Die Kette im See

hwg

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Die Kette im See

Was, so frage ich, gibt es Schöneres als das sattgrüne Seeufer, belagert von sich sonnenden, bräunenden, schwatzenden, lachenden Menschen, herumtobenden Kindern – und über allem die Sonne, die heiß auf das ganze herunterschaut.

Und so könnte dieser Tag zur vollen Zufriedenheit aller zu Ende gehen, wenn es nicht diese Kinder gäbe. Vier sind es, die sich da eben gegenseitig herumschubsen, lachend ins Wasser plantschen. Und wenn es da nicht diese Kette gäbe, die sie nun gemeinsam ein wenig höher heraufzuziehen versuchen.

Obwohl, an der Kette ist nichts Besonderes. Eine ganz gewöhnliche, ölige, schmierige Kette ist es, wie sie bald wo zu finden ist. Die vier Kinder aber wollen das Ding in seiner gesamten Länge betrachten. Und so nimmt das Verhängnis denn auch unabwendbar seinen Lauf.

Plötzlich erfüllt ein lautes Rauschen, Gurgeln, Schmatzen und Schlürfen die Luft. Und mit beängstigender Schnelligkeit sieht man die Wellen kürzer werden, die ersten Konservendosen, Bierflaschen, Glasscherben tauchen im Schlamm auf. Fische sieht man in die Luft springen. Und auch die Menschen, die sich gerade noch im Wasser getummelt haben, liegen oder stehen plötzlich im Trockenen. Und einige sehen sich bei Bewegungen ertappt, die das Wasser so gnädig verdeckt hat.

Dann – Totenstille. Der See ist ausgelaufen.

„Auweh, jetzt gibt’s was“, hören wir einen der vier Übeltäter sagen, um dann gleich mit langen Sätzen und schrillem Geschrei vor seiner Mutter davonzulaufen, die schnaufend und schimpfend ihren Sprössling zu fassen versucht. Auch die anderen drei machen sich aus dem Staub. Denn den Stöpsel herauszuziehen und den See auslaufen zu lassen, ist keine Tat, die ungestraft bleibt.

Doch decken wir den Schleier hereinbrechender Dunkelheit über das Geschehen. Überlassen wir die verwirrten Leute ihrem Schicksal und hoffen wir, dass sich eine mildtätige Seele finden wird, die über Nacht den See wieder zu dem macht, was er vorher gewesen ist…
 



 
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