Die Kettenfrage

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Ohrenschützer

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Faszinierende Großstadt im täglichen Wahnsinn: Mensch lärmt neben Mensch, eine ameisenhafte Masse wälzt sich umeinander den breiten Gang hindurch, und wie eine Kaulquappe im Schnorchel schwimme ich mit.

Aus der Menge, deren einzelne Komponenten so wenig ausmachbar sind wie deren Gesamtfarbe von ganz weit oben betrachtet, erscheint nun ein breiter, großer Körper, eindrucksvoll in seiner Figur. Ein zu kleines, braunes Hütchen auf dem Kopf entkräftet die Autorität, ein schmales, lugendes Auge fokussiert mich.

Seine Frage kommt unvermutet, direkt und in keinerlei offenbarem Zusammenhang zur Situation, und dementsprechend verwirrt ist mein Gesichtsausdruck: „Haben Sie Zeit?“. Der Großstadtbewohner kennt Fragen solcher Art von Bettlern, Keilern, Verkäufern von Abonnements der Gewissensentlastung – aber hier ist irgendetwas anders.

Die Antwort entschwindet später spurlos meinem Gedächtnis, jedoch gibt die Frage den Anstoss zu einer andauernden Gehirntätigkeit, jede Schlussfolgerung die nächste an Geschwindigkeit übertreffend. Nein, will ich zuerst sagen, um jede unpassende Annäherung dieser mir nicht allzu angenehmen Person zu vermeiden. Ja, ist mein nächster Gedanke, nachdem ich erkannt zu haben glaube, dass er am Rand stehen geblieben war und sich ungewöhnlicherweise einen Platz im Gedränge erbitten und nicht erkämpfen wollte, als wäre es eine Supermarktschlange.

Die Frage im eigentlichen Sinn kann wohl niemand beantworten. Ob man in seinem weiteren Lebensverlauf viel oder wenig Zeit zur Verfügung hätte, bleibt dem Philosophen verborgen. Aber vielleicht geht es dabei nicht um den Absolutwert der verbleibenden Zeit, sondern um die subjektive Einschätzung derselben und die geplante Unterteilung. Ist noch Raum vorhanden, Flexibilität? Habe ich Zeit zu verkaufen, Zeit zu verschenken?

So unvermittelt, wie er gekommen ist, entschwindet die zwiespältige Person vor mir im Getümmel, Sympathie erregend wegen des Denkanstosses, aber auch Irritation. Ich muss kurz am Rand stehen bleiben und darüber nachdenken. Was würde wohl ein anderer, willkürlich gewählter Passant auf die Frage antworten? Da sehe ich schon einen Kandidaten…
 



 
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