Die Freveltat

Raniero

Textablader
Die Freveltat

Erschreckt fuhren die Bewohner des Mehrfamilienhauses zusammen; ein furchtbarer Schrei gellte durch die Abendstunden, unmenschlich und entsetzlich, ein Schrei, wie er auf dem gesamten Erdenrund nicht heimisch zu sein schien. Nach und nach öffneten die ersten Nachbarn ihre Wohnungstüren, traten ins Treppenhaus und spähten vorsichtig nach unten, dahin, wo sie den Ursprung des Entsetzensschreis zu Recht vermuteten.
Schon machten sich die Mutigsten von ihnen behutsam, teils auf Zehenspitzen, auf den Weg ins Erdgeschoss; einige trugen Handwaffen dabei. Was sie dort zu sehen bekamen, raubte ihnen den Atem.
Auf der Schwelle zu ihrer Wohnung stand die Mieterin einer der beiden Erdgeschosswohnungen, eine junge Frau, mit weitaufgerissenen Augen und tonlosem Röcheln. Hierbei wies sie mit zitternder Hand in Richtung Haustür, wohin offensichtlich der Missetäter - oder handelte es sich gar um mehrere, eine ganze Bande vielleicht - entschwunden war. Behutsam traten einige der weiblichen Hausbewohner auf die fassungslose Frau zu, nahmen sie schützend in den Arm und versuchten in Erfahrung zu bringen, was sich denn da so an Grauenhaftem ereignet habe, doch es war nichts aus ihr herauszubringen, zu stark steckte ihr der Schock noch in den Gliedern.
Die junge Frau wohnte noch nicht lange in diesem Haus. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie erst vor einem halben Jahr eingezogen, in schwangerem Zustand, und hatte vor vier Wochen ihr erstes Kind zur Welt gebracht, einen kerngesunden Buben, der Stolz der gesamten Hausgemeinschaft; kein Wunder, war es doch die erste Geburt seit mehr als dreißig Jahren, in dem Hause.
Doch bereits vor diesem Ereignis gab es für die Nachbarn einen Grund, zu staunen, denn so etwas hatten sie in der gesamten Zeit, in der sie dort wohnten - einige wohnten gar seit Erstellung des Gebäudes in diesem Hause - noch nicht wahrgenommen. Gleich beim Einzug in ihr neues Domizil nämlich hatten die jungen Eheleute für ein Novum gesorgt, indem sie schon am ersten Abend ihre Straßenschuhe fein säuberlich draußen vor der Wohnungstür deponierten, in der Art, wie Kinder es am Vorabend zum Nikolausfest zu tun pflegen.
Dieses Vorgehen hatte erhebliches Erstaunen hervorgerufen, bei den Hausnachbarn, die, allesamt schon lange nicht mehr zu den Jüngsten zählend, sich hierbei an ihre eigenen Kindheitstage erinnert fühlten. Während sich so die männlichen Hausbewohner von Beginn an über diese ungewohnte Erscheinung freuten wie die Kinder, waren nicht alle Frauen sofort davon angetan, doch das lag wohl vor allem daran, dass ihre Ehemänner den Wunsch vortrugen, ebenfalls ihre Schuhe draußen zu posieren, und das hielten die reifen Damen doch für etwas übertrieben.
Gleichwohl gewöhnten auch sie sich mit der Zeit an das neue Bild im Treppenhaus und bewunderten die Phantasie des jungen Ehepaares, welches nach und nach die Anzahl der Schuhpaare steigerte und zwischendurch auch Joggingschuhe und Stiefel sowie zur besonderen Krönung ab und an bunte Socken daruntermischte. Ein farbenfrohes Sammelsurium mithin, welches seit vier Wochen auch noch von munterem Babygeschrei begleitet wurde, und manch einer der Hausgenossen konnte kaum die Zeit abwarten, bis sich die ersten Babyschühchen zu den anderen Tretern gesellte.
Inzwischen hatte sich die junge Frau ein wenig beruhigt, durch die Anwesenheit der Nachbarn, und mit nicht mehr zitternder, sondern nunmehr fester Hand wies sie genau auf die Sammlung ihrer Fußbekleidung auf dem Treppenabsatz:
„Da“, stammelte sie, „da waren sie noch eben.. sodann brach sie unvermittelt ab.
Die Hausgenossen blickten sich fragend an.
Als erster fasste sich der älteste Hausbewohner, ein Mann Ende siebzig, ein Herz und trat auf die junge Frau zu, um mit beruhigenden Worten auf sie einzusprechen. Sein Bemühen hatte Erfolg, denn nach und nach brachte er zur grenzenlosen Verwunderung der Nachbarn in Erfahrung, welche ruchlose Tat sich dort, zwar nicht mehr am helllichten Tage, doch noch vor Anbruch der Nacht, quasi unter den Augen aller abgespielt hatte.
Wie die junge Frau schließlich, nicht ganz frei von Tränen und mit stockender Stimme, berichtete, hatte sie gerade ihren Mann an der Haustür zur Nachtschicht verabschiedet und hierbei, wie all die anderen Abende zuvor, festgestellt, dass zu dem Zeitpunkt die Gesamtheit der auf dem Treppenabsatz deponierten Schuhe und Socken vorhanden war und absolut nichts fehlte. Als sie jedoch eine Stunde später die Haustür, wie sie es allabendlich tat, verschließen wollte, habe sie soeben noch eine männliche Person aus derselben Tür hinaushuschen sehen, mir bunten Socken in der Hand, dieselben Socken, die sie noch am Nachmittag zur Freude aller Hausbewohner neu deponiert hatte. Gelähmt vor Schrecken, sei es ihr nicht gelungen, der Person hinterher zu laufen und diese zu stoppen, auch habe sie leider diese Person nur von hinten gesehen, sodass sie keine genaue Täterbeschreibung machen konnte. Nun war es endlich heraus.
Gelähmt vor Entsetzen hatte die Hausgemeinschaft ihrem stockenden Bericht zugehört. Manche fassten sich an den Kopf, andere schrien verhalten auf. So ein Frevel, und dazu noch vor Anbruch der Nacht. Der Hausälteste schlug vor, sofort die Polizei zu verständigen; ein anderer bemerkte, ob es nicht besser sei, direkt Interpol einzuschalten, schließlich könnte der Täter vielleicht schon über die Landesgrenzen entflohen, wenn nicht gar den gesamten deutschen Sprachraum verlassen haben. Die Mehrzahl der Bewohner hielt dieses aber wegen der Kürze der verstrichenen Zeit seit Bekanntwerden der Untat für wenig wahrscheinlich, so verständigte man sich schließlich mehrheitlich, die es bei der örtlichen Kriminalpolizei zu belassen.
Diese traf denn auch unverzüglich ein, bestehend aus drei Ermittlern und einem ganzen Team kriminaltechnischer Untersuchungsspezialisten. Noch an Ort und Stelle versuchten die Ermittler, eine detaillierte Personenbeschreibung des Täters, wenn auch nur von seiner Kehrseite, zu erhalten.
Die junge Frau versuchte, wiederum unter Tränen und mit bebender Stimme, ihr Möglichstes und es gelang ihr, eine einigermaßen genaue Beschreibung der Rückansicht des Verbrechers zu geben, die dann prompt zur europaweiten Fahndung ausgeschrieben wurde; sicher ist sicher, dachte man, vielleicht besitzt der Täter ja ein Privatflugzeug. Parallel dazu befragten die Beamten alle anderen Hausbewohner der Reihe nach, doch keiner sah sich in der Lage, eine Angabe über den Verlauf des unfassbaren Geschehens zu machen, und niemand konnte, verständlicherweise, eine Täterbeschreibung abgeben. Angesichts des Entsetzens, das vor allem der jungen Mieterin wie auch den übrigen Hausgenossen ins Gesicht geschrieben stand, entschied der Leiter der Ermittlungen, zur Sicherheit ein Zivilfahrzeug mit vier Polizisten vor dem Haus zu postieren.
Die junge Frau aber wurde von zwei weiblichen Beamten in ihre Wohnung geleitet, die ihr für die restlichen Nachtstunden Trost und Beistand gewähren sollten. Sichtlich beruhigt suchten die Hausbewohner nach und nach ihre Wohnungen auf, doch an Schlaf war kaum zu denken, und so wurden die letzten Lichter im Haus erst kurz vor Tagesanbruch gelöscht. Kaum aber hatten schließlich alle Nachbarn ihren Schlaf gefunden, als sie plötzlich sehr unsanft wieder aus diesem herausgerissen wurden, von einem markerschütternden Schrei nicht unähnlich dem gleichen, wie mit dem das ganze furchtbare Geschehen seinen Lauf genommen hatte.
Von neuem stürzte das ganze Haus zusammen, an der gleichen Stelle wie zuvor, während von draußen die Wachmannschaft der männlichen Polizei ins Haus drang. Allen bot sich ein ähnliches Bild wie am Vorabend: Auf der Schwelle zu ihrer Wohnung stand die junge Frau, mit weit aufgerissenen Augen, hinter ihr die beiden Polizistinnen mit gezogenen Waffen, allesamt starrten sie auf einen jungen Mann mit bunten Socken in der Hand und einem Jutesack auf den Schultern.
„Du, du bist der brutale Sockendieb?“ schrie die junge Frau ihn an, wie von Sinnen, ihren eigenen Mann, „Wie konntest du nur?“
„Aber Schatz, heute ist doch Nikolaus“, entgegnete ihr Mann seelenruhig und machte sich daran, die Schuhe und Socken mit Süßigkeiten zu füllen, „hast du das denn ganz vergessen? Doch weißt du“, fügte er hinzu, „die Socken hier, die waren mir doch zu schmutzig, ich habe sie auf der Nachtschicht einmal ordentlich durchgewaschen.“
Die junge Frau stand da wie versteinert, doch dann lösten sich ihre Züge und mit einem Aufschrei des Entzückens warf sie sich ihrem Mann an die Brust.
„Dass du daran gedacht hast, Schatz, das vergesse ich dir nie.“
Tränen der Freude, gemischt mit unsagbarer Erleichterung, liefen ihr die Wangen herab, und einer nach dem anderen, wurden auch die Hausbewohner von Rührung übermattet, und auf einmal weinte das ganze Haus, während die Polizeibeamten ergriffen ihre Dienstwaffen wegsteckten.
„So, jetzt kannst du unseren Kleinen wecken“, rief der junge Mann seiner Frau zu, unter den Jubelrufen aller Anwesenden.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nee,

du, das ist zu fett. es ist vorhersehbar, dass der mann der sockendieb ist - für mich jedenfalls.
mindestens, dass der mann tatsächlich noch die nikolaussachen verteilt, solltest du rausnehmen.
der polizeieinsatz ist gut.
lg
 

Raniero

Textablader
Hallo flammarion,

diese Story ist eigentlich aus einem blöden Gag entstanden, also nicht erst zu nehmen.Da es einen realen Hintergrund hierfür gibt, musste der Ehemann, was natürlich vorhersehbar war, aus dramaturgischen Gründen der Dieb sein.
Gleichwohl, da Weihnachten vor der Tür steht, habe ich mir noch ein anderes Finale einfallen lassen. :)
(ab Kursivschrift)

Gruß Raniero

Die Freveltat

Erschreckt fuhren die Bewohner des Mehrfamilienhauses zusammen; ein furchtbarer Schrei gellte durch die Abendstunden, unmenschlich und entsetzlich, ein Schrei, wie er auf dem gesamten Erdenrund nicht heimisch zu sein schien. Nach und nach öffneten die ersten Nachbarn ihre Wohnungstüren, traten ins Treppenhaus und spähten vorsichtig nach unten, dahin, wo sie den Ursprung des Entsetzensschreis zu Recht vermuteten.
Schon machten sich die Mutigsten von ihnen behutsam, teils auf Zehenspitzen, auf den Weg ins Erdgeschoss; einige trugen Handwaffen dabei. Was sie dort zu sehen bekamen, raubte ihnen den Atem.
Auf der Schwelle zu ihrer Wohnung stand die Mieterin einer der beiden Erdgeschosswohnungen, eine junge Frau, mit weitaufgerissenen Augen und tonlosem Röcheln. Hierbei wies sie mit zitternder Hand in Richtung Haustür, wohin offensichtlich der Missetäter - oder handelte es sich gar um mehrere, eine ganze Bande vielleicht - entschwunden war. Behutsam traten einige der weiblichen Hausbewohner auf die fassungslose Frau zu, nahmen sie schützend in den Arm und versuchten in Erfahrung zu bringen, was sich denn da so an Grauenhaftem ereignet habe, doch es war nichts aus ihr herauszubringen, zu stark steckte ihr der Schock noch in den Gliedern.

Die junge Frau wohnte noch nicht lange in diesem Haus. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie erst vor einem halben Jahr eingezogen, in schwangerem Zustand, und hatte vor vier Wochen ihr erstes Kind zur Welt gebracht, einen kerngesunden Buben, der Stolz der gesamten Hausgemeinschaft; kein Wunder, war es doch die erste Geburt seit mehr als dreißig Jahren, in dem Hause.
Doch bereits vor diesem Ereignis gab es für die Nachbarn einen Grund, zu staunen, denn so etwas hatten sie in der gesamten Zeit, in der sie dort wohnten - einige wohnten gar seit Erstellung des Gebäudes in diesem Hause - noch nicht wahrgenommen. Gleich beim Einzug in ihr neues Domizil nämlich hatten die jungen Eheleute für ein Novum gesorgt, indem sie schon am ersten Abend ihre Straßenschuhe fein säuberlich draußen vor der Wohnungstür deponierten, in der Art, wie Kinder es am Vorabend zum Nikolausfest zu tun pflegen.
Dieses Vorgehen hatte erhebliches Erstaunen hervorgerufen, bei den Hausnachbarn, die, allesamt schon lange nicht mehr zu den Jüngsten zählend, sich hierbei an ihre eigenen Kindheitstage erinnert fühlten. Während sich so die männlichen Hausbewohner von Beginn an über diese ungewohnte Erscheinung freuten wie die Kinder, waren nicht alle Frauen sofort davon angetan, doch das lag wohl vor allem daran, dass ihre Ehemänner den Wunsch vortrugen, ebenfalls ihre Schuhe draußen zu posieren, und das hielten die reifen Damen doch für etwas übertrieben.
Gleichwohl gewöhnten auch sie sich mit der Zeit an das neue Bild im Treppenhaus und bewunderten die Phantasie des jungen Ehepaares, welches nach und nach die Anzahl der Schuhpaare steigerte und zwischendurch auch Joggingschuhe und Stiefel sowie zur besonderen Krönung ab und an bunte Socken daruntermischte. Ein farbenfrohes Sammelsurium mithin, welches seit vier Wochen auch noch von munterem Babygeschrei begleitet wurde, und manch einer der Hausgenossen konnte kaum die Zeit abwarten, bis sich die ersten Babyschühchen zu den anderen Tretern gesellte.
Inzwischen hatte sich die junge Frau ein wenig beruhigt, durch die Anwesenheit der Nachbarn, und mit nicht mehr zitternder, sondern nunmehr fester Hand wies sie genau auf die Sammlung ihrer Fußbekleidung auf dem Treppenabsatz:
„Da“, stammelte sie, „da waren sie noch eben.. sodann brach sie unvermittelt ab.
Die Hausgenossen blickten sich fragend an.
Als erster fasste sich der älteste Hausbewohner, ein Mann Ende siebzig, ein Herz und trat auf die junge Frau zu, um mit beruhigenden Worten auf sie einzusprechen. Sein Bemühen hatte Erfolg, denn nach und nach brachte er zur grenzenlosen Verwunderung der Nachbarn in Erfahrung, welche ruchlose Tat sich dort, zwar nicht mehr am helllichten Tage, doch noch vor Anbruch der Nacht, quasi unter den Augen aller abgespielt hatte.
Wie die junge Frau schließlich, nicht ganz frei von Tränen und mit stockender Stimme, berichtete, hatte sie gerade ihren Mann an der Haustür zur Nachtschicht verabschiedet und hierbei, wie all die anderen Abende zuvor, festgestellt, dass zu dem Zeitpunkt die Gesamtheit der auf dem Treppenabsatz deponierten Schuhe und Socken vorhanden war und absolut nichts fehlte. Als sie jedoch eine Stunde später die Haustür, wie sie es allabendlich tat, verschließen wollte, habe sie soeben noch eine männliche Person aus derselben Tür hinaushuschen sehen, mir bunten Socken in der Hand, dieselben Socken, die sie noch am Nachmittag zur Freude aller Hausbewohner neu deponiert hatte. Gelähmt vor Schrecken, sei es ihr nicht gelungen, der Person hinterher zu laufen und diese zu stoppen, auch habe sie leider diese Person nur von hinten gesehen, sodass sie keine genaue Täterbeschreibung machen konnte. Nun war es endlich heraus.
Gelähmt vor Entsetzen hatte die Hausgemeinschaft ihrem stockenden Bericht zugehört. Manche fassten sich an den Kopf, andere schrien verhalten auf. So ein Frevel, und dazu noch vor Anbruch der Nacht. Der Hausälteste schlug vor, sofort die Polizei zu verständigen; ein anderer bemerkte, ob es nicht besser sei, direkt Interpol einzuschalten, schließlich könnte der Täter vielleicht schon über die Landesgrenzen entflohen, wenn nicht gar den gesamten deutschen Sprachraum verlassen haben. Die Mehrzahl der Bewohner hielt dieses aber wegen der Kürze der verstrichenen Zeit seit Bekanntwerden der Untat für wenig wahrscheinlich, so verständigte man sich schließlich mehrheitlich, die es bei der örtlichen Kriminalpolizei zu belassen.
Diese traf denn auch unverzüglich ein, bestehend aus drei Ermittlern und einem ganzen Team kriminaltechnischer Untersuchungsspezialisten. Noch an Ort und Stelle versuchten die Ermittler, eine detaillierte Personenbeschreibung des Täters, wenn auch nur von seiner Kehrseite, zu erhalten. Die junge Frau versuchte, wiederum unter Tränen und mit bebender Stimme, ihr Möglichstes und es gelang ihr, eine einigermaßen genaue Beschreibung der Rückansicht des Verbrechers zu geben, die dann prompt zur europaweiten Fahndung ausgeschrieben wurde; sicher ist sicher, dachte man, vielleicht besitzt der Täter ja ein Privatflugzeug. Parallel dazu befragten die Beamten alle anderen Hausbewohner der Reihe nach, doch keiner sah sich in der Lage, eine Angabe über den Verlauf des unfassbaren Geschehens zu machen, und niemand konnte, verständlicherweise, eine Täterbeschreibung abgeben. Angesichts des Entsetzens, das vor allem der jungen Mieterin wie auch den übrigen Hausgenossen ins Gesicht geschrieben stand, entschied der Leiter der Ermittlungen, zur Sicherheit ein Zivilfahrzeug mit vier Polizisten vor dem Haus zu postieren.
Die junge Frau aber wurde von zwei weiblichen Beamten in ihre Wohnung geleitet, die ihr für die restlichen Nachtstunden Trost und Beistand gewähren sollten. Sichtlich beruhigt suchten die Hausbewohner nach und nach ihre Wohnungen auf, doch an Schlaf war kaum zu denken, und so wurden die letzten Lichter im Haus erst kurz vor Tagesanbruch gelöscht. Kaum aber hatten schließlich alle Nachbarn ihren Schlaf gefunden, als sie plötzlich sehr unsanft wieder aus diesem herausgerissen wurden, von einem markerschütternden Schrei nicht unähnlich dem gleichen, wie mit dem das ganze furchtbare Geschehen seinen Lauf genommen hatte.
Von neuem stürzte das ganze Haus zusammen, an der gleichen Stelle wie zuvor, während von draußen die Wachmannschaft der männlichen Polizei ins Haus drang. Allen bot sich ein ähnliches Bild wie am Vorabend:
Auf der Schwelle zu ihrer Wohnung stand die junge Frau, mit weit aufgerissenen Augen, hinter ihr die beiden Polizistinnen mit gezogenen Waffen, allesamt starrten sie auf einen älteren Mann mit bunten Socken in der Hand und einem Jutesack auf den Schultern.
„Du, Vater, du bist der brutale Sockendieb?“ schrie die junge Frau ihn an, wie von Sinnen, ihren eigenen Schwiegervater, „Wie konntest du nur?“
„Aber Kind, heute ist doch Nikolaus“, entgegnete der Alte seelenruhig und machte sich daran, die Schuhe und Socken mit Süßigkeiten zu füllen, „hast du das denn ganz vergessen? Doch weißt du“, fügte er hinzu, „ einen schönen Gruß von meiner Frau, aber, die Socken hier, sagte sie, die waren ihr doch zu schmutzig, und so hat sie sie schnell noch einmal ordentlich durchgewaschen.“
Die junge Frau stand einen Augenblick da, wie versteinert, doch dann brüllte sie voller Wut:
„Sie kann mich mal, meine liebe Frau Schwiegermutter!“ und knallte sie erbost die Wohnungstür zu.
„Aber ich kann doch nichts dafür, Kind“, jammerte der Schwiegervater.

Kopfschüttelnd und mit gemischten Gefühlen begaben sich die Nachbarn zurück in ihre Wohnungen. Die Polizeibeamten jedoch steckten ihre Dienstwaffen weg und verzichteten darauf, den Sockendieb anzuzeigen; sie fanden, er sei schon genug gestraft…
 



 
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