenn man nicht nach draußen schaut. Es liegt ein leichter Geruch von frischen Brötchen und Kaffee in der Luft, der sämtliche Eindrücke überlagert.

Die Nacht war wenig erholsam gewesen, mit einigen Wachperioden. Ich bin müde und weiß nicht, was heute auf mich zukommen wird. Ich würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, etwas warmes Gebäck dazu. Oder besser noch unsichtbar sein und die Leute beobachten, mich dem Müßiggang hingeben, einfach treiben lassen. Die Gedanken wandern ohne Ziel, springen vom Eindruck zur Idee zur Empfindung.

Ich sitze hier mit meinen Kollegen und einem anderen Teilnehmer der offiziellen Besprechung und versuche, einen guten Eindruck zu machen. Wie macht man einen guten Eindruck? Macht man einen schlechten Eindruck, wenn man keinen guten Eindruck macht?

Ich beobachte die Bedienstete in der Cafeteria, die auf einem Stuhl sitzt, ganz in Ruhe, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen. Ihr scheint die Tätigkeit zu gefallen, sie ist bei der Sache.

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind. Das Gespräch ist nicht anspruchsvoll, ein paar Fragen, etwas Small Talk: Wie ist Dortmund als Stadt ... Fußgängerzone nachts tot ... Junkies in Frankfurt ... Berlin interessant ... überall anders ... Stadtspaziergang in Darmstadt ... Künstlerkolonie. Das Gespräch weist Lücken auf, weil meine Gedanken mir immer wieder entgleiten.

Ich schaue mich in der hellen Cafeteria um, sehe die Pflanzen, die appetitlichen Brötchen am Tresen, die Dekoration. Es erscheint so, als wäre die Frau mit der Pflanze hier zu Hause und würde nicht nur dieser Tätigkeit nachgehen, weil es zu ihrer Arbeit gehört. Ich stelle mir vor, dass sie gerade eben ihr Buch beiseitegelegt hat und nun in ihrem Wintergarten die Pflanzen stutzt.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich mich so wenig am Gespräch beteilige. Dabei strenge ich mich normalerweise an, die ganze Zeit. Nicht heute Morgen, aber gestern, versuche mich zu beteiligen, zuzuhören, zu verstehen, intelligente Vorschläge zu machen. Und doch wirken die anderen immer sicherer. Wissen sie auch besser Bescheid? Es scheint alles umsonst zu sein und abends bin ich nur noch ausgelaugt, will allein sein, aber kann nicht, da es noch ein gemeinsames Essen gibt. Ich hoffe, dass die Tränen nicht mehr kommen, die roten Augen nicht mehr auffallen, wenn ich zum Treffen gehe. Die Spuren werden rasch weggewischt, aber der Schmerz bleibt, das sich allein fühlen, hilflos, fremd. Das lässt sich nicht eliminieren, ist aber zu privat, das soll niemand sehen. Ich muss funktionieren, souverän sein, unangreifbar.

Und ich stehe den Abend auch noch durch und den nächsten Morgen und versuche weiterhin, einen guten Eindruck zu machen oder denke mir zumindest, ich sollte es tun. Ich versuche es, versuche es vielleicht zu sehr.

Ich wäre jetzt gerne diese Frau. Ich würde einfach die Blätter abschneiden und dann ein Brötchen verkaufen.

Sicher, es ist eintönig, Tag für Tag, schlechter bezahlt, vielleicht sind die Leute auch unfreundlich, von oben herab. Es hat Tradition, auf die hinabzusehen, die für einen sorgen. Dafür habe ich nicht studiert. Aber die Frau mit der Pflanze sitzt einfach da und macht ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie scheint nicht voller Zweifel zu sein. So friedlich wirkt es, wie eine andere Welt, eine heilere Welt.

Wie eine Katze wirkt die Frau mit der Pflanze, die aus freien Stücken etwas tut. Die Katze denkt sich auch nicht, wenn sie vor dem Kamin liegt und schnurrt: "So ein Ärger, jetzt liege ich schon wieder vor dem Kamin. Ich sollte an der frischen Luft sein." Oder tut sie es vielleicht doch? Dann würde sie nicht schnurren. Dann würde sie Magengeschwüre bekommen, für ein Eigenheim sparen und einen Mittelklassewagen fahren. Sie würde ihr Handy tagsüber nie abschalten und nachts vom Kamin träumen.

28.10.2024 : Ablauf geändert, Ich-Erzählerin, Stellen gekürzt
29.10.2014 : Tippfehler korrigiert
 
U

USch

Gast
Hallo sonah,
ich schließe mich Arnos Einschätzung voll an:
Dein Text, sonah, hat mich sprachlich wie auch inhaltlich angesprochen, wohl da ich selbst zu dieser Art von psychologischem Realismus tendiere.
Eine sehr einfühlsame und nachvollziehbar lebensechte kleine Erzählung. Den hier üblichen Kriterien der Form einer Kurzgeschichte (Plot) entspricht der Text wohl nicht, aber was soll´s mit dieser sklavischen Genreeinordnung. Das tut der Qualität des Textes keinen Abbruch. Kannst ihn ja verschieben lassen.

Die Doppelpunkte im ersten Satz würde ich durch Kammata ersetzen. Doppelpunkt hierarchisch unter Doppelpunkt ist etwas befremdlich.

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind.
Ein wundervoller Satz, wie ich das liebe.
LG USch
 

sonah

Mitglied
Danke USch für den freundlichen Kommentar.

Wegen der Einordnung als "Kurzgeschichte": Das hatte - glaube ich - Arno auch schon angesprochen. Ich habe mich mit den Charakteristika einer Kurzgeschichte vertraut gemacht, bin mir bei diesem Text aber nicht sicher. Wenn jemand bei der Einschätzung sattelfester ist, bitte gerne verschieben nach "Kurzprosa" oder "Erzählung".

Sybille
 

sonah

Mitglied
Die Cafeteria ist ein freundlicher Raum. Trotz Neonbeleuchtung wirkt das Licht fast natürlich. Vielleicht liegt es an den gepflegten Grünplanzen, die jeweils mittig auf den Tischen angeordnet sind. Es sind sehr saubere Tische. Ein paar kleine Zierkürbisse stehen in einem Korb am Tresen. Durch die großen Fenster kann ich direkt nach draußen schauen. Dort ist es grau und bedeckt, typisches Novemberwetter im Oktober. Der Morgen begann mit einer gedämpften Helligkeit, die sich auch bis zum Mittag nicht ändern würde. Aber in dem Raum kann man sich wohlfühlen, wenn man nicht nach draußen schaut. Es liegt ein leichter Geruch von frischen Brötchen und Kaffee in der Luft, der sämtliche Eindrücke überlagert.

Die Nacht war wenig erholsam gewesen, mit einigen Wachperioden. Ich bin müde und weiß nicht, was heute auf mich zukommen wird. Ich würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, etwas warmes Gebäck dazu. Oder besser noch unsichtbar sein und die Leute beobachten, mich dem Müßiggang hingeben, einfach treiben lassen. Die Gedanken wandern ohne Ziel, springen vom Eindruck zur Idee zur Empfindung.

Ich sitze hier mit meinen Kollegen und einem anderen Teilnehmer der offiziellen Besprechung und versuche, einen guten Eindruck zu machen. Wie macht man einen guten Eindruck? Macht man einen schlechten Eindruck, wenn man keinen guten Eindruck macht?

Ich beobachte die Bedienstete in der Cafeteria, die auf einem Stuhl sitzt, ganz in Ruhe, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen. Ihr scheint die Tätigkeit zu gefallen, sie ist bei der Sache.

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind. Das Gespräch ist nicht anspruchsvoll, ein paar Fragen, etwas Small Talk: Wie ist Dortmund als Stadt ... Fußgängerzone nachts tot ... Junkies in Frankfurt ... Berlin interessant ... überall anders ... Stadtspaziergang in Darmstadt ... Künstlerkolonie. Das Gespräch weist Lücken auf, weil meine Gedanken mir immer wieder entgleiten.

Ich schaue mich in der hellen Cafeteria um, sehe die Pflanzen, die appetitlichen Brötchen am Tresen, die Dekoration. Es erscheint so, als wäre die Frau mit der Pflanze hier zu Hause und würde nicht nur dieser Tätigkeit nachgehen, weil es zu ihrer Arbeit gehört. Ich stelle mir vor, dass sie gerade eben ihr Buch beiseitegelegt hat und nun in ihrem Wintergarten die Pflanzen stutzt.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich mich so wenig am Gespräch beteilige. Dabei strenge ich mich normalerweise an, die ganze Zeit. Nicht heute Morgen, aber gestern, versuche mich zu beteiligen, zuzuhören, zu verstehen, intelligente Vorschläge zu machen. Und doch wirken die anderen immer sicherer. Wissen sie auch besser Bescheid? Es scheint alles umsonst zu sein und abends bin ich nur noch ausgelaugt, will allein sein, aber kann nicht, da es noch ein gemeinsames Essen gibt. Ich hoffe, dass die Tränen nicht mehr kommen, die roten Augen nicht mehr auffallen, wenn ich zum Treffen gehe. Die Spuren werden rasch weggewischt, aber der Schmerz bleibt, das sich allein fühlen, hilflos, fremd. Das lässt sich nicht eliminieren, ist aber zu privat, das soll niemand sehen. Ich muss funktionieren, souverän sein, unangreifbar.

Und ich stehe den Abend auch noch durch und den nächsten Morgen und versuche weiterhin, einen guten Eindruck zu machen oder denke mir zumindest, ich sollte es tun. Ich versuche es, versuche es vielleicht zu sehr.

Ich wäre jetzt gerne diese Frau. Ich würde einfach die Blätter abschneiden und dann ein Brötchen verkaufen.

Sicher, es ist eintönig, Tag für Tag, schlechter bezahlt, vielleicht sind die Leute auch unfreundlich, von oben herab. Es hat Tradition, auf die hinabzusehen, die für einen sorgen. Dafür habe ich nicht studiert. Aber die Frau mit der Pflanze sitzt einfach da und macht ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie scheint nicht voller Zweifel zu sein. So friedlich wirkt es, wie eine andere Welt, eine heilere Welt.

Wie eine Katze wirkt die Frau mit der Pflanze, die aus freien Stücken etwas tut. Die Katze denkt sich auch nicht, wenn sie vor dem Kamin liegt und schnurrt: "So ein Ärger, jetzt liege ich schon wieder vor dem Kamin. Ich sollte an der frischen Luft sein." Oder tut sie es vielleicht doch? Dann würde sie nicht schnurren. Dann würde sie Magengeschwüre bekommen, für ein Eigenheim sparen und einen Mittelklassewagen fahren. Sie würde ihr Handy tagsüber nie abschalten und nachts vom Kamin träumen.

28.10.2024 : Ablauf geändert, Ich-Erzählerin, Stellen gekürzt
29.10.2014 : Tippfehler korrigiert
02.11.2014 : hierarchische Doppelpunkte ersetzt
 

Kölle

Mitglied
Hallo Sonah,

das Thema der Kurzgeschichte finde ich spannend, wobei ich finde, dass es eigentlich zwei Themen sind. Doch zunächst einmal finde ich schwer in die Geschichte hinein, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie eine Bedienstete (Kellnerin oder Reinigungskraft?) während des Schankbetriebs Blumen zurechtschneidet. Solche vorbereitenden Arbeiten macht man doch vor dem Cafebetrieb?! Oder habe ich etwas überlesen? Leider ist das für mich eine Unstimmigkeit, die es mir schwer macht, an die Geschichte heranzukommen.

Was die zwei Themen betrifft, die ich meine zu sehen: einmal der Frust der Erzählerin über ihr trauriges Leben, in dem sie nur noch versucht die gesellschaftliche Maske hochzuhalten, und das andere Thema: Leben im Augenblick wie du es im Bild der Katze darstellst.

Das für mich erste Thema finde ich packend angegangen. Der Frust der Erzählerin sind die welken Blätter, die von der Bediensteten abgeschnitten werden (sollen). Wenn das auch für dich das Thema ist, muss das literarische Bild, das du entwirfst, nicht in einem Cafe stattfinden.

Aber - zugegeben - was mich am Handlungsort Cafe nur stört, dass welches Personal auch immer Blumen zurechtschneidet während der Öffnungszeiten.

Ich finde das Thema, das du uns hier auftischst, sehr spannend und freu mich schon auf die nächste Geschichte.

LG Kölle
 

sonah

Mitglied
Hallo Kölle,

hmm, das ist ein guter Hinweis, hat das Personal die Muße während des regulären Betriebs, Pflanzen zu stutzen? Wenn ich mich richtig erinnere, an den Ort, den ich vor Augen hatte, war noch nicht so viel los und es waren zwei Bedienstete vor Ort. Ich muss mal schauen, ob ich das ändern kann. Sie jetzt einfach am Tresen stehen zu lassen - da würde leider etwas fehlen.

Das mit den zwei Aspekten, die Du aufwirfst, finde ich auch interessant.

Die Geschichte liegt schon lange bei mir herum, aber ich finde es bei eigenen Geschichten immer etwas schwierig, den nötigen Abstand zu finden, um sie zu interpretieren, deswegen bin ich dankbar für Meinungen von außen.

Sybille
 

Kölle

Mitglied
na ja, dann lass sie doch manchmal auch einen Kaffee oder sonstwas bringen... zu nicht viel, es geht ja um die Blumen...

LG Kölle
 

Kölle

Mitglied
Was ich gerne noch nachtragen möchte, liebe sonah: vielleicht verstehst du meine Hinweise als Interpretation, ich selbst sehe darin nur Assoziationen. Nach dem Durchlesen meines letzten Kommentars habe ich das Bedürfnis, meine Assoziation zu präzisieren.

Mir drängt sich beim Lesen ein Bild auf: das Leben der Erzählerin ist wie eins der Blumen, die fleißig zurechtgestutzt werden. Während die Erzählerin versucht, gut dazustehen zwischen ihren Kollegen, versuchen die Bediensteten, die Blumen gut dastehen zu lassen. Das, was bei den Blumen verwelkt ist, ist bei der Erzählerin der verwelkte Wunsch nach Authentizität, Ehrlichkeit, Lebendigkeit - halt als das, was uns an den Smalltalks so ankotzt. Irgendwann ist das in uns nicht nur welk, sondern tot oder es fühlt sich so abgeschnitten an...

Bei einer Interpretation kommen die Kritiker schnell in Rechthaberei, Interpretation riecht leicht nach "Objektivität". Bei einer Assoziation bleibt der "subjektive" Charakter erhalten und wir können uns fern eines Rechthabenwollens über die unterschiedlichen Aspekte/Assoziationen unterhalten, ohne die Meinung des anderen (oder seine eigene Meinung) zu diskreditieren.

Ich gebe dir recht, dass wenn wir als Erzähler unsere eigenen Texte interpretieren wollen, schaffen wir das kaum, aber wenn wir vorher im Schreibprozess unseren Assoziationen folgen, kommen wir vielleicht an einen Punkt, der sehr dicht an unserem "Wesen" ist.

Liebe Grüße
Kölle
 
U

USch

Gast
Hallo Kölle,
Bei einer Interpretation kommen die Kritiker schnell in Rechthaberei, Interpretation riecht leicht nach "Objektivität". Bei einer Assoziation bleibt der "subjektive" Charakter erhalten und wir können uns fern eines Rechthabenwollens über die unterschiedlichen Aspekte/Assoziationen unterhalten, ohne die Meinung des anderen (oder seine eigene Meinung) zu diskreditieren.

Ich gebe dir recht, dass wenn wir als Erzähler unsere eigenen Texte interpretieren wollen, schaffen wir das kaum, aber wenn wir vorher im Schreibprozess unseren Assoziationen folgen, kommen wir vielleicht an einen Punkt, der sehr dicht an unserem "Wesen" ist.
Du sagst es in diesen zwei klugen Absätzen. Es wird von vielen Lesern zu viel interpretiert, anstatt den eigenen Assoziationen zu folgen, auch wenn sie nicht die des Autors sind. Dann ist eine fruchtbare Diskussion darüber möglich. Die häufig praktizierte Rechthaberei nervt nur.
LG USch
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Vielleicht keine KG im klassischen Sinne, weil ja nur innere Vorgänge und Gedanken beschrieben werden, aber die so gekonnt, als ginge die Prot dabei spazieren. Insofern gefällt mir der Text.
Vor allem auch, weil er thematisiert, ob man immer das haben will, was anderen haben - und ob das wirklich gut ist. Und wer hat keine Zweifel an dem, was er tut? Die Frau mit der Pflanze eventuell auch. Bleibt ja offen, was wiederum ein Nachdenken fördert, also insofern - Text gelungen.

Ein Fehler:
Vielleicht liegt es an den gepflegten Grünplanzen
Schenk der Pflanze noch ein f. :)


[strike]Die Nacht war wenig erholsam gewesen,[/strike]

Besser: Die Nacht war wenig erholsam verlaufen.


Ich beobachte die Bedienstete in der Cafeteria, die auf einem Stuhl sitzt, ganz in Ruhe, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet,
Hier könntest Du das "ganz in Ruhe" streichen, da es eigentlich klar ist, dass sie das in Ruhe tut, wenn sie so sorgfältig eine Pflanze bearbeitet.


LG Doc
 

sonah

Mitglied
Die Cafeteria ist ein freundlicher Raum. Trotz Neonbeleuchtung wirkt das Licht fast natürlich. Vielleicht liegt es an den gepflegten Grünpflanzen, die jeweils mittig auf den Tischen angeordnet sind. Es sind sehr saubere Tische. Ein paar kleine Zierkürbisse stehen in einem Korb am Tresen. Durch die großen Fenster kann ich direkt nach draußen schauen. Dort ist es grau und bedeckt, typisches Novemberwetter im Oktober. Der Morgen begann mit einer gedämpften Helligkeit, die sich auch bis zum Mittag nicht ändern würde. Aber in dem Raum kann man sich wohlfühlen, wenn man nicht nach draußen schaut. Es liegt ein leichter Geruch von frischen Brötchen und Kaffee in der Luft, der sämtliche Eindrücke überlagert.

Die Nacht war wenig erholsam verlaufen, mit einigen Wachperioden. Ich bin müde und weiß nicht, was heute auf mich zukommen wird. Ich würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, etwas warmes Gebäck dazu. Oder besser noch unsichtbar sein und die Leute beobachten, mich dem Müßiggang hingeben, einfach treiben lassen. Die Gedanken wandern ohne Ziel, springen vom Eindruck zur Idee zur Empfindung.

Ich sitze hier mit meinen Kollegen und einem anderen Teilnehmer der offiziellen Besprechung und versuche, einen guten Eindruck zu machen. Wie macht man einen guten Eindruck? Macht man einen schlechten Eindruck, wenn man keinen guten Eindruck macht?

Ich beobachte die Bedienstete in der Cafeteria, die auf einem Stuhl sitzt, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen. Ihr scheint die Tätigkeit zu gefallen, sie ist bei der Sache.

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind. Das Gespräch ist nicht anspruchsvoll, ein paar Fragen, etwas Small Talk: Wie ist Dortmund als Stadt ... Fußgängerzone nachts tot ... Junkies in Frankfurt ... Berlin interessant ... überall anders ... Stadtspaziergang in Darmstadt ... Künstlerkolonie. Das Gespräch weist Lücken auf, weil meine Gedanken mir immer wieder entgleiten.

Ich schaue mich in der hellen Cafeteria um, sehe die Pflanzen, die appetitlichen Brötchen am Tresen, die Dekoration. Es erscheint so, als wäre die Frau mit der Pflanze hier zu Hause und würde nicht nur dieser Tätigkeit nachgehen, weil es zu ihrer Arbeit gehört. Ich stelle mir vor, dass sie gerade eben ihr Buch beiseitegelegt hat und nun in ihrem Wintergarten die Pflanzen stutzt.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich mich so wenig am Gespräch beteilige. Dabei strenge ich mich normalerweise an, die ganze Zeit. Nicht heute Morgen, aber gestern, versuche mich zu beteiligen, zuzuhören, zu verstehen, intelligente Vorschläge zu machen. Und doch wirken die anderen immer sicherer. Wissen sie auch besser Bescheid? Es scheint alles umsonst zu sein und abends bin ich nur noch ausgelaugt, will allein sein, aber kann nicht, da es noch ein gemeinsames Essen gibt. Ich hoffe, dass die Tränen nicht mehr kommen, die roten Augen nicht mehr auffallen, wenn ich zum Treffen gehe. Die Spuren werden rasch weggewischt, aber der Schmerz bleibt, das sich allein fühlen, hilflos, fremd. Das lässt sich nicht eliminieren, ist aber zu privat, das soll niemand sehen. Ich muss funktionieren, souverän sein, unangreifbar.

Und ich stehe den Abend auch noch durch und den nächsten Morgen und versuche weiterhin, einen guten Eindruck zu machen oder denke mir zumindest, ich sollte es tun. Ich versuche es, versuche es vielleicht zu sehr.

Ich wäre jetzt gerne diese Frau. Ich würde einfach die Blätter abschneiden und dann ein Brötchen verkaufen.

Sicher, es ist eintönig, Tag für Tag, schlechter bezahlt, vielleicht sind die Leute auch unfreundlich, von oben herab. Es hat Tradition, auf die hinabzusehen, die für einen sorgen. Dafür habe ich nicht studiert. Aber die Frau mit der Pflanze sitzt einfach da und macht ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie scheint nicht voller Zweifel zu sein. So friedlich wirkt es, wie eine andere Welt, eine heilere Welt.

Wie eine Katze wirkt die Frau mit der Pflanze, die aus freien Stücken etwas tut. Die Katze denkt sich auch nicht, wenn sie vor dem Kamin liegt und schnurrt: "So ein Ärger, jetzt liege ich schon wieder vor dem Kamin. Ich sollte an der frischen Luft sein." Oder tut sie es vielleicht doch? Dann würde sie nicht schnurren. Dann würde sie Magengeschwüre bekommen, für ein Eigenheim sparen und einen Mittelklassewagen fahren. Sie würde ihr Handy tagsüber nie abschalten und nachts vom Kamin träumen.

28.10.2024 : Ablauf geändert, Ich-Erzählerin, Stellen gekürzt
29.10.2014 : Tippfehler korrigiert
02.11.2014 : hierarchische Doppelpunkte ersetzt
04.11.2014 : Korrekturen
 

sonah

Mitglied
Die Cafeteria ist ein freundlicher Raum. Trotz Neonbeleuchtung wirkt das Licht fast natürlich. Vielleicht liegt es an den gepflegten Grünpflanzen, die jeweils mittig auf den Tischen angeordnet sind. Es sind sehr saubere Tische. Ein paar kleine Zierkürbisse stehen in einem Korb am Tresen. Durch die großen Fenster kann ich direkt nach draußen schauen. Dort ist es grau und bedeckt, typisches Novemberwetter im Oktober. Der Morgen begann mit einer gedämpften Helligkeit, die sich auch bis zum Mittag nicht ändern würde. Aber in dem Raum kann man sich wohlfühlen, wenn man nicht nach draußen schaut. Es liegt ein leichter Geruch von frischen Brötchen und Kaffee in der Luft, der sämtliche Eindrücke überlagert. Es sind nur noch wenige Gäste an den Tischen, die Stoßzeit scheint gerade vorbei zu sein.

Die Nacht war wenig erholsam verlaufen, mit einigen Wachperioden. Ich bin müde und weiß nicht, was heute auf mich zukommen wird. Ich würde jetzt gerne einen Kaffee trinken, etwas warmes Gebäck dazu. Oder besser noch unsichtbar sein und die Leute beobachten, mich dem Müßiggang hingeben, einfach treiben lassen. Die Gedanken wandern ohne Ziel, springen vom Eindruck zur Idee zur Empfindung.

Ich sitze hier mit meinen Kollegen und einem anderen Teilnehmer der offiziellen Besprechung und versuche, einen guten Eindruck zu machen. Wie macht man einen guten Eindruck? Macht man einen schlechten Eindruck, wenn man keinen guten Eindruck macht?

Ich beobachte die Bedienstete in der Cafeteria, die auf einem Stuhl sitzt, sorgfältig mit einem Blick für jedes Detail eine Zimmerpflanze mit einer Schere stutzt, die toten Blätter abschneidet, Blatt für Blatt, eins nach dem anderen. Ihr scheint die Tätigkeit zu gefallen, sie ist bei der Sache.

Die Gedanken wollen sich nicht steuern lassen, sie spielen mit den fallenden Blättern draußen vor dem Fenster, wirbeln im Oktoberwind. Das Gespräch ist nicht anspruchsvoll, ein paar Fragen, etwas Small Talk: Wie ist Dortmund als Stadt ... Fußgängerzone nachts tot ... Junkies in Frankfurt ... Berlin interessant ... überall anders ... Stadtspaziergang in Darmstadt ... Künstlerkolonie. Das Gespräch weist Lücken auf, weil meine Gedanken mir immer wieder entgleiten.

Ich schaue mich in der hellen Cafeteria um, sehe die Pflanzen, die appetitlichen Brötchen am Tresen, die Dekoration. Es erscheint so, als wäre die Frau mit der Pflanze hier zu Hause und würde nicht nur dieser Tätigkeit nachgehen, weil es zu ihrer Arbeit gehört. Ich stelle mir vor, dass sie gerade eben ihr Buch beiseitegelegt hat und nun in ihrem Wintergarten die Pflanzen stutzt.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich mich so wenig am Gespräch beteilige. Dabei strenge ich mich normalerweise an, die ganze Zeit. Nicht heute Morgen, aber gestern, versuche mich zu beteiligen, zuzuhören, zu verstehen, intelligente Vorschläge zu machen. Und doch wirken die anderen immer sicherer. Wissen sie auch besser Bescheid? Es scheint alles umsonst zu sein und abends bin ich nur noch ausgelaugt, will allein sein, aber kann nicht, da es noch ein gemeinsames Essen gibt. Ich hoffe, dass die Tränen nicht mehr kommen, die roten Augen nicht mehr auffallen, wenn ich zum Treffen gehe. Die Spuren werden rasch weggewischt, aber der Schmerz bleibt, das sich allein fühlen, hilflos, fremd. Das lässt sich nicht eliminieren, ist aber zu privat, das soll niemand sehen. Ich muss funktionieren, souverän sein, unangreifbar.

Und ich stehe den Abend auch noch durch und den nächsten Morgen und versuche weiterhin, einen guten Eindruck zu machen oder denke mir zumindest, ich sollte es tun. Ich versuche es, versuche es vielleicht zu sehr.

Ich wäre jetzt gerne diese Frau. Ich würde einfach die Blätter abschneiden und dann ein Brötchen verkaufen.

Sicher, es ist eintönig, Tag für Tag, schlechter bezahlt, vielleicht sind die Leute auch unfreundlich, von oben herab. Es hat Tradition, auf die hinabzusehen, die für einen sorgen. Dafür habe ich nicht studiert. Aber die Frau mit der Pflanze sitzt einfach da und macht ihre Arbeit, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Sie scheint nicht voller Zweifel zu sein. So friedlich wirkt es, wie eine andere Welt, eine heilere Welt.

Wie eine Katze wirkt die Frau mit der Pflanze, die aus freien Stücken etwas tut. Die Katze denkt sich auch nicht, wenn sie vor dem Kamin liegt und schnurrt: "So ein Ärger, jetzt liege ich schon wieder vor dem Kamin. Ich sollte an der frischen Luft sein." Oder tut sie es vielleicht doch? Dann würde sie nicht schnurren. Dann würde sie Magengeschwüre bekommen, für ein Eigenheim sparen und einen Mittelklassewagen fahren. Sie würde ihr Handy tagsüber nie abschalten und nachts vom Kamin träumen.

28.10.2024 : Ablauf geändert, Ich-Erzählerin, Stellen gekürzt
29.10.2014 : Tippfehler korrigiert
02.11.2014 : hierarchische Doppelpunkte ersetzt
04.11.2014 : Korrekturen
 

sonah

Mitglied
Hallo Kölle, ich habe noch einen Satz eingefügt, der auf wenig Betrieb hinweist, ich hoffe es wirkt nicht zu nachträglich herangeflanscht. Nur, dieses Bild der Ruhe und der relativ leeren Cafeteria will mir nicht aus dem Kopf.

Zu Kölle und USchs Anmerkungen:

Assoziationen und Interpretationen sind doch immer gut und erwünscht, denke ich, wenn man sie nicht als alleinige Wahrheit verkündet. Dann gibt es natürlich ein Problem, weil es noch andere Leser und Kritiker mit einem anderen Blick gibt, ob der nun "richtig" sein mag oder nicht. Die "Richtigkeit" einer subjektiven Meinung - allein damit begibt man sich ja schon auf sehr dünnes Eis.

Ich glaube, auch Interpretation hat meist einen subjektiven Aspekt, allein schon durch die Auswahl. Man kann sich gar nicht auf alle Aspekte einer Geschichte oder eines Themas beziehen.

Es ist schade, wenn man nicht immer die unterschiedlichen Meinungen, Assoziationen, Interpretationen und Sichtweisen (eine Mischung aus objektivem und subjektivem) einfach so nebeneinander stehen lassen kann und als Bereicherung für den Denkprozess empfinden kann.

Das mit den Assoziationen finde ich sehr interessant, weil bei mir fast der gesamte Schreibprozess (im Gegensatz zum Prozess des Überarbeitens) in unbewussten Gehirnregionen abläuft. Ich habe oft eine Idee, warte ein paar Tage und voila - nach drei Tagen ist die fertige Geschichte da, ohne dass ich allzu viel daran gedacht habe. Es ist nicht immer leicht ist, sein eigenes Unbewusstes zu verstehen.

Die Geschichte hier ist wohl nicht schwer zu verstehen, aber nach meiner Erfahrung enthält jede Geschichte wie eine Zwiebel zumindest für einen persönlich noch ein paar Schichten mehr.

Zu DocSchneider:

Danke für die Korrekturen! Habe ich noch nachgebessert.

Ich habe mich insgesamt sehr über die Kommentare gefreut.

Sybille
 



 
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