Die Fremde im Garten

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Cirias

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DIE FREMDE IM GARTEN



Sie war wie etwas, das leicht und rauschend um einen ist. Ich sah sie oft in dem schweren Todesgeruch des nächtlichen Gartens umhergehen. Wenn der Schatten des Gartentors um diese Stunde wie ein Flügelstrich über das Fenster fiel, wusste ich: sie war da. Es war stets dunkel, wenn sie kam, auch in den langen Sommernächten. Im Garten gab es eine steinerne Bank vor einem Rosenspalier. Sie saß oft da, manchmal auch in klaren und kalten Winternächten oder in einem stillen Herbstregen. Wer war sie? In den seltenen Vollmondnächten ahnte ich ihr aus dem Schatten gerücktes Gesicht . Ich sah ihren Körper, der zwischen Blumenköpfen und hohem Gras verschwand. Wenn ich näher an das Fenster trat, wandte sie manchmal leicht den Kopf. Sie streifte ihr Kleid von den Schultern, so dass ich ihre sanft geformten Schulterknochen sehen konnte, die Linie ihres Nackens, über dem ihr dunkles Haar zu einem Knoten zusammengebunden war. Zwischen den Schatten der Sträucher verlor sich ihre Gestalt. Es schien, als würde ihr Kleid mit jedem Schritt ein Stück mehr von ihrem Körper gleiten. Ich spürte das Schlagen meines Herzens.
Ich saß oft nächtelang am Schreibtisch, der direkt vor dem Fenster meines Arbeitszimmers stand. Von hier aus konnte ich direkt auf die meist unbebauten Nachbargrundstücke sehen. Der Garten lag gegenüber meiner Wohnung, nur durch einen schmalen Fahrweg von meinem Grundstück getrennt.
Es gab Dinge, die sich bald unauslöschlich mit ihrem Erscheinen verbanden. Ihr ungerichteter Gang, ihr leicht in den Nacken gelegter Kopf und die Bewegungen ihrer Hände, mit denen sie zwischen die grünen Schatten der Sträucher und Büsche fuhr, waren wie etwas, das mich die ganze Tiefe der Nacht spüren ließ.

Tagsüber blieb ich manchmal vor dem verschlossenen Gartentor stehen. Es war mit einem großen Vorhängeschloss versehen. Der Garten lag still unter den Blautönen des Himmels. Die nächtlichen Spaziergänge der fremden Frau erschienen mir bald wie ein Traum.

An einem Herbstabend vor vielen Wochen lag das helle Licht des Mondes wie Fiebersaat in den Ästen der Bäume. In dieser lautlosen Stunde ging sie plötzlich unter ihnen hindurch. Anders als sonst blieb sie unvermutet stehen und drehte sich zu meinem Fenster. Sie war blass. Ich konnte sogar ihre Augen sehen. Eine kleine Merkwürdigkeit der Augenwinkel ließ sie rechteckig wirken Ihr Haar glänzte über dem schmalen , blassen Gesicht mit den grünen Augen. Ihre Augen waren wie ein tiefes Wasser. Jetzt, da sie fast senkrecht zu mir auf lächelte, sah ich, wie sich ein dunkler Schleier über ihren Blick legte. Langsam streifte sie ihr Kleid vom Körper. Sie war nackt darunter. Im Schatten des Laubs schimmerte ihre Haut grün. Ich stellte mir vor, ihren Körper zu berühren, meine Hände über ihre hohen Brüste gleiten zu lassen, meine Lippen auf ihren Bauchnabel zu legen, den Duft ihrer Haut zu atmen. Sie drehte sich um und verschwand zwischen den Graswegen und Heckenalleen des Gartens.
In den darauf folgenden Nächten wartete ich vergeblich auf sie. Der Garten lag verlassen. Ich konnte mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Ich musste ständig an sie denken. Das Bild ihres schlanken, fast unwirklich anmutigen Körpers weckte eine Vertrautheit in mir, eine sinnliche Zärtlichkeit, die mich fast den ganzen Tag nach ihr verlangen ließ.

Eines Nachmittags traf ich den Gärtner, als er gerade das Tor zum Garten aufschließen wollte. Ich fragte ihn nach der jungen Frau, ich beschrieb sie ihm, aber er schüttelte nur den Kopf. Die Frau, der dieser Garten gehöre, wäre eine an den Rollstuhl gefesselte alte Dame, die im Haus nebenan die untere Etage bewohne. Ich fragte ihn noch einmal, doch er wandte sich ab und lief den Grasweg hinauf.
Ich saß unter der großen Pendeluhr meines Arbeitszimmers und wartete, bis er den Garten in der Dämmerung verlassen hatte. Die untere Etage des gegenüberliegenden Hauses lag im Dunklen. Ich hoffte, dass mich niemand sehen würde, als ich über das verschlossene Tor in den Garten stieg. Die Beete und Rasenplätze bildeten einen grauen Bruch atmender Schatten. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Das Licht sprühte steinerne Farben auf die Rosenmeere. Ich ging an einem kleinen Teich vorüber und an einem Pavillon, den ich von meinem Fenster aus nie bemerkt hatte. Dahinter öffnete sich ein weiterer Weg, der von einer Buchsbaumhecke eingerahmt in den verwilderten Teil des Gartens führte. Ich stellte mir vor, wie sie nackt über all diese Wege gelaufen war, ihre zierlichen Füße durch das feuchte Gras streiften und die Blätter ihre Brüste berührten, wenn sie an den hohen Sträuchern vorüber ging. Dieser Teil des Gartens, den ich jetzt betrat, war der Teil, in dem sie immer verschwunden war und sich meinen Blicken entzogen hatte. Ich stand plötzlich inmitten hohen Grases und überwucherter Blummenrabatte. Mein Fuß stieß an etwas Hartes. Ich beugte mich hinab und bog die Gräser zur Seite. Es war ein Grabstein, der mit einer Inschrift versehen war: ...und dann ist es vorbei, das ganze Leben ist vorübergegangen wie ein einziger Nachmittag.
Ich stand auf. Mein Blick fiel auf einen großen Steinblock, der über ein Beet gestürzt war. Es war eine Statue. In der oberen Etage des Hauses flammte Licht auf. Auf dem flachen, dunklen Ufer des Himmels endeten die Schatten. Der helle Stein der Statue war so gegenwärtig, dass alles um mich herum zu verblassen schien. Ich sah in ihr Gesicht. An ihrem Gesicht und ihrer Gestalt war mir nichts fremd. Der schwere Todesgeruch des herbstlichen Gartens stieg aus dem Boden. Aus ihrer Schattenhaut entschwanden die Farben in die Nacht. Unter ihrem plötzlichen Augenaufschlag verschwand ihr letztes Gesicht wie in einem Traum. In Kürze wird der ganze Horizont ihre Farbe angenommen haben. Ich werde hier stehen und die ersten flimmernden Sterne aus dem Dunkel hervortauchen sehen und mit ihnen die ersten Träume der Nacht. Und obwohl ich ihre Augen in diesem Augenblick nicht mehr sehen konnte, wusste ich, dass sie tot war.
 

Yamana

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blaue blume

hallo cirias,
deine geschichte gefällt mir als angenehm schwermütige erinnerung an die gute alte zeit...und das, was davon 'in uns' immer wieder neu ersteht... die blaue blume lebt - immernoch ein bisschen. und übrigens, recht klar und klug geschrieben.
gruss yamana
 

Cirias

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danke yamana,
ja, die blaue Blume lebt...und es ist immer wieder schön zu wissen, dass es noch andere gibt, die ihren Duft riechen...
herzliche Grüße, Cirias
 

clarat

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Hallo Cirias,

das ist eine schöne Geschichte. Nicht neu, aber wunderschön erzählt. Ein bisschen wie eine viktorianische Geistergeschichte.

Ein paar Anmerkungen:
Der schwere Todesgeruch machte mich anfangs glauben, dass es sich um einen Friedhof handelt. Da sich das erst zum Schluss herausstellt, fände ich es passender, wenn auch der Todesgeruch erst am Ende als solcher erkannt wird.

Du beschreibst ihre grünen Augen, die sind wie Wasser. Ich wundere mich, dass das so genau erkennbar, selbst wenn sie in dem Moment dem Betrachter relativ nahe ist. Es ist immerhin dunkel.

Ich frag mich, wer diese Frau ist. Was hat es auf sich mit diesem seltsamen Grabspruch? Warum geistert sie noch durch diesen Garten? Und wer ist die alte Frau, der der Garten heute gehört?

Erzähl mal! :)

Liebe Grüße
clarat.
 

Cirias

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Hallo clarat,
danke für deine Zeilen. Tja, ehrlich gesagt, weiß ich selbst gar nicht genau, wer diese Frau ist. Die Kurzgeschichte lebt ja von dem, was sie nicht erzählt. Für den Garten gab es ein konkretes Vorbild und ich habe keinen Zweifel daran, dass wir nicht allein auf dieser Erde leben, wenn man sich nur auf seine Wahrnehmungen einlässt: Schließ die Augen und du wirst lernen zu sehen...Deshalb erschien mir das mit den grünen Augen auch kein Widerspruch, obwohl du mit deinem Einwand natürlich recht hast. Und den "Todesgeruch" habe ich heraus genommen, weil ich denke, dass du mit deiner Beobachtung recht hast. Die alte Dame ist nur die Besitzerin des Gartens, aber natürlich könnte es eine Verbindung geben, sie ist sogar wahrscheinlich, aber das ist eben eine andere Geschichte... Es ist eine Momentaufnahme, eine Beobachtung, ein Augenblick, in dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallen...
Herzliche Grüße, Cirias
 



 
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