Die Handtasche
Wenn man sich in einer Stadt bewegt, fällt auf, dass sich gerade an jenen Orten, wo etwas repariert, neu aufgebaut oder abgerissen wird, besonders viele Menschen aufhalten. Das mag daher rühren, dass die Bauzäune, Warnschilder oder die rot-weißen Bänder an ihren rostigen Stangen die Wege einengen und die Menschen daher öfter gezwungen sind, einander auszuweichen und mit vollen Einkaufstaschen einen Seitenschritt zu machen, wobei es gerade den umgekehrten Effekt ergibt wie bei einem Fluss, der an seiner engsten Stelle doch gerade die höchste Fließgeschwindigkeit aufweist. Aber es treffen an Baustellen Menschenströme unterschiedlicher Richtung aufeinander und noch dazu gibt es für Müßiggänger, zufällig Vorbeikommende oder anderweitig Interessierte etwas zu sehen und daher auch mit anderen Müßiggängern, zufällig Vorbeikommenden oder anderweitig Interessierten zu besprechen; sei es der Fortgang der Arbeit, den gerade die Müßiggänger als viel zu schleppend einschätzen.
Ich lebe in einer Stadt, die für eifrige Bauleiter ein Graus sein muss. Wo man den Erdboden aufreißt, taucht ein Römergrab, die anaerob erhaltenen Planken eines Römerschiffes, die Grundmauern eines antiken Theaters oder im günstigsten Fall ein Haufen Scherben und Knochen auf. Kaum hat sich ein Partikel dieser Hinterlassenschaften früherer Kulturen in den groben Zähnen eines Baggers verfangen, tritt eine Schar versierter Archäologen und Kunstgeschichtler auf den Plan und untermauert mit gewichtigen Argumenten die Notwendigkeit eines sofortigen Baustopps, um die Schätze der Vergangenheit für die Zukunft zu retten. Wo Planierraupen wüteten und Bagger lärmten, wirken fortan Handschäufelchen und sanfte Besen, wird mit Fingerspitzen das Erdreich durchkämmt und sorglich alles notiert, was nach langer Zeit das Licht der heutigen Welt erblickt.
Auf meinem Weg zur Arbeit, den ich durch die Innenstadt zu Fuß bewältigen kann, komme ich an einer solchen Baustelle vorbei. Vor wenigen Wochen noch war es eine gewöhnliche Baustelle – bis man auf Mauerwerk stieß. Dann brauchte es nur noch der Erklärung eines angesehenen Mitarbeiters des städtischen Museums, es könne sich um die Grundmauern einer frühmittelalterlichen Kirche handeln, um die Bagger verstummen zu lassen. Die Stadt wägte ab, ob der zügige Aufbau einer neuen Einkaufspassage oder der Fund kultureller Schätze vorzuziehen sei und entschied sich für das Letztere. Zu der nahezu beängstigenden Stille, die schon zuvor über der Grube eingekehrt war, gesellte sich nun eine gewisse Würde. Sie war nun was, diese Baustelle. Man sah es daran, dass sie fortan nächtens bewacht wurde. Außerdem wurde eine Schautafel aufgestellt, die über den Fortgang der Grabungen informierte. Und weil die Grube bald so tief war, dass man nicht hineinsehen konnte, erbaute die Stadt eine Aussichtsplattform, nicht unähnlich einem Jägersitz, nur größer und statt mit einer wackligen Holzleiter mit einer stabilen und wegen des großen Interesses von Bevölkerung und Touristen auch gehörig breiten Alutreppe versehen.
Es fanden sich immer Menschen auf dieser Plattform, ich habe auch schon einen Mann aus der Nachbarschaft in Pantoffeln heranschlurfen gesehen, der den Zustand der Baustelle – die eigentlich gar keine Baustelle mehr war – fürs private Fotoalbum festhielt.
Sie alle – Touristen, Nachbarn und jeder, der in jenen Tagen während seiner Einkäufe kurzen Halt machte – haben gesehen, was ich gesehen habe, viele haben es sogar fotografiert, und doch hat keiner Notiz davon genommen. Nie habe ich in jenen drei Wochen eine einzige Bemerkung in den Gesprächen gehört, dass die Handtasche jemandem aufgefallen sei.
Es war eine recht gewöhnliche Handtasche, grau, fast so grau wie der aufgewühlte Lehmboden, auf dem sie stand. Steif standen ihre Griffe in den Himmel ab, was darauf schließen ließ, dass sie noch wenig benutzt und nach ihrem Abstellen jedenfalls nicht mehr geöffnet worden war. Sie hatte oben und auf der einen Seite Reißverschlüsse, die beide geschlossen waren. Unten war sie mit kaum sichtbaren Lehmspritzern übersät, denn es hatte in der letzten Nacht heftig geregnet. Sie stand drei Schritte vom Grubenrand und etwa doppelt so weit von Bauzaun und Plattform entfernt. Sie sah aus wie der Prototyp einer Handtasche, man hätte sie in einem Bildlexikon unter dem Stichwort „Handtasche“ abbilden können. Sie war weder besonders hässlich noch besonders schön, sie war unten ein bisschen eckig und oben ein bisschen rund, die Träger waren nicht zu groß und nicht zu klein. Sie war normal, unauffällig, durchschnittlich. Keine junge Frau, aber auch keine alte Frau hätte sie getragen; - es war eine Handtasche wie geschaffen für jenen Typ Frau, den man nie wahrnimmt, der im Supermarkt in der Schlange vor einem steht und den man nachher nicht beschreiben kann.
So wie sie da stand, machte es mit einiger Phantasie den Eindruck, als habe jemand den Bauzaun missachtet, sei auf die Grube zugeschritten und habe vorher noch einmal kurz innegehalten und die Tasche abgestellt. Gleich als ich sie zum ersten Mal sah, hatte ich ein Gefühl, als stamme sie von jemand, der einen Selbstmord begehen wollte, vorher zur inneren Sammlung innehält und dabei gedankenverloren seine Handtasche abstellt als ein letzter kleiner Befreiungsakt vor dem Sprung in die Tiefe. Da die Grube so tief lag, dass man selbst von der Plattform ihren Grund nicht völlig einsehen konnte, lag diese Phantasie nahe, obwohl sie natürlich für ein solches Vorhaben bei weitem nicht geeignet war. Man hätte sich vielleicht ein Bein, aber nur durch einen höchst ungeschickten Sprung auch das Genick brechen können.
Am nächsten Morgen begann ich meinen Weg zur Arbeit einige Minuten früher, um noch Zeit zu haben für einen Abstecher auf die Plattform, wo ich zunächst nur vermerkte, dass die Handtasche noch auf ihrem Platz war.
Sie stand dort drei Tage. Drei Tage lang sah ich sie dort stehen und drei Tage lang sah ich in keinem Gesicht, dass jemandem diese Handtasche merkwürdig vorkam.
Manche streiften sie mit ihrem Blick, manche verweilten mit ihrem Blick auf ihr, aber wenn ich ein aufkeimendes Erstaunen in ihren Gesichtern zu erkennen meinte, eine leise Ahnung davon spürte, dass sie diesen Anblick in irgendeiner Weise für bemerkenswert halten könnten, veränderte sich ihr Blick doch in keiner Weise, kein auch nur leises Zucken der Augenbrauen kündete von Erstaunen, nicht der kleinste Gesichtsmuskeln erhielt den Impuls, sich zusammenzuziehen. Es war, wenn ich es jetzt mit einigem Abstand bedenke, neben dem bloßen Vorhandensein der Handtasche auf einem ihr vollkommen ungebührlichen Platz dieses Ausbleiben einer jeglichen Reaktion meiner Mitbeobachter, das mir die Handtasche in so besonderer Weise interessant werden ließ.
Am vierten Tag beobachtete ich einen Arbeiter, der sie ohne weiteres Hinsehen an ihren Griffen nahm und ein paar Meter weiter abstellte, als sei es ein gewöhnlicher Gegenstand, der im Weg war. Ich sah, wie derselbe Arbeiter kurz darauf eine Planke verlegte und er tat es mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie er zuvor die Handtasche verstellt hatte. Handtasche oder Holzplanke schienen die gleiche Bedeutung für ihn zu haben, als sei eine Handtasche ein ebenso nützlicher wie selbstverständlich auf einer Baustelle anzutreffender Gegenstand wie eine Holzplanke. Wenn er im Weg ist oder woanders von besserem Nutzen, nimmt man ihn eben und stellt ihn woanders hin.
Am 5. Tag, es hatte sich in dieser Zeit eine frühe Sommerschwüle gegenüber einem launischen Aprilwetter durchgesetzt, hatte sie ihren Standort ein zweites Mal gewechselt. Sie befand sich jetzt in gefährlicher Nähe zur Grube, ein Windstoß hätte sie kippen und fallen lassen können. Es sah wiederum so aus, als habe sie jemand vergessen oder gedankenverloren abgestellt, nur unter anderen Bedingungen: Als habe jemand neugierig am Rand der Grube gestanden und die Tasche abgestellt, um für sein großes Interesse beide Hände frei zu haben, vielleicht, um ein Fernglas zu halten oder sich Notizen zu machen.
Es ging kein Wind an jenem Tag und auch am nächsten nicht, an dem sie immer noch ihren Weitblick zu genießen schien und sich wie ein frecher Baustellenbesucher ausmachte, der sich ein Stück weit in verbotenes Gebiet vorgewagt hatte und nun triumphierend, neidische Blicke im Rücken spürend, die bessere Aussicht genießt.
Doch auch dort, wo sie noch mehr auffallen musste, nahm niemand Anstoß an ihr. Hin und wieder war ich in den letzten Tagen auf der Plattform mit anderen in ein kurzes Gespräch gekommen, aber es hatte sich auf Fragen beschränkt wie: „Wissen Sie eigentlich, was hier ausgegraben wird?“, worauf ich ungefähr das wiedergab, was auf der Schautafel zu lesen stand. Nur einmal schloss ich an ein solches Gespräch die Bemerkung an: „Das ist doch merkwürdig, diese Handtasche da, was die da wohl zu suchen hat?“ Mein Gegenüber sah tatsächlich zu der Stelle hin, er nahm die Handtasche wahr, aber sein Blick glitt sogleich wieder von ihr ab und seine Schultern hoben sich für einen kurzen Moment, als ob er verächtlich sagen wollte: „Welche Handtasche?“. Es muss ihm so belanglos vorgekommen sein, dass er mich eventuell sogar für verrückt hielt, dass ich es überhaupt erwähnt hatte, denn er vermied es daraufhin, mich noch einmal anzusehen oder das Wort an mich zu richten. Und ich sprach nie wieder jemanden auf die Handtasche an.
Am nächsten Tag war sie verschwunden. Ich konnte sie weder von der Plattform noch von einem der großen Löcher im Bauzaun ausmachen, sie war einfach weg und ich schloss innerlich bereits mit dem Kapitel „Merkwürdige Handtasche auf Baustelle“ ab, wenngleich ich mich noch immer morgens, mittags und abends auf der Plattform einfand.
Erst am 9. Tag entdeckte ich sie wieder. Sie stand, einer der Griffe war traurig nach unten geklappt, der andere lehnte sich schutzbedürftig an den Bauzaun, im entferntesten Winkel des Baubereichs, wie ein Arbeitsgerät, das man nicht mehr benötigte, abgenutzt, verbraucht, seiner Schuldigkeit entledigt, und sie stand dort – ich vermerkte es mit einer gewissen Traurigkeit – halb eingegraben in einen Haufen von Erdaushub.
Am 10. Tag stand sie morgens dort unverändert und ich ging mittags mit Arbeitskollegen zum Essen, was ich beibehielt. Am nächsten Tag ließ mich ein übermäßiges Bedürfnis nach Erholung und Schlaf die abendlichen Plattformbesuche einstellen und kurz darauf verschlief ich und hatte deshalb morgens keine Zeit, nach der Tasche zu sehen. Ich hätte natürlich am nächsten Tag – an dem ich nicht verschlief – auf die Plattform steigen können, genauso wie ich nicht jeden Abend so müde war, um nicht die fünf Alustufen zu erklettern, aber nachdem ich einmal meine Gewohnheit unterbrochen hatte, war ich ihr überdrüssig geworden.
Erst am 21. Tag, genau drei Wochen, nachdem ich die Handtasche zum ersten Mal gesehen hatte, winkte ich mittags den Kollegen ab, begnügte mich mit einer Bratwurst und stand wieder auf der Plattform. Neben mir surrte eine Videokamera und ihr japanischer Besitzer schwenkte über die Reste der Grundmauern einer römischen Wohnanlage, die man inzwischen freigelegt hatte und deren archäologischer Nutzen wohl weitaus geringer war, als man zunächst vermutet hatte. Die Archäologen sprachen zwar von wichtigen Erkenntnissen über das Alltagsleben und so weiter, aber nachdem sich herausgestellt hatte, dass hier keine Kirche zu finden war, sondern nur einfache Wohnhäuser, zu deren Bau man lediglich das Material einer geschleiften Kirche verwendet hatte, war die Enttäuschung groß. Auch auf Schmuck, Schwerter, Schilde oder Ähnliches hatte man vergebens gehofft.
Die Handtasche war nirgends zu sehen. Der Haufen, in den sie zuletzt fast einzusinken schien, war abgetragen worden und mit ihm wohl auch die Handtasche, die ganze Baustelle machte einen sauberen, aufgeräumten Eindruck, und wie in der Zeitung zu lesen war, sollten schon in ein paar Tagen die Bagger und Kräne wieder zu ihrem Recht kommen.
Wenn man sich in einer Stadt bewegt, fällt auf, dass sich gerade an jenen Orten, wo etwas repariert, neu aufgebaut oder abgerissen wird, besonders viele Menschen aufhalten. Das mag daher rühren, dass die Bauzäune, Warnschilder oder die rot-weißen Bänder an ihren rostigen Stangen die Wege einengen und die Menschen daher öfter gezwungen sind, einander auszuweichen und mit vollen Einkaufstaschen einen Seitenschritt zu machen, wobei es gerade den umgekehrten Effekt ergibt wie bei einem Fluss, der an seiner engsten Stelle doch gerade die höchste Fließgeschwindigkeit aufweist. Aber es treffen an Baustellen Menschenströme unterschiedlicher Richtung aufeinander und noch dazu gibt es für Müßiggänger, zufällig Vorbeikommende oder anderweitig Interessierte etwas zu sehen und daher auch mit anderen Müßiggängern, zufällig Vorbeikommenden oder anderweitig Interessierten zu besprechen; sei es der Fortgang der Arbeit, den gerade die Müßiggänger als viel zu schleppend einschätzen.
Ich lebe in einer Stadt, die für eifrige Bauleiter ein Graus sein muss. Wo man den Erdboden aufreißt, taucht ein Römergrab, die anaerob erhaltenen Planken eines Römerschiffes, die Grundmauern eines antiken Theaters oder im günstigsten Fall ein Haufen Scherben und Knochen auf. Kaum hat sich ein Partikel dieser Hinterlassenschaften früherer Kulturen in den groben Zähnen eines Baggers verfangen, tritt eine Schar versierter Archäologen und Kunstgeschichtler auf den Plan und untermauert mit gewichtigen Argumenten die Notwendigkeit eines sofortigen Baustopps, um die Schätze der Vergangenheit für die Zukunft zu retten. Wo Planierraupen wüteten und Bagger lärmten, wirken fortan Handschäufelchen und sanfte Besen, wird mit Fingerspitzen das Erdreich durchkämmt und sorglich alles notiert, was nach langer Zeit das Licht der heutigen Welt erblickt.
Auf meinem Weg zur Arbeit, den ich durch die Innenstadt zu Fuß bewältigen kann, komme ich an einer solchen Baustelle vorbei. Vor wenigen Wochen noch war es eine gewöhnliche Baustelle – bis man auf Mauerwerk stieß. Dann brauchte es nur noch der Erklärung eines angesehenen Mitarbeiters des städtischen Museums, es könne sich um die Grundmauern einer frühmittelalterlichen Kirche handeln, um die Bagger verstummen zu lassen. Die Stadt wägte ab, ob der zügige Aufbau einer neuen Einkaufspassage oder der Fund kultureller Schätze vorzuziehen sei und entschied sich für das Letztere. Zu der nahezu beängstigenden Stille, die schon zuvor über der Grube eingekehrt war, gesellte sich nun eine gewisse Würde. Sie war nun was, diese Baustelle. Man sah es daran, dass sie fortan nächtens bewacht wurde. Außerdem wurde eine Schautafel aufgestellt, die über den Fortgang der Grabungen informierte. Und weil die Grube bald so tief war, dass man nicht hineinsehen konnte, erbaute die Stadt eine Aussichtsplattform, nicht unähnlich einem Jägersitz, nur größer und statt mit einer wackligen Holzleiter mit einer stabilen und wegen des großen Interesses von Bevölkerung und Touristen auch gehörig breiten Alutreppe versehen.
Es fanden sich immer Menschen auf dieser Plattform, ich habe auch schon einen Mann aus der Nachbarschaft in Pantoffeln heranschlurfen gesehen, der den Zustand der Baustelle – die eigentlich gar keine Baustelle mehr war – fürs private Fotoalbum festhielt.
Sie alle – Touristen, Nachbarn und jeder, der in jenen Tagen während seiner Einkäufe kurzen Halt machte – haben gesehen, was ich gesehen habe, viele haben es sogar fotografiert, und doch hat keiner Notiz davon genommen. Nie habe ich in jenen drei Wochen eine einzige Bemerkung in den Gesprächen gehört, dass die Handtasche jemandem aufgefallen sei.
Es war eine recht gewöhnliche Handtasche, grau, fast so grau wie der aufgewühlte Lehmboden, auf dem sie stand. Steif standen ihre Griffe in den Himmel ab, was darauf schließen ließ, dass sie noch wenig benutzt und nach ihrem Abstellen jedenfalls nicht mehr geöffnet worden war. Sie hatte oben und auf der einen Seite Reißverschlüsse, die beide geschlossen waren. Unten war sie mit kaum sichtbaren Lehmspritzern übersät, denn es hatte in der letzten Nacht heftig geregnet. Sie stand drei Schritte vom Grubenrand und etwa doppelt so weit von Bauzaun und Plattform entfernt. Sie sah aus wie der Prototyp einer Handtasche, man hätte sie in einem Bildlexikon unter dem Stichwort „Handtasche“ abbilden können. Sie war weder besonders hässlich noch besonders schön, sie war unten ein bisschen eckig und oben ein bisschen rund, die Träger waren nicht zu groß und nicht zu klein. Sie war normal, unauffällig, durchschnittlich. Keine junge Frau, aber auch keine alte Frau hätte sie getragen; - es war eine Handtasche wie geschaffen für jenen Typ Frau, den man nie wahrnimmt, der im Supermarkt in der Schlange vor einem steht und den man nachher nicht beschreiben kann.
So wie sie da stand, machte es mit einiger Phantasie den Eindruck, als habe jemand den Bauzaun missachtet, sei auf die Grube zugeschritten und habe vorher noch einmal kurz innegehalten und die Tasche abgestellt. Gleich als ich sie zum ersten Mal sah, hatte ich ein Gefühl, als stamme sie von jemand, der einen Selbstmord begehen wollte, vorher zur inneren Sammlung innehält und dabei gedankenverloren seine Handtasche abstellt als ein letzter kleiner Befreiungsakt vor dem Sprung in die Tiefe. Da die Grube so tief lag, dass man selbst von der Plattform ihren Grund nicht völlig einsehen konnte, lag diese Phantasie nahe, obwohl sie natürlich für ein solches Vorhaben bei weitem nicht geeignet war. Man hätte sich vielleicht ein Bein, aber nur durch einen höchst ungeschickten Sprung auch das Genick brechen können.
Am nächsten Morgen begann ich meinen Weg zur Arbeit einige Minuten früher, um noch Zeit zu haben für einen Abstecher auf die Plattform, wo ich zunächst nur vermerkte, dass die Handtasche noch auf ihrem Platz war.
Sie stand dort drei Tage. Drei Tage lang sah ich sie dort stehen und drei Tage lang sah ich in keinem Gesicht, dass jemandem diese Handtasche merkwürdig vorkam.
Manche streiften sie mit ihrem Blick, manche verweilten mit ihrem Blick auf ihr, aber wenn ich ein aufkeimendes Erstaunen in ihren Gesichtern zu erkennen meinte, eine leise Ahnung davon spürte, dass sie diesen Anblick in irgendeiner Weise für bemerkenswert halten könnten, veränderte sich ihr Blick doch in keiner Weise, kein auch nur leises Zucken der Augenbrauen kündete von Erstaunen, nicht der kleinste Gesichtsmuskeln erhielt den Impuls, sich zusammenzuziehen. Es war, wenn ich es jetzt mit einigem Abstand bedenke, neben dem bloßen Vorhandensein der Handtasche auf einem ihr vollkommen ungebührlichen Platz dieses Ausbleiben einer jeglichen Reaktion meiner Mitbeobachter, das mir die Handtasche in so besonderer Weise interessant werden ließ.
Am vierten Tag beobachtete ich einen Arbeiter, der sie ohne weiteres Hinsehen an ihren Griffen nahm und ein paar Meter weiter abstellte, als sei es ein gewöhnlicher Gegenstand, der im Weg war. Ich sah, wie derselbe Arbeiter kurz darauf eine Planke verlegte und er tat es mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie er zuvor die Handtasche verstellt hatte. Handtasche oder Holzplanke schienen die gleiche Bedeutung für ihn zu haben, als sei eine Handtasche ein ebenso nützlicher wie selbstverständlich auf einer Baustelle anzutreffender Gegenstand wie eine Holzplanke. Wenn er im Weg ist oder woanders von besserem Nutzen, nimmt man ihn eben und stellt ihn woanders hin.
Am 5. Tag, es hatte sich in dieser Zeit eine frühe Sommerschwüle gegenüber einem launischen Aprilwetter durchgesetzt, hatte sie ihren Standort ein zweites Mal gewechselt. Sie befand sich jetzt in gefährlicher Nähe zur Grube, ein Windstoß hätte sie kippen und fallen lassen können. Es sah wiederum so aus, als habe sie jemand vergessen oder gedankenverloren abgestellt, nur unter anderen Bedingungen: Als habe jemand neugierig am Rand der Grube gestanden und die Tasche abgestellt, um für sein großes Interesse beide Hände frei zu haben, vielleicht, um ein Fernglas zu halten oder sich Notizen zu machen.
Es ging kein Wind an jenem Tag und auch am nächsten nicht, an dem sie immer noch ihren Weitblick zu genießen schien und sich wie ein frecher Baustellenbesucher ausmachte, der sich ein Stück weit in verbotenes Gebiet vorgewagt hatte und nun triumphierend, neidische Blicke im Rücken spürend, die bessere Aussicht genießt.
Doch auch dort, wo sie noch mehr auffallen musste, nahm niemand Anstoß an ihr. Hin und wieder war ich in den letzten Tagen auf der Plattform mit anderen in ein kurzes Gespräch gekommen, aber es hatte sich auf Fragen beschränkt wie: „Wissen Sie eigentlich, was hier ausgegraben wird?“, worauf ich ungefähr das wiedergab, was auf der Schautafel zu lesen stand. Nur einmal schloss ich an ein solches Gespräch die Bemerkung an: „Das ist doch merkwürdig, diese Handtasche da, was die da wohl zu suchen hat?“ Mein Gegenüber sah tatsächlich zu der Stelle hin, er nahm die Handtasche wahr, aber sein Blick glitt sogleich wieder von ihr ab und seine Schultern hoben sich für einen kurzen Moment, als ob er verächtlich sagen wollte: „Welche Handtasche?“. Es muss ihm so belanglos vorgekommen sein, dass er mich eventuell sogar für verrückt hielt, dass ich es überhaupt erwähnt hatte, denn er vermied es daraufhin, mich noch einmal anzusehen oder das Wort an mich zu richten. Und ich sprach nie wieder jemanden auf die Handtasche an.
Am nächsten Tag war sie verschwunden. Ich konnte sie weder von der Plattform noch von einem der großen Löcher im Bauzaun ausmachen, sie war einfach weg und ich schloss innerlich bereits mit dem Kapitel „Merkwürdige Handtasche auf Baustelle“ ab, wenngleich ich mich noch immer morgens, mittags und abends auf der Plattform einfand.
Erst am 9. Tag entdeckte ich sie wieder. Sie stand, einer der Griffe war traurig nach unten geklappt, der andere lehnte sich schutzbedürftig an den Bauzaun, im entferntesten Winkel des Baubereichs, wie ein Arbeitsgerät, das man nicht mehr benötigte, abgenutzt, verbraucht, seiner Schuldigkeit entledigt, und sie stand dort – ich vermerkte es mit einer gewissen Traurigkeit – halb eingegraben in einen Haufen von Erdaushub.
Am 10. Tag stand sie morgens dort unverändert und ich ging mittags mit Arbeitskollegen zum Essen, was ich beibehielt. Am nächsten Tag ließ mich ein übermäßiges Bedürfnis nach Erholung und Schlaf die abendlichen Plattformbesuche einstellen und kurz darauf verschlief ich und hatte deshalb morgens keine Zeit, nach der Tasche zu sehen. Ich hätte natürlich am nächsten Tag – an dem ich nicht verschlief – auf die Plattform steigen können, genauso wie ich nicht jeden Abend so müde war, um nicht die fünf Alustufen zu erklettern, aber nachdem ich einmal meine Gewohnheit unterbrochen hatte, war ich ihr überdrüssig geworden.
Erst am 21. Tag, genau drei Wochen, nachdem ich die Handtasche zum ersten Mal gesehen hatte, winkte ich mittags den Kollegen ab, begnügte mich mit einer Bratwurst und stand wieder auf der Plattform. Neben mir surrte eine Videokamera und ihr japanischer Besitzer schwenkte über die Reste der Grundmauern einer römischen Wohnanlage, die man inzwischen freigelegt hatte und deren archäologischer Nutzen wohl weitaus geringer war, als man zunächst vermutet hatte. Die Archäologen sprachen zwar von wichtigen Erkenntnissen über das Alltagsleben und so weiter, aber nachdem sich herausgestellt hatte, dass hier keine Kirche zu finden war, sondern nur einfache Wohnhäuser, zu deren Bau man lediglich das Material einer geschleiften Kirche verwendet hatte, war die Enttäuschung groß. Auch auf Schmuck, Schwerter, Schilde oder Ähnliches hatte man vergebens gehofft.
Die Handtasche war nirgends zu sehen. Der Haufen, in den sie zuletzt fast einzusinken schien, war abgetragen worden und mit ihm wohl auch die Handtasche, die ganze Baustelle machte einen sauberen, aufgeräumten Eindruck, und wie in der Zeitung zu lesen war, sollten schon in ein paar Tagen die Bagger und Kräne wieder zu ihrem Recht kommen.