Die Generalprobe

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Maribu

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Die Generalprobe

Als er sich vor vier Wochen bei der Agentur angemeldet hatte, konnte er nicht ahnen, dass damit eine schicksalhafte Entscheidung getroffen worden war.
Der Vermittler hatte gesagt: "Sie haben starke Konkurrenz. Über fünfzig Personen haben sich bereits angemeldet. - Aber keine Angst, ich ersehe aus Ihren Unterlagen, dass Sie letztes Jahr schon in vier Familien ein erfolgreicher Weihnachtsmann waren.
Sie bekommen deshalb einen vorderen Platz auf der Liste, so dass Sie auf jeden Fall eingesetzt werden." Gleichzeitig hatte er ihm ein Blatt in die Hand gedrückt und hinzugefügt: "Da sollten Sie auch mitmachen. Sie scheinen ja in guter Verfassung zu sein. - Ihr Einverständnis voraussetzend, notiere ich Sie auch für diese Aktion und leite die Anmeldung weiter."
Dankbar hatte er zugestimmt und erst beim Lesen gemerkt, worum es sich handelte.

'WELTREKORDVERSUCH UNTER DEM MOTTO "LAUF, SANTA, LAUF"

Die Boulevard-Zeitung startet diese Aktion zu Gunsten von
'BROT FÜR DIE WELT'
Die Startgebühr beträgt 18 Euro, davon gehen 10 Euro als Spende an die Organisation. Versammeln sich vor dem Start mehr als 13.000 Männer, Frauen und Kinder im Weihnachtsmannkostüm, winkt Hamburg der Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde. Am 13. Dezember um 12.30 Uhr fällt der Startschuss für den Lauf um die Binnenalster, um 11.20 Uhr beginnen die 100-Meter-Vorläufe für den Titel "SCHNELLSTER WEIHNACHTSMANN DER WELT"
Der zweit-und drittschnellste wird eine Reise nach Dänemark oder Schweden gewinnen. Der Sieger bekommt als Preis den Hauptgewinn, eine Kreuzfahrt mit der 'Queen Mary'.

Er besaß noch einen gut erhaltenen Trainingsanzug und Jogging-Schuhe. Aber seit ungefähr 15 Jahren hatte er sportlich nichts mehr unternommen. Da es für einen guten Zweck war und er bei dieser Gelegenheit seinen inneren Schweinehund überwinden konnte, wieder etwas für die Gesundheit zu tun, bedauerte er sein Einverständnis nicht.
Montags, Mittwochs und Freitags lief er nach Büroschluss um die Außenalster. Zusätzlich am Sonntag Vormittag im Alstertal.
Hier hatte er sich mithilfe seines Fahrradtachometers eine zehn Kilometer lange Strecke abgesteckt.
Er war vernünftig und vorsichtig genug, und hatte es langsam angehen lassen. Lief anfangs ungefähr einen Kilometer, ging dann 500 Meter, fing erneut zu laufen an und so weiter im Wechsel. Dieses Intervalltraining baute ihn sehr gut auf und bereits nach zwei Wochen war er in der Lage, die zehn Kilometer durchzulaufen. Seine Anfangszeit: 76 Minuten. Nach drei Wochen hatte er die Strecke zwischen 55 und 60 Minuten geschafft. Zwischendurch startete er auch für die 100 Meter, die für ihn den Vorrang hatten. Wenn er am Ziel war, hatte er alles gegeben und lobte sich selbstironisch: 'Schneller kann nur ein Windhund sein!'
Er hatte nicht nur sechs Kilo abgenommen, sondern auch das Gefühl, im Kopf frischer zu sein. Er konnte besser denken, sich besser konzentrieren. Er wirkte gelassener und selbstbewusster. Seinen Haarschnitt hatte er auch verändert. Seine langen Locken waren beim Friseur geblieben, und der modische Kurzschnitt war nicht nur pflegeleichter, sondern veranlasste unmittelbare Kolleginnen und Kollegen hinter seinem Rücken zum Lästern. "Der hat eine neue Freundin!"
"Man ist der dünn geworden!" - "Ja, ein guter Hahn wird selten fett!" Er konnte nur darüber lächeln und hat gedacht:
'Ihr solltet diese Strecke mal laufen!'

Frau Berner, eine Kollegin aus einer anderen Abteilung, war die Veränderung auch aufgefallen. Sie kam ein oder zweimal in der Woche zu ihm an die Kasse, um sich die Spesen für die Bewirtung von Geschäftsfreunden erstatten zu lassen.
Er fand sie sehr nett und sympathisch. Aber sie ging sofort nach Erhalt des Geldes aus seinem Zimmer, als stünde sie unter Zeitdruck. So hatte er sich nie getraut, ein Gespräch anzufangen.
Nachdem er sein dreiwöchiges Training eisern durchgehalten hatte, hatte sie eines Tages gesagt: "Sie sehen so verändert aus, Herr Dose. Ihre neue Frisur habe ich schon länger bemerkt. Aber Sie haben abgenommen, dass macht Sie jünger! Sie betreiben jetzt bestimmt viel Sport.", Und dann lachend: "Nach einer 'Männerdiät' kann man nicht so dynamisch aussehen!"
Er hatte gespürt, wie ihm die Röte ins Gesicht gestiegen war und ihr das zu erstattende Geld übereifrig vorgezählt.
Seitdem waren sie ins Gespräch gekommen. Von Kollegen hatte er erfahren, dass sie Alleinerziehend ist. Ihre Zwillinge, Mädchen, waren letztes Jahr eingeschult worden. Sicherlich wusste sie auch über ihn Bescheid: Ein Mann von 42 Jahren, Junggeselle oder Single, wie man jetzt sagt, der, wie alle anderen stolz behauptet, allein, aber nicht einsam zu sein. Er hätte sie gerne mal zum Essen eingeladen, aber ihm fehlte der Mut.

Am zweiten Adventssonntag fand seine Generalprobe statt. Er musste jetzt unter realen Bedingungen laufen. Die rote Kutte zog er über die Trainingsjacke, band sich den Bart um und setzte die Zipfelmütze auf.
Die ersten zwei, drei Kilometer waren kein Problem. Dann und wann kamen ihm lächelnd Spaziergänger entgegen. Einige riefen: "Hallo, Weihnachtsmann!" Oder: "Nicht so schnell, der 24. Dezember ist doch erst in siebzehn Tagen!"
Er winkte ihnen lächelnd zu. Noch war er ganz locker!
Was er in diesem Jahr wohl für Aufträge bekommen würde? Letztes Jahr hatte er zwei Ehepaare mit Kindern besucht. Der dritte Kunde, Großeltern mit einem zehnjährigen Enkel, der noch "an ihn" glaubte. Es hatte ihm Freude bereitet, die Kinder, wenn auch mit fremden Geschenken, zu beglücken und zu begeistern. Allein schon die unterschiedlichsten Reaktionen wahrzunehmen! Einige waren ängstlich und bekamen kein Wort heraus. Andere wollten gleich zwei Gedichte hintereinander aufsagen, wohl in dem Glauben, dass es dann mehr Geschenke gäbe. Ein Mädchen von vier Jahren wollte unbedingt auf seinem Schoß sitzen. Obwohl die Eltern das erlaubt hätten, hatte er das aber abgelehnt.
Der vierte Auftraggeber wohnte in Poppenbüttel, in der Nähe seiner Wohnung. Deshalb hatte er ihn als letzten besucht. Ein Mann im Rentenalter hatte ihm die Tür geöffnet und ein kleines Päckchen in seinen Sack geworfen. "Wo sind denn die Geschenke für die Enkelkinder?" hatte er ihn gefragt.
"Die sind zu weit weg", hatte er geantwortet. "Kommen Sie bitte mit ins Speisezimmer und überreichen Sie meiner Frau das Geschenk." Seine Frau hatte vor dem gedeckten Tisch gesessen und wäre vor Überraschung fast vom Stuhl gefallen.
"Ist das aber eine ausgefallene Idee von dir!", hatte sie freudestrahlend zu ihrem Mann gerufen. "Wie lange haben wir den Weihnachtsmann nicht mehr im Haus gehabt!"
Danach hatte sie ihn gefragt, ob er Karpfen möge und zum Essen eingeladen.
Im Laufe des Abends hatte er erfahren, dass seine Kinder mit den Enkeln in Australien lebten. Das in einer roten Tüte mit der Aufschrift 'Juwelier Christ' versteckte Schmuckkästchen hatte seine Frau scheinbar uninteressiert beiseite gelegt und während seiner Anwesenheit nicht geöffnet. Immer wieder hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Albert, war das aber eine schöne Überraschung mit dem Weihnachtsmann!"

Er lag gut in der Zeit, hatte ungefähr die Hälfte hinter sich. Aber die Mütze und der Bart waren lästig und störten ihn. Er hatte das Gefühl stärker zu schwitzen als an anderen Tagen ohne dieses Kostüm. Er musste an Frau Berner mit ihren Zwillingen denken. Er hätte auch bei ihr den Weihnachtsmann spielen können! Warum hatte er sie nicht danach gefragt?
Natürlich nur aus Spaß und ohne Gage. Außer den Geschenken für die Mädchen hätte er einen Gutschein für zwei Personen für sie aus dem Sack gezaubert: Ein 5-Gänge-Menü in den 'Fliegenden Bauten'! Bei der zweiten Person hatte er natürlich an sich gedacht in der Hoffnung, dass sie das auch so verstehen würde.
Er blickte erneut auf die Uhr. Wenn er die Strecke unter 70 Minuten liefe, würde er Frau Berner morgen gleich fragen; es war ja noch Zeit genug! Wer das schafft, trotz Zipfelmütze, Bart und Kutte, der bekommt keinen Korb!
Die Sprüche der Spaziergänger und anderen Jogger nahm er nicht mehr wahr, konzentrierte sich nur auf die Strecke.
Endorphine wurden jetzt unter dieser Anstrengung vermehrt freigesetzt. Sie wirkten wie Morphin und versetzten ihn in Euphorie. "Lauf, Santa lauf!", feuerte er sich selbst an.
Aber warum in mäßigen 70 Minuten? Frau Berner würde ihm bestimmt keine Abfuhr geben, sondern ihn bewundern, wenn er die zehn Kilometer als Weihnachtsmann unter einer Stunde
bewältigte. Und nicht nur das, er würde auch die Kondition bekommen, den Hundert-Meter-Lauf zu gewinnen und somit die Fahrt auf der 'Queen Mary'!
Er malte sich aus, mit ihr und den Zwillingen auf dem Sonnendeck zu liegen, ein Erfrischungsgetränk in der Hand, in den blauen Himmel und die Wellen zu blicken, auf der Kreuzfahrt in bisher unbekannte Länder.
Jetzt hatte er die Neun-Kilometer-Marke hinter sich. Wenn er unter 60 Minuten bleiben wollte, müsste der letzte Kilometer in drei Minuten gespurtet werden. Er bündelte alle Energie, zog das Tempo noch einmal kräftig an.
Plötzlich ein stechender Schmerz hinter dem Brustbein, der in den linken Arm ausstrahlte. Engegefühl in der Brust, akute Atemnot. Er riss Bart und Mütze herunter, ließ sie auf den Weg fallen.
Noch zweihundert Meter. Die Uhr zeigte 59 Minuten an.
Jetzt schlug die Euphorie in Todesangst um. Trotzdem dröhnte es in ihm: "Vorwärts! Vorwärts!" Noch dreißig Meter. Es war jetzt mehr ein Taumeln. "Du schaffst es, du schaffst ..."
Da war kein Reflex mehr, sich mit den Händen abzustützen.
Er fiel vornüber auf das Gesicht.

Ein Vater, der mit seinem Kind spazieren ging, hatte die Zipfelmütze und den Bart aufgehoben. Nach ein paar Metern erblickte er hinter einer Biegung zwei Jogger, und zwischen ihnen lag ein Mensch mit einer Weihnachtsmannjacke bekleidet. Der eine hüpfte auf der Stelle, um nicht kalt zu werden. Der andere hatte ein Handy in der Hand und sagte: "Ich habe eben 112 angerufen, die sind gleich hier. Gehen Sie bitte mit dem Kind weiter! Der Junge muss das nicht mitbekommen!"
"Das hatte ich sowieso vor!" antwortete der Mann und reichte
ihm Bart und Mütze. Er nahm sein Kind auf den Arm und entfernte sich langsam. Der Dreijährige blickte über die Schulter seines Vaters hinunter zu dem reglos auf dem Bauch liegenden Herrn Dose und sagte traurig: "Weihnachtsmann eingeschlafen."
 

valcanale

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Hallo Maribu,
den Idee mit dem Wettbewerb der Weihnachtsmänner find ich genial! (Und so passend als Metapher für unsere heutige Zeit!). Meinem Empfinden nach schade, dass es durch die vielen Nebengeschichten wieder etwas verwässert und dadurch auch im Tempo langatmiger wird. Ich könnte mir vorstellen, dass die Geschichte noch mehr Wirkung hätte, wenn du dich nur auf das Hauptthema konzentrieren würdest! Den Rest, wenn er dir sehr wichtig ist, eventuell nur kurz am Rande erwähnst, sonst nimmt er möglicherweise dem Plot die Spannung.
Liebe Grüße
Valcanale
 

Maribu

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Danke, valcanale für deine Meinung!
Normalerweise muss man seine Geschichte nicht erklären; entweder sie wird verstanden oder nicht.
Trotzdem möchte ich dir dazu sagen: Gerade, das was du als Randthema bezeichnest, ist mir wichtig: Die Reflexion auf das Vorjahr als Weihnachtsmann und die Erwartung der neuen Familien.
Außerdem ist der Single in seine Arbeitskollegin verliebt und verbindet als schüchterner Mensch seinen Lauferfolg mit Erfolg bei dieser Frau.
Ich wollte keine "Happy-End"! Es kann sich jeder Leser ausmalen wie er möchte: Tod durch Herzinfarkt oder Reanimation durch den Notarzt und ...

Liebe Grüße, frohe Weihnachten
und viel Schaffenskraft für 2015!
Maribu
 

valcanale

Mitglied
Hallo Maribu,

ich habe mir die Geschichte - jetzt mit dem neuen Hintergrundwissen - noch einmal durchgelesen.
Die Verknüpfung mit der beginnenden Liebesgeschichte und dem dadurch entstehenden Ehrgeiz des Weihnachtsmannes, die ihn antreibt zu gewinnen, ist sehr plausibel und da hast du recht, auch sehr wichtig! Wahrscheinlich war ich später durch die Beschreibung der Vorjahrserlebnisse abgelenkt, daher kam das für mich als Leser nicht so richtig raus, das meinte ich mit verwässert. Auch jetzt ist mir noch nicht ganz klar, was diese Ereignisse (ausser dass er gern wieder als Weihnachtsmann tätig ist) mit dem Geschwindigkeitswettbewerb zu tun haben. Vielleicht sind sie aber als Beschreibung des Protagonisten für dich wichtig.
Dir auch ein weiterhin erfolgreiches Schreiben im kommenden Jahr und herzliche Weihnachtsgrüße
Valcanale
 



 
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