Die Kunst zu heilen oder Wie man sich seines Restverstandes bedient

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wondering

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Die Kunst zu heilen
oder
Wie man sich seines Restverstandes bedient

Der Arbeitstag hat sich mal wieder wie Kaugummi gezogen. Alltag vom Feinsten und Authentischsten. Zäh, lang und irgendwie tot. Pflichten, die zu erfüllen gewesen wären, lassen sich gewohnheitsmäßig locker verschieben. Es gibt immer einen Grund, zum Einerlei auch noch bequem zu sein. Wie soll ich vor mir selbst einen plötzlichen Aktionismus rechtfertigen? Dann hätte ich ja keinen Anlaß mehr, Trübsal zu blasen und mich zu bedauern.
Außer, es hätte sich zum normalen Alltag ein neuer Alltag gesellt.
Wie ist so etwas möglich? Ganz einfach:
Man verliebe sich und tauche nach ein paar Wochen in den Alltag dessen. Ein doppelter Alltag sozusagen. Einmal der, der schon da war und dann dieser schmerzliche, der neu hinzu gekommen ist.
Es ist aber nicht so, als hätte man das nicht vorher gewusst. Man ist ja nicht in dieses Hochgefühl eingestiegen, ohne ein paar Erfahrungen mitzubringen. Was ich meine, ist die Rückkehr aus dem körperlich-geistigen Ausnahmezustand des Verliebtseins, der vielleicht sechs Wochen andauert und lediglich dazu dient, die evolutionsbedingt hinterlegte Paarungsbereitschaft anzulegen. Streng biologisch, physiologisch gesehen: Endorphine, erweiterte Blutgefäße, infantiler Habitus und einige Superlative. Im besten Fall etabliert sich ein Gefühl, das bei den beiden Betroffenen konform geht und zu kultivieren gelungen ist. Eher aber wieder mal nicht.
Den Rest zum Liebes-Alltag bringt die Zeit, die Bequemlichkeit und ein verzogenes Ich.
Was genau liegt dann am Ende eines solchen, wie oben genannten Tages? Trübsal, klar, das ist nicht neu. Aber doppeltes Trübsal, das ist schlimm und benötigt nun einen klaren Kopf, den Verstand, die Heilung.

Anamnese:
Zwei Menschen begegneten sich. Zufällig - man war ja als abgeklärtes Wesen und überzeugter Single, nicht auf der Suche. Im Übrigen hat man diese Kennenlern-Studien längst satt. Trotzdem. Es begann zu knistern und ehe man sich versah, saß man auf Wolke Sieben, trug die rosarote Brille und stand unter permanenter, imaginären Beobachtung. Herrlich! Diesem Zustand hatte man seit Jahren überzeugt abgeschworen. Fühlte sich überlegen, erhaben und immun. Hatte Gelegenheiten willentlich ausgelassen, manche mitgenommen, war an der Selbstbestimmtheit gewachsen und empfindet diese Zeit, nach wie vor, als die besten Jahre seines bisherigen Lebens. Denn alles geschieht inzwischen bewusst.
Dennoch, bilderbuchmäßig, ist es DAS diesmal. Hat man DAS so noch nie erlebt. Und da man gerade bereit ist, DAS zuzulassen, wird es DAS wohl für immer sein. Der Alltag wird angehoben, belebt, versüßt und vergoldet durch all diese wünschenswerten Kleinigkeiten, die man nur sät und erntet in jenen drei bis sechs Wochen des Verliebtseins. Man ist in der Lage zu körperlichen Hochleistungen, nächtelang und nach einer Hand voll Schlaf, gleich wieder. Es werden wüste Träume geträumt, Berge und Existenzen versetzt und das alles leichten Fußes. Natürlich ist man fest davon überzeugt, dass dieser Zustand nicht enden wird, denn man hat die Erfahrung, die ausgereiften Wünsche und die Bereitschaft, diesmal alles zu tun, selbst Kompromisse einzugehen, damit es so bleibt. Da kann nichts schief gehen! Und so schwebt man durch den Alltag, dessen Sorgen aus dem anderen Alltag sich in Nichts auflösen. Für ca. sechs Wochen.
Danach haben wir dann das Doppel-Disaster. Alltag im Liebes-Alltag.

Symptome:
Die Kleinigkeiten, die vielen, winzigen Aufmerksamkeiten, die einem das Dauerlächeln und die „Was-ist-mit-dir-los-Aura“ in den Alltag gezaubert haben, bleiben aus. Der Morgengruß per SMS wird eingefordert, ehe er mittags kommt. Besetzt-Zeichen am Telefon werden hinterfragt und eine kurzzeitige Nichterreichbarkeit mit spitzem Verweis auf viele Male Umsonst-Wählens zumindest erwähnt. Bevor man jedoch selbst die Zeit hat, eben diese kleinen, verzaubernden und vielleicht bindenden Nettigkeiten spontan zu senden, legt sich dieser o.g. „erste“ Alltag, mehr oder weniger unbemerkt, darüber. Man hat ja schließlich auch noch ein anderes Leben, als dieses rosarote.
Man beginnt zu bewerten, dass die Liebesbeweise - natürlich einseitig - ausbleiben, und Fragen, Selbstzweifel und erste Griffe in die Trickkiste machen sich breit. Man ignoriert mit verschränkten Armen das Signal des Telefons. Man ist ja soooo müde, oder man hat "eine Verabredung" (?!?!).
Natürlich denkt man ständig an den Anderen. Aber nicht so, wie die vergangenen sechs Wochen, sondern irgendwie mit zusammengezogenen Augenbrauen: `Wieso höre ich nichts? Ich habe mich immer zuerst gemeldet, jetzt ist er mal dran.‘ `Ich brauche mal wieder Zeit für mich. Ich kann mir nicht ewig ihren Alltag anhören.‘ Und zack... befinden wir uns in dem Spiel: „Wieso-ich-zuerst?“
Gehen wir vom "worst-case" aus, es handelt sich um eine Fernbeziehung. Wo anfangs Kilometer ein Maß für das Glück waren, werden diese nun zur Bewährungsprobe. "Ach, sei nicht bös‘, es ist Monatsende, ich muss die Buchhaltung machen, du würdest dich langweilen." und " Liebling, du verstehst sicher, ich muss noch für xyz dies und das erledigen, ich hab’s versprochen. Und man hat Stau angesagt, da lohnt es kaum..." Ne, schon klar, man hat ja auch noch seine Dinge zu erledigen, no problem. Nur keine Wünsche nennen, keine Defizite beziffern. Das grenzt sofort an Selbstaufgabe.
`Wie sah er noch gleich aus? Ach ja, die netten Grinsfältchen hatten es mir angetan. Bei guter Musik und einem Glas Rotwein auf meinem Sofa komme ich beim Anblick seines Fotos direkt ins Schwärmen.‘
`Wenn ich jetzt nicht noch die Winterreifen drauf hätte, wäre ich ja gefahren, sie ist mir so süß und lecker in Erinnerung.‘
`Er hat wieder nicht angerufen, na warte‘,
`Ich rufe sie (vielleicht) später an, ich muss erst....‘
Status semper idem.
Der Verstand meldet sich: "Die Zeit legt sich darüber, geh‘ nach Hause, dahin wo du noch vor sechs Wochen nur einen Alltag hattest. Das hast du selbstbestimmtes Wesen nicht nötig. Im Zweifel lacht er mit seinen Kumpels über dich. Es lohnt sich nicht, er ist wie alle." Uff... "Okay, aber, lieber Verstand, du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mir noch einmal die CD anhöre, die er mir geschenkt hat." "Na, wenn du meinst, dass es hilft?!" "Ja, schon, es wird mir Wut machen, dafür sorgen, dass ich vorzeitig alles in Frage stelle und mich zum wirklich überzeugten Single wandele. Beim nächsten Mal bin ich dann echt immun!"
Und er: "Ich habe mir nicht meine Persönlichkeit und Integrität aufgebaut, damit so ein weibliches Wesen, außer mich becircen zu dürfen, auch noch meine Nischen besetzt und mich wohl möglich fremdbestimmt! Bin ich ein Mann oder ein weichgespülter Waschlappen?"

Diagnose:
Es handelt sich hierbei um das typische Phänomen einer Zusammenkunft des "Prinzen im Eisenofen" und der "Prinzessin auf der Erbse" im fortgeschrittenen Stadium. Nachzulesen nicht nur bei den Gebrüdern Grimm, sondern in neuester Übersetzung auch in "Psychologie heute", "Freundin" und "Men’s health". Anzutreffen meist im Alter jenseits des 30. Lebensjahrs und exemplarisch oft in mittleren Klein-bis Großstädten.

Therapie:
Man nehme als Maß der Liebe die Liebe ohne Maß und reiche sie unter mehrfachen Berühren mit Mut, Vertrauen, Ehrlichkeit und Respekt regelmäßig dar.

Bei selbst vorgegebenen Risiken und erwarteten Nebenwirkungen helfen Ihnen aber weder Arzt noch Apotheker.
 

Herr Müller

Mitglied
Hallo wondering

ich bin zwar ein Mann, aber ich habe Dich trotzdem verstanden ;)
Toll beschrieben, wie der anfänglich von Glück angehauchte, beschlagene Liebesspiegel so nach und nach von seiner Blindheit befreit wird. Ich sehe den anderen und mich wieder klar bis glasklar und muß erneut feststellen, dass das Leben wieder zu seinen alten vorgeformten Konturen zurückkehrt. Ich kann mich verstellen wie ich will, aber ich stehe irgendwann immer vor dem Spiegel, nackt.

Habe ich vorne vorne bis hinten in einem Atemzug gelesen. Gefällt mir sehr gut.

Herr Müller
 

Buffy

Mitglied
Eine Kunst so zu schreiben

Hi Wondering,
ich bin sehr beeindruckt von diesem Text.
Oder auch hin, weg, lieber zurück und nochmal lesen.
Gruß Buffy
 

wondering

Mitglied
@ Herr Müller: He he, sooo selbstanklangend? ;)
danke für's Lob.

@Buffy: dir auch ein dickes Danke. Am Besten schreibe ich da, wo ich mich "betroffen" fühle, dann schreibt das Herz mit ;)

Grüße
wondering
 



 
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