Die Knochenmaschine

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ENachtigall

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Die Knochenmaschine

Der Mann, der sich hässlich fand, setzte sich in seinem geräumigen Wohnzimmer auf den Drehstuhl, weitest möglich entfernt von seinem Gast: einer Frau, die ihm gefiel. Er hatte sie aufgefordert, auf dem überdimensionalen Rolf Benz Sofa Platz zu nehmen, das mit einem rosengemusterten Samtbezug auf silbernen Löwentatzen dem Raum das Flair einer Puppenstube für Riesen gab.

Es bereitete ihr einige Schwierigkeit, sich bequem darauf niederzulassen. Entweder rückte sie nach hinten an die Lehne und musste, wie eine Puppe die Beine gestreckt halten, wobei die Schuhe gerade noch keck über die Kante ragten. Sie auszuziehen und die Beine angewinkelt auf die Sitzfläche zu legen, erschien ihr zu vertraut, angesichts eines Erstbesuchs. Das Sitzen auf der vorderen Kante, fernab der Lehne, wirkte grotesk gehemmt. Daher zog sie vor, sich diese peinliche Pose von vornherein zu ersparen.

Noch vertieft in die Suche nach geeigneter Positionierung, konnte sie seinen Ausführungen über Mobiliar, Kunstgeschmack und musikalische Vorlieben nur mit halber Aufmerksamkeit folgen. Zudem quälte sie brennender Durst. Sie hatte in der Bestrebung pünktlich zu sein, vergessen zu trinken. Bisher hatte er ihr noch nichts angeboten. Etwa eine dreiviertel Stunde musste seit der Ankunft vergangen sein. Jetzt auf die Uhr zu schauen, würde gelangweilt wirkten, deshalb unterließ es. Schließlich entschied sie sich für eine schräge Sitzposition, bei der sie den Rücken an die Armlehne drückte und ein Bein angewinkelt auflegte, während sie sich mit dem anderen Fuß am Boden verankern konnte.

„Hast Du mal ein Glas Wasser?“

„Aber klar. Alles was Du willst. Vielleicht einen Dornfelder? Den trinke ich selbst gerade.“

Er hielt sein Glas ins Licht und taxierte die rot leuchtende Flüssigkeit, die er leicht hin- und herwiegend anpries.

„Nein, ich brauche was gegen Durst. Am liebsten Wasser oder alkoholfreies Bier.“

„So was Ausgefallenes hab ich nicht.“

„Wie, Du hast kein fließendes Wasser?“

„Ach so. Na ja, solches schon. Ja, ja, ich bin ein schlechter Gastgeber. Ich hätte Dir längst was anbieten sollen.“

„Ich kann mir auch was holen, wenn Du mir sagst, wo ich Gläser finde.“

Sie verdurstete fast vor Nervosität, wie damals, als sie bei den Scheidungsgesprächen vorsichtshalber eine 1,5 Literflasche Volvic im Rucksack mitschleppte, nachdem sie beim Anwalt einmal drei Gläser hintereinander erbitten musste, und anschließend noch im Waschbecken beim Klo aus der hohlen Hand trank.

Nun stand er endlich auf und verschwand in der Küche.

„Benjamin! Mach die Musik leiser!“

Die Art, wie er seinen 19jährigen Sohn ansprach, hatte etwas unbeholfen Autoritäres: eine überflüssige Aufforderung, weil ohnehin klar war, dass sie wirkungslos bliebe, und lediglich der Ansammlung väterlicher Wut und der Ausübung einer bitter vertrauten Gewohnheit diente.

„Benjamin! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du die Musik leiser machen sollst!“

Was ihr überhaupt an diesem Mann gefiel, war eine ihr unergründliche Ausstrahlung, seine aufrechte Haltung, von der sie noch nicht wusste, dass sie dem Bestreben entsprang, massive Rückenschmerzen zu kaschieren, sowie die Art, wie er ihr zugeneigt war; sie mochte es, gemocht zu werden. Letzteres ein bescheidener Ausgangspunkt für amouröse Kontaktaufnahmen, dem erstaunlich viele Menschen instinktiv folgen – nicht mehr oder minder geeignet, eine harmonische Verbindung hervorzubringen, als andere Varianten der Paarungsbereitschaft.

Inzwischen hatte sie die Bücherwand betrachtet. Er kehrte mit einem Glas Wasser zurück und stellte es auf den Tisch. Mit einem Zug war es leer.

„Ich hol mir noch was“, sagte sie, und war schon fast in der Küche angekommen, wo sie noch zwei, drei Gläser auf Ex hinunterstürzte.

Auf dem Rückweg durchmaß sie, mit aller Ernsthaftigkeit und Zähigkeit ihrer Ameisennatur, die ganze Entfernung zwischen seinem Regiesessel und der unseligen Couch, um dort wieder die erprobte Schrägsitzlage einzunehmen.

„Du siehst nicht gerade locker aus auf meiner Couch. Du hast Dich wohl noch nicht akklimatisiert. Entspann dich doch einfach.“

In diesem Moment prägte ein Eindruck ihre Gedanken: sie war sein Knochen, den er geschickt an einem Faden aufgehängt, mittels einer eigens konstruierten Maschine in absichtlich unerreichbarer Weite hin- und herbewegte, wie ein Hund, der Gefallen an pawlowschen Versuchen entwickelt hatte, und darum seine eigenen erfand.

Gespannt beobachtete sie im zunehmenden Dunkel des spärlich beleuchteten Raumes, wie er versuchte, ihr in verschlungenen Wegen seine zahlreichen Probleme aufzuzeigen. Dabei erkannte sie keine Dringlichkeit, die seine Schwierigkeiten in irgendeiner Art von denen anderer Zeitgenossen abgehoben hätte. Minderwertigkeitsgefühle, isolierte Kindheit, langweilige Ehe, jüngere Freundin, zeitweise Arbeitslosigkeit, Verlassenwerden von der Herzdame und ihren Hunden...naja.

„Aber was ist Dein Problem?“ fragte sie, um auf den Punkt zu kommen.

„Mein Gesicht.“

„Was ist mit deinem Gesicht?“

„Es ist hässlich. Ich würde es operieren lassen, wenn das nicht so teuer wäre.“

„Was genau würdest du verändern lassen?“

„Alles“, er blieb gewohnt ruhig bei seinen Ausführungen. „Aber zuerst die Nase. Ich lass mich auch nicht fotografieren. Es gibt außer einem Hochzeitsfoto und ein paar unvermeidlichen Passfotos keine Bilder von mir."

Sie verschluckte sich an ihrer Sprachlosigkeit. Fast schien es, als hätte sie seine Silhouette noch ein Stückchen weiter ins Dunkel des Raumes gehustet. Die Maschine stand still.

Beim Abschied im fahlen Flurlicht, suchte sie noch nach Spuren der Hässlichkeit in seinem Gesicht. Sie fand keine. Aber das war egal - jetzt, da sie seinen Augen nicht mehr traute.






(Die Übereinstimmung mit dem englischen Titel einer CD von Tom Waits ist zufällig passend.)
 



 
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